Nach Ansicht des ehemaligen CIA-Agenten Philip Giraldi sind wir seit einer Weile zurück im Zeitalter der Desinformation. Wie schon früher bringen die Sicherheitsagenturen der US-Regierung einschließlich der CIA Geschichten in Umlauf, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und eine bestimmte politische Antwort darauf zu provozieren. Dass Geheimdienste nicht immer ganz wasserdichte Informationen bieten, sondern auch auf Mutmaßungen basierende Häppchen im Umlauf bringen und so auf bestimmte Reaktionen abzielen, ist keine neue Praxis. Seit der Zuspitzung der Ukraine-Krise hat sie aber wieder Konjunktur.
Der Senior Fellow des Atlantic Council, Ben Judah, hat den früheren Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, Sir John Sawers, hinsichtlich der Situation in der Ukraine zur Krise mit Russland befragt. In dem Interview wollte Judah unter anderem erfahren, warum britische und amerikanische Geheimdienste während der Krise in der Ukraine so massiv intervenieren.
Judah beginnt das Interview mit der Frage, inwieweit Russland denn schon in früherer Zeit im Blick der westlichen Geheimdienste gewesen sei – wohl auch, weil der derzeitige Fokus auf das Land etwas plötzlich und recht gewaltig daherkommt.
Sawers erklärt dazu, dass Russland für den Westen schon seit 1917 ein Problem dargestellt habe. Nur kurzzeitig sei es aus dem Fokus gerückt, und zwar nach dem Ende des Kalten Krieges, als sich das Land in "ausreichendem" Chaos befand; zudem nach dem Jahr 2000, als mit den Anschlägen von 9/11 der Krieg gegen den Terror in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückte. Dabei hätten die Geheimdienste jedoch stets auch ein Auge auf Russland gehabt.
Auf die Frage Judahs, inwieweit britische und US-Nachrichtendienste in der Lage waren und sind, das Verhalten des russischen Präsidenten Putin vorauszusagen, erklärte Sawers, dass sich diese Fähigkeit im Laufe der Jahre verbessert habe. Zugleich macht er aber auf die Schwierigkeit aufmerksam, die genauen Absichten des russischen Präsidenten einzuschätzen.
Sawers selbst habe den russischen Präsidenten näher kennengelernt, als er an der Seite des damaligen britischen Premierministers Tony Blair tätig war und es zunächst gute Beziehungen gab. Nach dem britischen Einmarsch in den Irak im Jahr 2003 und den Entwicklungen in der Ukraine im Jahr 2004 verschlechterten sich die Beziehungen allerdings. Seiner Vermutung nach habe Putin wohl große Visionen, ohne diese jedoch strategisch zu verfolgen.
Gleichzeitig gestand Sawers ein, dass es in der derzeitigen Situation "natürlich sehr, sehr schwierig" sei, nachrichtendienstliche Informationen über die Absichten von Wladimir Putin zu erhalten oder darüber, was in seinem Kopf vorgeht, da dieser sich generell wenig mit den Menschen in seiner Umgebung darüber austausche – und während der Zeit von COVID noch weniger. Von Putins Denkansatz, seiner Vorgehensweise, seinem Modus Operandi und seiner Art, bestimmte Situationen zu nutzen habe man laut Sawers mittlerweile relativ gute Kenntnis. Allerdings erläuterte er nicht näher, worauf diese basiert.
Während die Wissensbasis der Russland-Ukraine-Situation wie auch bei anderen Konflikten der nachrichtendienstlichen Geheimhaltung unterliegt, schien es in diesem Fall jedoch einen besonderen Umgang zu geben. Immer wieder gelangten Informationen an die Öffentlichkeit. Laut Judah sei in der aktuellen Krise eine neuartige Verwendung von deklassierten Informationen aus allen möglichen Quellen zu beobachten. Er frage sich, warum dies so gemacht wird – ob es ein Versuch ist, einem möglichen russischen Narrativ zuvorzukommen, weil man aus den Erfahrungen im Jahr 2014 gelernt habe; oder ob nicht vielmehr ein Risiko bestehe, sich auf diese Weise unglaubwürdig zu machen, wenn am Ende doch nichts von dem eintrete, was vorhergesagt wurde.
Sawers unterstrich, dass Russland unter Putin jedoch erfolgreich gewesen sei, seine Version der jeweiligen Ereignisse nicht nur im eigenen Land, sondern vor allem international glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Dies führt der Ex-Beamte auf Russlands aktive Einwirkung auf die öffentliche Meinung zurück. Dass Sawers dies als "Propaganda" bezeichnet und an dieser Stelle unerwähnt lässt, dass sich die britischen Versionen des Öfteren mit fatalen und anhaltenden Folgen für Millionen Menschen weltweit als fehlerhaft, wenn nicht geradezu verlogen herausgestellt hat (wie auch interne Untersuchungen im Laufe der Jahre zeigten), mag daran liegen, dass er selbst zur Zeit der Irak-Invasion auf höchster Ebene, nämlich an der Seite des damaligen britischen Premiers Tony Blair, tätig war.
So zeigte im Jahr 2016 etwa der sogenannte Chilcot-Report, ein britischer Untersuchungsbericht im Nachgang des Irak-Einmarschs, unter anderem auf, dass Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen auf eine vorsätzliche Übertreibung der damaligen britischen Regierung zurückgehen. Diese lieferten einen Vorwand für den militärischen Einmarsch, der längst beschlossen war. Schon im Juli 2002 hatte der damalige britische Premier Blair dem damaligen US-Präsidenten Bush erklärt, dass die Beseitigung von Saddam Hussein "die Region befreien" würde, selbst wenn die Iraker "eine Invasion nicht unbedingt gutheißen" würden.
In der derzeitigen Ukraine-Krise jedenfalls sei laut Sawers insbesondere die US-Regierung erfolgreich darin gewesen, den Westen zu einer gemeinsamen Reaktion gegenüber Russland zu bringen und darüber hinaus Putin daran zu hindern, seine Version im medialen Raum durchzusetzen.
So entstammten zahlreiche Informationen und Schlagzeilen nicht nachrichtendienstlichen Quellen, erläutert Sawers – etwa die Meldung, dass Putin den ukrainischen Präsidenten Selenskij und seine Regierung vertreiben wolle, um deren Ämter mit einer Marionettenregierung zu ersetzen; oder aber, dass die russische Regierung einen Vorwand erfinden werde, um im Osten der Ukraine einzumarschieren.
Laut dem Ex-Geheimdienstler basierten solche Aussagen, welche die Menschen auf der gesamten Welt in Angst und Schrecken vor einem dritten Weltkrieg versetzen, vielmehr auf einer Art "allgemeinem Verständnis" der Motivationen Putins, nicht aber – wie die hochtrabenden Presseerklärungen und potenziell folgenreichen Berichte dem Leser nahelegen – auf ernsthaften geheimdienstlichen Kenntnissen.
Augenscheinlich erfreut schildert Sawers diese Vorgehensweise, die wie eine bewährte Rezeptur klingt: mutmaßliche "Kenntnisse" der Regierungen als geheimdienstliche Informationen zu "verpacken", und sie, "angereichert mit einigen pikanten Namen" dann zu veröffentlichen. Dies ergebe gute Schlagzeilen für die Medien und helfe, anderslautende Versionen oder "Narrative" zurückzudrängen. Dies sei ein "geschickter Einsatz von Informationen", um den Spieß gegen Putin und seine Fähigkeit, den Äther zu beherrschen, umzudrehen.
Bevor Sir Robert John Sawers Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 wurde – eine Position, die er von November 2009 bis November 2014 innehatte –, war er unter anderem politischer Direktor des britischen Außenministeriums, Sonderbeauftragter im Irak, Botschafter in Kairo und außenpolitischer Berater von Premierminister Tony Blair.
Als Leiter des MI6 unterstützte er den Chef des Verteidigungsstabs, General Sir David Richards, bei der Ausarbeitung von Plänen zur Ausbildung und Ausrüstung einer 100.000 Mann starken syrischen Rebellenarmee, die den Präsidenten Bashar al-Assad stürzen sollte. Die Pläne stellten eine alternative Strategie zu einer begrenzten direkten militärischen Beteiligung in Syrien dar.
Sawers ist Mitglied des Lenkungsausschusses der Bilderberg-Konferenzen und nahm seit 2014 auch selbst an den Konferenzen teil. Nach seiner Pensionierung als Geheimdienst-Chef wurde Sawers Partner und Vorsitzender von Macro Advisory Partners, bevor er Newbridge Advisory gründete. Bei Macro Advisory Partners ist auch Karin Suder tätig. Sie gelangte in Deutschland durch zahlreiche Beratersumpf- und Vetternwirtschaftsskandale im seinerzeit von Ursula von der Leyen geleiteten Verteidigungsministerium zu Prominenz.
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