Politologe zu Putin und Biden: "Nüchternes, nicht unbedingt von Respekt geprägtes Arbeitsverhältnis"
Die Beziehungen zwischen Russland und den USA befinden sich auf einem Tiefpunkt. Erst jüngst hatte die Killer-Äußerung Joe Bidens für atmosphärische Verstimmung gesorgt. Dabei gäbe es viel zu besprechen – Ukraine, Nawalny oder Nord Stream 2 lauten etwa die Schlagworte. Am Mittwoch ist es nun so weit, und das erste direkte Aufeinandertreffen zwischen den Präsidenten Waldimir Putin und Joe Biden soll in Genf stattfinden. Der Heidelberger Politikwissenschaftler und USA-Experte Dr. Martin Thunert äußert sich dazu im schriftlichen Interview mit RT DE.
Was denken Sie, wie werden sich die Beziehungen zwischen Russland und den USA unter Joe Biden entwickeln?
Das Beste, was wir hoffen können, ist eine nüchterne, distanzierte, aber vielleicht stabile Arbeitsbeziehung, die aber immer wieder durch alte und neue Konflikte beeinträchtigt wird. Einen "Reset" der Beziehungen, wie er 2009 vorgesehen war, wird es nicht geben. Präsident Putin diagnostizierte kürzlich in einem NBC-Interview, dass sich die bilateralen Beziehungen zwischen Russland und den USA auf einem Tiefpunkt befänden.
Auch die Beziehungen zwischen beiden Regierungschefs waren und bleiben frostig. Vor wenigen Monaten nannte Präsident Biden Präsident Putin einen Killer, vor wenigen Tagen brachte Präsident Putin seine Wertschätzung für den ehemaligen Präsidenten Trump, unabhängig davon, ob man dessen Art mag oder nicht, zum Ausdruck.
Er nannte Trump in dem NBC-Interview vor wenigen Tagen eine "außergewöhnliche und talentierte Persönlichkeit". Biden nannte er einen Berufspolitiker und ein Mitglied des Establishments. Doch Trump sah er als impulsgetrieben, Biden dagegen als berechenbarer, mit Vor- und Nachteilen, die dies für Russland mit sich bringt. Ein nüchternes, nicht unbedingt von Respekt geprägtes Arbeitsverhältnis wäre das Maximale, was zu erwarten ist.
Was werden die wichtigsten Themen sein, die auf dem Gipfel besprochen werden?
Das wichtigste Thema für beide Nationen – und vielleicht auch für die Welt – ist die Erneuerung des START-Rüstungskontrollvertrags. Dies geschah bereits vor einigen Monaten übers Telefon. Dafür hätte es keinen Gipfel gebraucht. Warum wollten die Amerikaner dennoch diesen Gipfel?
Ich glaube, die Amerikaner sind nicht in erster Linie hier, um mit Präsident Putin eine Themenliste abzuarbeiten, sondern um Russland, der Weltöffentlichkeit, den Amerikanern und vor allem Amerikas Verbündeten in Europa eine Botschaft zu überbringen, die lautet, dass die USA unter Biden russisches Verhalten, das von den USA als provokant, destruktiv und feindselig eingeschätzt wird, nicht unbeantwortet lassen werden, und dass ein solches Verhalten Konsequenzen haben wird.
Bei Joe Biden steht das Putin-Treffen am Ende einer Reise, die in erster Linie dazu diente, die europäischen Alliierten plus Japan und Kanada hinter der kommenden Systemauseinandersetzung mit der autoritären Weltmacht China zu versammeln, zum Teil auch mit dem als zunehmend als antiwestlich wahrgenommenen Russland unter Präsident Putin. Ziel des Treffens mit Präsident Putin ist es, herauszufinden, ob sich trotz ernster Differenzen und Konflikte eine Arbeitsbeziehung etablieren lässt.
Im Stillen wird es auf Seiten Bidens und der Amerikaner auch darum gehen, auszuloten, ob und inwieweit Russland sich in begrenzte Anti-China-Allianzen einbinden lässt. Allerdings steht diese Frage nicht auf der offiziellen Tagesordnung, sondern wird eher im Hintergrund abgeklärt, ein erster inoffizieller Stimmungstest sozusagen.
Bei welchen Themen sehen Sie Konfliktpotenzial, bei welchen eine Möglichkeit zur Annäherung?
Bei Themen wie Rüstungskontrolle, der COVID-19-Pandemie, den Auswirkungen des Klimawandels insbesondere auf die Arktis, der Nutzung von Russlands Einfluss gegenüber dem iranischen Atomprogramm und der Aufrechterhaltung der Ordnung in Afghanistan nach dem Abzug der NATO könnte es tatsächlich Interessenüberlappungen geben. Bei diesen Themen treffen in Genf zwei globale Führungspersönlichkeiten zusammen, das ist ein größerer Erfolg für Putin als für Biden.
Doch darüber hinaus wird die angestrebte stabile Arbeitsbeziehung bei Themen wie der Ukraine, neuerdings auch Weißrussland, beim Umgang mit politischen Oppositionellen in Russland und Weißrussland, beim US-Vorwurf an Russland, dass sich russische Regierungsstellen in US-Wahlkämpfe einmischen und Cyberattacken unterstützen, aber auch bei den NATO-Aktivitäten in Russlands Nähe immer wieder ausgebremst und zurückgeworfen werden, dass mir die diesbezüglichen Differenzen momentan unüberbrückbar erscheinen.
Doch da für die amerikanische Seite die strategische Konkurrenz mit China absoluten Vorrang vor allem anderen besitzt, ist sie an einer Eskalation dieser Konflikte mit Russland nicht interessiert.
Die aktuelle Lage zwischen Russland und der Ukraine sorgt für reichlich Konfliktpotenzial zwischen den beiden Großmächten. Welche Szenarien sind hier denkbar?
Nun, ich denke, es wird hier weiter hybride Kriegsführung einerseits und den Versuch nach einer Verhandlungslösung auf Grundlage des Minsker Abkommens geben. Allerdings sind die USA unter Biden bereit, das Spektrum offener und verdeckter Maßnahmen – gerade auch wirtschaftlicher und energiepolitischer Art – jenseits der Diplomatie dann zu erweitern, wenn sie der Ansicht sind, dass Russland Grenzen überschreitet.
Die mutmaßliche Vergiftung des Kreml-Kritikers Nawalny belastet das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Wie sollte sich der Westen, also auch die USA, gegenüber Russland verhalten?
Nach meiner Kenntnis wurden kürzlich drei Organisationen, die von Nawalny gegründet worden waren oder ihm zumindest nahestehen, als extremistisch verboten, also so behandelt, als würden sie Gewalt oder Terror anwenden. Da das Verfahren als geheim eingestuft war, kennt niemand die Gründe, auf welcher Faktengrundlage diese Urteile beruhen. Als ein Minimum werden westliche Medien und Regierungen hier deutlich mehr Transparenz verlangen.
Vergiftungen von Kreml-Kritikern, ehemaligen russischen Regierungsmitarbeitern, vor allem wenn sie im Ausland stattfinden usw., werden das russisch-amerikanische und das russisch-westliche Verhältnis schwer belasten, solange sie geschehen und die Schuldfrage ungeklärt ist. Westliche Regierungen werden diese Vorkommnisse niemals ignorieren können, daher wird es auf absehbare Zeit kein entspanntes Verhältnis zwischen Russland und den USA und dem überwiegenden Teil des Westens geben.
Tun die russischen Behörden genug, um den Fall Nawalny aufzuklären, und teilen sie genug Informationen mit westlichen Behörden?
Dies kann ich aus meiner Warte nur sehr schwer beurteilen. Ich glaube, dass auch hier die Sichtweisen weit auseinander liegen. Russland betrachtet dieses Thema als innere Angelegenheit und glaubt, ausreichend transparent zu agieren und zu kooperieren. Westliche Stellen und die USA sehen diese und ähnliche Angelegenheiten als ein Thema der internationalen Politik und halten sich deshalb nicht zurück. Ich persönlich wäre an Nawalnys Stelle nicht von Deutschland nach Russland zurückgekehrt.
Das Pipelineprojekt Nord Stream 2 steht kurz vor der Fertigstellung. Joe Biden hat angekündigt, dass es keine weiteren Sanktionen geben wird. Wie ordnen Sie diesen Schritt ein?
Bidens Anhänger in den USA sehen diesen Schritt, der Russland objektiv nützt, nicht als Entgegenkommen gegenüber Putins Russland, sondern als wohlwollende Handlung gegenüber der deutschen Regierung, die ja an der Pipeline trotz massiver US-Kritik festhält. Kritiker Bidens sehen dies als Bidensches Nachgeben und Verletzung der Interessen der USA und einiger zentral- und osteuropäischer Verbündeter. Obwohl Präsident Biden als auch beide Parteien im US-Kongress die Pipeline als gegen die Interessen der USA und der EU gerichtet ansehen, ermöglicht Biden durch seinen Verzicht auf weitere Sanktionen, die dann auch deutsche Firmen und Behörden treffen würden, de facto die baldige Fertigstellung von Nord Stream 2.
Ich bewerte dies so, dass es für Biden wichtiger ist, einem Konflikt mit Bundeskanzlerin Merkel und der deutschen Regierung aus dem Weg zu gehen, als die Pipeline jetzt zu verhindern. Die Enttäuschung über diese Haltung Bidens dürfte bei einigen Freunden und Verbündeten der USA wie der Ukraine, den baltischen Staaten und Polen sehr groß sein.
Biden-Anhänger glauben, dass er diesen Schritt tun musste, um ein sehr großes Hindernis bei der Einbindung Deutschlands in eine Anti-China-Allianz zu beseitigen. Biden glaubt wohl, dass ein Torpedieren von Nord Stream 2 in Deutschland die china- und russlandfreundlichen Kräfte gestärkt hätte. Da Biden die Anti-China-Strategie nicht allein, wie es Trump notfalls getan hätte, sondern mit wichtigen europäischen Alliierten wie Deutschland führen möchte, nimmt er nun die mögliche Fertigstellung der Pipeline in Kauf.
Wie ordnen Sie Verhaftungen von Oppositionspolitikern in Russland ein, da dies von den USA und ihren Partnern kritisch gesehen wird?
Ich bin ganz generell der Auffassung, dass sich Regierungen, ganz gleich wo und wer sie sind, mit Oppositionspolitikern, solange diese nicht zu terroristischen Maßnahmen und Gewalt greifen, politisch auseinandersetzen sollten und nicht durch Verhaftungen. Als der frühere französische Präsident Charles de Gaulle, autoritären Maßnahmen durchaus zugetan, während der Algerienkrise gefragt wurde, weshalb er den selbst französische Gesetze übertretenden linken Philosophen Jean-Paul Sartre nicht verhaften ließ, antwortete de Gaulle: "Voltaire verhaftet man nicht." Manchmal kann Aushalten und vielleicht Ignorieren von Opposition machtpolitisch sinnvoller sein als rigoroses Vorgehen gegen sie, wollte de Gaulle damit vielleicht sagen.
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