NATO-Beitritt der Ukraine: Eine Giftpille für das Bündnis?
Eine Analyse von Tarik Cyril Amar
Ein Beitritt der Ukraine zur NATO wäre eine gefährliche Eskalation mit Russland. Aber es wäre auch eine Katastrophe sowohl für Kiew als auch für den Westen selbst. In einer kürzlich im französischen Fernsehen ausgestrahlten Dokumentation hat Dmitri Peskow als Sprecher von Präsident Wladimir Putin genau dies bestätigt. Sie müssen dieser Einschätzung natürlich nicht zustimmen oder können sie sogar ablehnen. Aber ebenso offensichtlich wäre es dumm, sie zu ignorieren.
Zugegeben, Regierungen bluffen manchmal. Es wäre jedoch ein leichtsinniges Glücksspiel, darauf zu zählen, dass Russland nicht das meint, was man dort sagt, wenn eine so klare Warnung ausgesandt wurde. Zumal man sich in Moskau nicht nur gegen eine Vollmitgliedschaft der Ukraine in der NATO, sondern auch gegen den aus Moskauer Sicht übertriebenen Ausbau westlicher militärischer Infrastruktur in der Ukraine ausspricht. Auch dies wurde als "rote Linie" deklariert.
Mit anderen Worten ausgedrückt: Russland wird nicht einmal eine Situation akzeptieren, in welcher zwar die Ukraine formell nicht der NATO angehört, aber dieser Militärblock sich dennoch faktisch in der Ukraine festsetzt. Abgesehen von einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO, wehrt sich Moskau auch gegen eine zu enge Kooperation zwischen Kiew und dem Westen. Zwar ist unklar, was genau ein "Zuviel" wäre, aber das ist auch irrelevant. Entscheidend bleibt die Tatsache, dass Moskau erklärt hat, es gäbe eine Grenze und das Einhalten solch einer Grenze sei von wesentlichem Interesse.
Man mag vielleicht noch immer meinen, all dies sei nicht sehr relevant oder zumindest nicht dringend. Immerhin waren die jüngsten Signale sowohl aus den USA als auch von der NATO für die Staatsführung der Ukraine entmutigend. Trotz des undiplomatischen Beharrens vom ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij auf einem klaren "Ja oder Nein" (natürlich in Erwartung eines klaren Ja) als Perspektive für den Weg der Ukraine in die NATO-Mitgliedschaft, bot US-Präsident Joe Biden nichts dergleichen an und forderte Selenskij im Wesentlichen auf, mal "runterzukommen". Und auch der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte nichts Besseres anzubieten.
Dennoch hat die Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft zu einem der wichtigsten politischen Ziele erhoben und ging sogar so weit, ihre Verfassung dahingehend zu ändern, um dieses Ziel weiter zu verfolgen. Dieses Problem wird also nicht einfach verschwinden, sondern kann eskalieren oder zu kostspieligen Missverständnissen führen, wie dies mit Georgien im Jahre 2008 der Fall war.
Klare Ansagen aus Moskau sind deshalb eigentlich eine gute Sache. Transparenz, auch wenn sie unbequem ist, ist besser als Mehrdeutigkeit. Das Problem bei dieser Art von Signalen aus Russland ist, dass sie bei einigen westlichen und ukrainischen Politikern und Beobachtern reflexartige Kurzschlussreaktionen provozieren können. Sobald Russland versucht, den Entscheidungen der Ukraine oder denen des Westens entgegenzuwirken, indem man dort vor schlimmen Konsequenzen warnt, wird immer darauf beharrt, Moskau habe kein Recht darauf. Dann ertönt die Litanei, die Ukraine sei ein souveräner Staat werde tun, was in ihrem eigenen Interesse liegt, und das sein nun einmal der NATO-Beitritt.
Das ist eine bewusst naive Argumentation. Es gibt, wenn überhaupt, nur sehr wenige Staaten, die in ihren Entscheidungen nicht durch ihren geografischen Standort, ihre Ressourcen und nicht zuletzt durch andere Staaten eingeschränkt sind. Souveränität ist sicherlich wichtig, aber ihre Realisierung ist nicht nur für die Ukraine kompliziert. Außerdem hat diese Denkweise einen weiteren Haken: Nämlich jenen, dass damit definiert wird, was die Ukraine tun solle – zwar in Abhängigkeit von dem, was Russland will, aber sozusagen das blanke Gegenteil. Wenn Moskau sagt: "Du darfst nicht", dann mach es jetzt erst recht!
Was dabei übersehen wird, ist die einfache Frage, wo eigentlich die Interessen der Ukraine in Bezug auf die NATO liegen. Natürlich sollte Russland bei dieser Frage eine Rolle spielen, aber als ein wichtiger Faktor, der berücksichtigt werden muss, und nicht als eine Art Kontrastfigur, vor der man sein unerschütterliches Engagement für die ukrainische Souveränität beweisen kann. In diesem Sinne müssen die Eliten der Ukraine und ihre westlichen Unterstützer ironischerweise mal für einen Moment beiseitelegen, was man in Moskau will und sagt, um sich stattdessen einer wirklich offenen Analyse zu widmen, was die Ukraine eigentlich braucht.
Ein solcher Ansatz kann zu mehr als nur einem Ergebnis führen. Aber zumindest gibt es im ureigenen Interesse der Ukraine auch solide Argumente dafür, gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu sein. Darüber hinaus braucht ein NATO-Beitritt ja nicht nur den Willen der Ukraine, , sondern vor allem auch den gemeinsamen Willen aller derzeitigen NATO-Mitglieder. Auch hier zeigt ein genauerer Blick, dass ein Beitritt der Ukraine weder im eigenen Interesse noch im Interesse der NATO insgesamt liegt.
Es gibt belastbare Belege dafür, was gewöhnliche Ukrainer über die Möglichkeit einer NATO-Mitgliedschaft denken. Laut zuverlässigen Umfragen im Juli 2019 waren damals 53 Prozent der Ukrainer dafür, 29 Prozent dagegen und 14 Prozent unentschlossen.
Im November 2020 waren 41 Prozent für eine NATO-Mitgliedschaft, 37 Prozent bevorzugten eine Neutralität und 13 Prozent hätten sich gewünscht, dass ihr Land der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) beitritt, also einem von Russland geführten internationales Sicherheitsbündnis. Im Juni dieses Jahres 2021 unterstützten 54 Prozent der Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft, während 31 Prozent dagegen und 15 Prozent unentschlossen waren.
Was uns diese Zahlen zeigen, ist, dass es eine ziemlich stabile, aber keine überwältigende Mehrheit für eine Mitgliedschaft gibt und dass es eine große und auch ziemlich stabile Minderheit dagegen gibt. Es überrascht nicht, dass solche Umfragen regelmäßig für eine Pro-NATO-Agitation verwendet werden, nach dem Motto: "Seht her, wenn es morgen ein nationales Referendum darüber gäbe, würde die Mehrheit der Ukrainer für den Beitritt zum Bündnis stimmen."
Dies ist jedoch aus drei Gründen eine voreingenommene Vereinfachung. Erstens haben viele ukrainische Politiker die schlechte Angewohnheit, ihren Wählern den falschen Eindruck zu vermitteln, dass ein solches Referendum das Problem irgendwie lösen oder zumindest erheblichen Einfluss darauf haben würde. Aber in Wirklichkeit ist die NATO im Wesentlichen ein Klub gegenseitiger Sicherheitsgarantien, in dem zur Aufnahme neuer Mitglieder die derzeitigen Mitglieder bereit sein können – oder auch nicht. Es liegt lediglich in der Macht der Ukraine, um Aufnahme in das Bündnis zu bitten, aber nicht in der Macht, die Aufnahme zu erzwingen. Es wäre gut – und zugleich auch ehrlich – wenn die ukrainischen Eliten – sowohl in der Politik als auch in den Medien – dies ihren Bürgern häufiger und ohne jegliche Demagogie erklären würden.
Zweitens sind Mehrheiten zwar wichtig, aber auch sie sind nicht unfehlbar (man sehe sich nur das britische Brexit-Debakel an) oder notwendigerweise ein guter Weg, um über stark polarisierende Fragen zu entscheiden. In solch einem Fall müsste sich ein verantwortungsbewusster ukrainischer Politiker fragen: Ist es wirklich eine gute Idee, eine beträchtliche Minderheit von einem Drittel bis zwei Fünftel der Bevölkerung zu zwingen, bei einem so polarisierenden Thema mitzumachen? Vor allem in einem Land, das noch unzählige andere ungelöste Probleme und bereits jüngste Erfahrungen mit Volksaufständen und Separatismus hat? Und ja, der Separatismus im Osten des Landes ist echt. Vielleicht hätte er ohne russische Unterstützung nicht überlebt, aber er ist keineswegs nur eine Kriegsfront wegen Russland.
Drittens wird das polarisierende Potenzial der ukrainischen NATO-Frage noch deutlicher, sobald man nicht nur fragt, wie viele Ukrainer rein wollen oder nicht, sondern in welchen Teilen des Landes sie eigentlich jeweils leben: Auch bezüglich der NATO-Mitgliedschaft zeigen robuste Umfragen, dass beispielsweise in den Regionen Lwiw und Iwano-Frankiwsk, also im äußersten Westen der Ukraine, Mehrheiten von etwa 80 Prozent für einen Beitritt zur NATO sind, während in der Region von Odessa im Süden und der Region Charkow im Osten, solide Mehrheiten von etwa 55 Prozent dagegen sind und nur ein Drittel dafür stimmt. Dies sind keine statistischen Ausreißer, sondern Zeichen eines klaren Musters, wie ein Blick auf die nützlichen Daten des jüngsten ukrainischen Projekts "Generation der Unabhängigkeit" zeigt.
Bei jüngeren Ukrainern ist die Sympathie für die NATO im Allgemeinen höher, das stimmt. Aber zumindest vorerst stößt eine Politik des NATO-Beitritts auch auf erheblichen Widerstand und birgt die Gefahr in sich, regionale Unterschiede als Potenzial einer weiteren Spaltung hervorzukehren. Und das alles, um ein Ziel – siehe oben – zu verfolgen, für das die Ukraine keine realistischen Aussichten hat, zumindest nicht in absehbarer Zeit.
Tatsächlich ist es eine Falle, den überlebenswichtigen Reformbedarf der Ukraine mit dem Ziel einer NATO-Mitgliedschaft zu koppeln – oder gar mit einer EU-Vollmitgliedschaft. Was ist, wenn diese Mitgliedschaften noch in weiter Ferne liegen oder gar niemals zustande kommen? Soll die Ukraine dann jegliche Reformen aufgeben? Es ist klar, dass die Ukraine besser dran wäre, wenn sie eine klare Unterscheidung im Auge behielte: Sie braucht Reformen, egal welche Mitgliedschaften sie erhält oder nicht. Insofern ist es besonders schade, dass die NATO in ihrer jetzigen, allzu ideologisierten Form diese fehlgeleitete Verkoppelung noch befördert, wie man mit einem kurzen Blick auf ihre Webseite unschwer erkennen kann. Dort erfahren wir, dass die NATO neben den offensichtlichen Bereichen Sicherheit und Verteidigung auch damit beschäftigt ist, einen "Reformprozess" im Allgemeinen zu fördern, einschließlich solch hehrer Ziele wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Marktwirtschaft. Was könnte da schiefgehen? Folgendes: Eine Belohnung wird die Ukraine für die Reformen vielleicht nie bekommen. Und was wird das mit dem Image der Reform machen – vor allem, wenn sie von sehr vielen Ukrainern sehr große Opfer verlangt?
Und was ist mit den derzeitigen Mitgliedern der NATO und dem gesamten Bündnis? Hier geht es im Wesentlichen um eine potenziell lähmende Überdehnung. Selenskij mag übertreiben, wenn er argumentiert, das Militär der Ukraine könne einen wichtigen Beitrag zur Gesamtsicherheit der NATO leisten. Wie dem auch sei, die Realität ist viel komplizierter. Denn die entscheidende Frage ist nicht, wie viel Personal, Kampfkraft, Moral usw. die Ukraine dem Bündnis beisteuern könnte. Die eigentliche Frage ist, ob das zwei ernsthafte Risiken aufwiegt – und zwar nicht für die Ukraine, sondern für die derzeitigen NATO-Mitglieder: Nämlich erstens den Konflikt mit Russland weiter zu eskalieren und zweitens die NATO von innen heraus zu zersetzen.
Warum das so ist, kann man im Hinblick auf Russland leicht erkennen. Selbst ein Stellvertreterkrieg mit Russland wäre verheerend, egal wer ihn gewinnt. Für die europäischen NATO-Mitglieder aber wäre er besonders katastrophal. Womit wir bei der ernsthaften Gefahr der bereits angesprochenen Überdehnung wären: Würden beispielsweise Deutschland und Frankreich wegen, für und Seite an Seite mit der Ukraine gegen Russland kämpfen wollen? Wenn die Ukraine ein NATO-Mitglied wäre, müssten sie es unabweislich im Falle eines expliziten russisch-ukrainischen Krieges tun, einfach aufgrund der Struktur des Bündnisses.
Zwar stimmt es, dass sogar der berühmte Artikel 5 der NATO, der verlangt, dass jedes Mitglied jedem anderen Mitglied zur Verteidigung herbeieilt, ignoriert werden könnte. Aber das ist nicht der Punkt. Falls er einmal ausgelotet, manipuliert und de facto missachtet würde, wäre der Artikel 5 diskreditiert und damit die NATO als Ganzes. Die Aufnahme der Ukraine könnte ein Schritt genau zu diesem Ergebnis werden. Diese Tatsache mag manch einem nicht gefallen und zu der Empörung verleiten, es wäre zynisch, darauf zu verweisen. Dennoch hat die Ukraine wahrhaftig das Potenzial, eine Giftpille für das Bündnis zu werden.
Wie steht es dann um die Sicherheit der Ukraine? Während in der Praxis wahrscheinlich kein Staat eine totale, unverfälschte Souveränität genießt, ist Sicherheit eine bodenständigere Sache. Und die Ukrainer haben genauso ein Recht darauf wie alle anderen. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Umfrageergebnis wichtig: Auf die Frage nach existentiellen Bedrohungen für die Ukraine nannten 74 Prozent der Befragten Russland und 72 Prozent eine "äußere Aggression" im Allgemeinen.
Russische Politiker mögen diese Fakten vielleicht nicht hören, oder sie glauben, dass ihre eigenen Taten und Worte nichts damit zu tun haben. Aber das wäre ein schwerer Fehler. Die entscheidende Tatsache ist, dass diese Wahrnehmung heute existiert. Es ist zwecklos, über die Schuldigen zu streiten. Daher ist es zwar nützlich, dass Russland seine roten Linien klar benennt, aber auch seine politischen und kulturellen Eliten sollten endlich einen Weg finden, das Misstrauen unter den Ukrainern zu verringern statt zu vergrößern. Das allein wird nicht die Lösung des Kernproblems sein, sowohl der Ukraine als auch Russland ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität zu geben, das beide Staaten für akzeptabel halten. Aber es ist eine Grundvoraussetzung für jede solche Lösung.
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Übersetzung aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Er twittert unter @tarikcyrilamar
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