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Mehr US-Truppen nach Europa? Welche denn? – Bidens leere Drohungen gen Russland

Joe Biden wollte sich der Welt als harter Mann gegen Wladimir Putin präsentieren. Dazu erfand er eine Ukraine-Krise, die dann per Videokonferenz "beigelegt" wurde. In Wahrheit braucht der US-Präsident einen Abbau der Spannungen in Europa, denn militärische Optionen hat er kaum.
Mehr US-Truppen nach Europa? Welche denn? – Bidens leere Drohungen gen RusslandQuelle: www.globallookpress.com © White House

Ein Kommentar von Scott Ritter

Die Nachrichten aus der Ukraine waren düster – Russland habe angeblich zwischen 95.000 und 125.000 Soldaten entlang seiner Grenze zur Ukraine mobilisiert, und die US-Geheimdienste sagten eine bevorstehende Invasion voraus. Die NATO geriet in Panik, und Wladimir Putin bestand darauf, dass die Ukraine niemals dem transatlantischen Bündnis beitreten darf.

Um die dicke Luft zwischen ihm und Putin etwas zu entspannen, stimmte Biden einer Videokonferenz mit dem russischen Präsidenten zu, bei der er ihm "in die Augen schaute" und vor schwerwiegenden Konsequenzen warnte. Darunter beispiellose Wirtschaftssanktionen und die Drohung, zusätzliche US-Streitkräfte nach Europa zu entsenden, sollte Russland die Ukraine überfallen. Während sich ein Großteil der öffentlichen Reaktionen auf die Videokonferenz auf die Sanktionsdrohungen konzentrierten, ist es die Drohung, Streitkräfte nach Europa zu entsenden, die den größten Einblick in die Denkweise der Biden-Regierung in Bezug auf Russland bietet.

In erster Linie ist die Drohung der USA, die Ostflanke der NATO zu verstärken, eine leere – und jeder weiß das. Die US-Armee ist bereits durch die Aufrechterhaltung der bestehenden Rotation einer einzigen schweren Panzerbrigade, etwa 5.000 Mann, in Europa bis an die Zerreißgrenze belastet. Bis 2022 wollen die USA den Bau einer vorgelagerten Vorratsanlage der Armee (APS) in Polen abschließen, in der die Ausrüstung einer ganzen Brigade gelagert werden soll (etwa 85 Kampfpanzer, 190 gepanzerte Kampffahrzeuge, 35 Artilleriegeschütze und vier gepanzerte selbst fahrende Brückenfahrzeuge, mit zusätzlich hunderten von Ausrüstungsgegenständen).

Damit verkürzt sich die Mobilisierung der eingesetzten Brigade aus den USA nach Polen von derzeit 45 bis 60 Tagen für die Verschiffung der Ausrüstung in einen europäischen Hafen, auf vier bis sieben Tage für das Einfliegen der Truppen und die Bereitstellung der Ausrüstung für den operativen Einsatz. Aber selbst mit 10.000 Soldaten, die von 170 Panzern, 380 gepanzerten Kampffahrzeugen und 70 Artilleriegeschützen unterstützt werden, wäre die US-Armee nicht in der Lage, es mit einem potenziellen russischen Gegner aufzunehmen.

In den 1980er Jahren erkannte das US-Militär die wahre Natur der sowjetischen militärischen Fähigkeiten. Wir Amerikaner haben ihre Doktrin studiert. Im Nationalen Trainings Center (NTC) in Fort Irwin, Kalifornien, stellte die US-Armee eine Oppositionstruppe (OPFOR) zusammen, die so organisiert und ausgerüstet war, dass sie zwei sowjetische motorisierte Schützenregimenter nachbildete.

"OPFOR-Soldaten", so ein Artikel aus dem Jahr 1986 über die Ausbildung im NTC, "werden gründlich in der sowjetischen Kampftaktik trainiert, um staatliche Kampfteilnehmer zu bekämpfen, als ob es ein echter Krieg wäre". Zudem hieß es in dem Artikel, dass die OPFOR-Soldaten "sowjetische Uniformen tragen und Nachbildungen russischer Panzerfahrzeuge verwenden, um ihre 'kills' zu machen. Jede Bewegung und Handlung der OPFOR, hält sich an die sowjetischen Prinzipien der Panzerkriegsführung."

Zwischen 1986 und 1990 hatten die Amerikaner durchschnittlich 311.000 Soldaten pro Jahr in Europa stationiert. Weitere 250.000 standen bereit, innerhalb von 10 Tagen nach Europa aufzubrechen. Der einzigartige Fokus all dieser Männer und Frauen lag darauf, die Sowjetarmee im Kampf zu besiegen. Wir hatten in unserer Moskauer Botschaft ein robustes Militärattaché-Büro eingerichtet, das offensiv Daten über die sowjetischen militärischen Fähigkeiten sammelte und darüber in Washington berichtete. Der sowjetischen Streitkräftegruppe in Ostdeutschland waren 14 US-Militäroffiziere zugewiesen, die der militärischen US-Verbindungsmission unterstellt waren, und deren einzige Aufgabe darin bestand, die sowjetische Militärpräsenz in Ostdeutschland zu beobachten. Der Verteidigungsnachrichtendienst veröffentlichte jeweils einen Jahresbericht – "Soviet Military Power" (Sowjetische militärische Fähigkeiten) – der für alle US-Militärangehörigen Pflichtlektüre war.

Die CIA unterhielt das "Office of Soviet Analysis" (SOVA), das Büro für sowjetische Analysen, wo die Besten und Klügsten arbeiteten und nachrichtendienstliche Einschätzungen der sowjetischen militärischen Fähigkeiten veröffentlichten. Sie wurden von der Direktion für Operationen in der sowjetischen/osteuropäischen Division unterstützt, die das Moskauer Büro der CIA beaufsichtigte, wohin die erlesensten Offiziere entsandt wurden, um dort ihrem Geschäft nachzugehen.

Kurz gesagt, wir Amerikaner kannten und verstanden die sowjetischen militärischen Fähigkeiten und die Bedrohung, die sie darstellten.

Wenn es um die Russische Föderation geht, fliegen die Vereinigten Staaten im Vergleich dazu heute blind. Im Nationalen Trainingscenter wurde die "sowjetische OPFOR" durch eine reduzierte Version ersetzt, deren Aufgabe es ist, Aufstände und Kampfhandlungen mit einem fast gleichrangigen Gegner zu mimen – das heißt nichts von dem, was das US-Militär in einem europäischen Bodenkrieg zu tun hätte, würde es zur Konfrontation mit russischen Truppen aufgeboten. Die russische Militärdoktrin dient nicht mehr als Grundlage unserer eigenen Gegendoktrin; Russland mag sehr gut trainiert sein, um US- und NATO-Streitkräfte zu bekämpfen, aber wir Amerikaner verankern unsere Philosophie nicht länger auf dem singulären Prinzip, die russische Bedrohung mit einer Zerstörung zu beenden.

In den letzten 20 Jahren wurde eine militärische Laufbahn durch den globalen Krieg gegen den Terror und vor allem durch die Führung von Konflikten geringer Intensität in Afghanistan und im Irak bestimmt. Jeder Aspekt des militärischen Establishments, von Rekrutierung, Ausbildung, Kleidung, Ausrüstung, Organisation, Einsatz und Kampf, wurde überarbeitet, um dieser neuen Kampfweise gerecht zu werden. Kombinierte Waffenkriegsführung – die Kriegskunst, die darauf abzielt, tödliche Synergien zwischen Infanterie, Panzer, Artillerie, Luftwaffe und Geheimdienste zu erzeugen – wurde nicht mehr praktiziert, und der Muskel namens Gedächtnis, das sich aus über drei Jahrzehnten Training aufgebaut hatte, verkümmerte.

Unsere amerikanischen Geheimdienste unterstützen das, was Priorität hat – und Russland hat seit dem Ende des Kalten Krieges keine Priorität mehr. Einst ein Reservoir an unübertroffenen Talenten, wurden die Abteilungen und Büros, die einst die sowjetische Militärmacht überwachten, alle aufgelöst und durch "eurasische" Analysten ersetzt, die Russland nur als einen Teil eines größeren Geheimdienstpuzzles behandeln. Die SOVA wurde aufgelöst, wodurch jahrzehntelanges institutionelles Wissen über Russland verloren ging.

Unser Militär ist nicht mehr ausgebildet, ausgerüstet oder dogmatisch darauf vorbereitet, einen russischen Feind zu bekämpfen. In einer nicht-nuklearen Konfrontation ist das Ergebnis allzu vorhersehbar. Das ist natürlich auch dem US-Militär bewusst und es arbeitet nach und nach daran, diese verlorene Fähigkeit wieder aufzubauen. Dies wird jedoch Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen, und nicht einfach über Nacht passieren.

Das weiß auch Joe Biden. Weshalb er sich im Nachgang seiner Videokonferenz mit Putin bemüht hat, zu betonen, dass sich die US-Verpflichtung zur Verteidigung ihrer NATO-Verbündeten nicht auf die Ukraine erstreckt. "Die Idee, dass die USA einseitig Gewalt anwenden werden, um Russlands Invasion in die Ukraine entgegenzutreten, liegt derzeit nicht auf dem Tisch", sagte Biden der Presse nach seinem Gespräch mit Putin. Dies wirft natürlich die Frage auf, was Biden zu erreichen hoffte, indem er überhaupt drohte, mehr amerikanische Truppen nach Polen und ins Baltikum zu entsenden. Vor allem, wenn die USA im Falle einer russischen Invasion der Ukraine keine militärische Konfrontation mit Russland vorsehen.

Die Antwort liegt in Bidens politischem Bedürfnis, die Wahrnehmung im In- und Ausland zu steuern. Die Erwartungen seiner demokratischen Verbündeten sind, dass er sich gegenüber Russland härter zeigt, als der ehemalige Präsident Trump. Diese öffentliche Äußerung hat ihn erheblich eingeengt, vor allem, wenn die politischen Optionen des gesunden Menschenverstands zugunsten von Getue auf die Seite gestellt werden müssen. Biden wurde im vergangenen April überrascht, als Russland 100.000 Soldaten entlang seiner Grenze zur Ukraine mobilisierte – und insbesondere, als seine Militärführung ihn darüber informierte, dass die USA wenig dagegen tun können.

Das Hauptproblem des nationalen Sicherheitsteams von Biden hinsichtlich der Notwendigkeit, Russland einzubinden, ist die Tatsache, dass jedes Engagement, das russische Bedenken berücksichtigt, als Zugeständnis angesehen wird. Es war nötig, dass Biden aus einer Position der Stärke gesehen wurde. Als Russland seine Militärmanöver im Herbst durchführte, übertrieben die USA daher absichtlich in ihren Berichten über das, was kaum mehr als interne Truppenbewegungen waren – und noch dazu eine Reaktion auf ähnliche NATO-Übungen in Polen und im Baltikum. Die ukrainischen Muskelspiele entlang der Donbass-Front machten daraus eine unmittelbare Bedrohung, mit der die aktuelle Krise ausgelöst wurde.

Bidens Drohung, zusätzliche US-Streitkräfte zu entsenden, macht nun auf einmal Sinn. Aber erstens – er wird das nicht tun. Zweitens bereitet sich Russland nicht auf eine Invasion in die Ukraine vor, und Biden weiß das. Die aktuelle Krise wird durch die anhaltende Weigerung der Ukraine vorangetrieben, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen, wenn es um die Anerkennung der Autonomie der Donbass-Region geht; und ihre anhaltende militärische Haltung als Mechanismus zur Gewinnung der NATO-Unterstützung für ihre Ambitionen, den Donbass und die Krim zurückzuerobern.

Russland hat darauf bestanden, dass die USA Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij ausüben, sich an das Minsker Abkommen zu halten; und dass die USA zusichern, dass die NATO ihre Osterweiterung stoppen wird. Jeder Schritt der USA ohne zusätzliches Prädikat würde sowohl vom amerikanischen Publikum als auch von den amerikanischen NATO-Verbündeten als Zeichen der Schwäche angesehen. Indem er jedoch eine nicht existente Bedrohung aufbaut (das heißt, eine russische Invasion der Ukraine) und dann droht, nicht existente Truppen nach Osteuropa zu entsenden, falls Russland einmarschiert, kann Biden nun Anerkennung dafür einheimsen, dass er im Angesicht der Russische Aggression Stärke gezeigt hat. Wenn Russland nicht einmarschiert (und das wird es auch nicht tun, es sei denn, es reagiert auf eine groß angelegte militärische Provokation seitens der Ukraine), kann Biden zudem Anerkennung dafür einheimsen, dass er Putin in Schach gehalten hat.

In diesem Zusammenhang steht die Ankündigung von Bidens Nationalem Sicherheitsberater, Jake Sullivan, dass die Regierung Biden offen für umfassende Gespräche mit Russland über die Zukunft der europäischen Sicherheit ist, verbunden mit der Ankündigung von Biden, dass die USA der Ukraine im Falle einer russischen Invasion nicht zu Hilfe kommen würden. Und auch eine ähnliche Ankündigung Bidens, nämlich dass die USA die ukrainische Mitgliedschaft in der NATO für mindestens 10 Jahre nicht unterstützen werden, kann als verantwortungsvolles Handeln aus einer Position der Stärke heraus gesponnen werden, anstatt als logische Reaktion auf Realpolitik.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzung aus dem Englischen.

Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor von "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram folgen.

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