Darf ein weißer männlicher Schriftsteller das Gedicht einer schwarzen Dichterin übersetzen?
Der katalanische Schriftsteller Victor Obiols darf das Gedicht der US-Poetin Amanda Gormans nicht ins Katalanische übersetzen, weil er das falsche "Profil" habe und deswegen "nicht passend" sei. Das erfuhr er vom Verlag Univers mit Sitz in Barcelona, der Obiols mit der Übersetzung beauftragt hatte. Obiols sagte am Mittwoch gegenüber der Nachrichtenagentur AFP:
"Sie haben mir gesagt, dass ich nicht passend dafür sei, es zu übersetzen. Die haben nicht meine Fähigkeiten infrage gestellt, aber sie suchten nach einem anderen Profil, jemanden, der weiblich, jung, Aktivistin und bestenfalls schwarz ist."
Amanda Gorman wurde schlagartig berühmt durch die Rezitation ihres Gedichtes The Hill We Climb ("Der Hügel, den wir erklimmen") bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden am 20. Januar. Die zu dem Zeitpunkt 22-jährige Afroamerikanerin war die jüngste Dichterin, die bei der Amtseinführung eines US-Präsidenten ein Gedicht aufsagen durfte. Diese Tradition wurde 1961 von John F. Kennedy eingeführt.
Obiols ist ein erfahrener 60-jähriger Schriftsteller, der zahlreiche Werke von William Shakespeare und Oscar Wilde ins Katalanische übersetzt hat. Er wurde vor drei Wochen von dem Verlag Univers beauftragt, das Gedicht von Gorman mit einem Vorwort vom US-Fernsehstar Oprah Winfrey zu übersetzen. Nachdem er den Auftrag ausgeführt hatte, bekam der Verlag laut Obiols eine Nachricht, er sei "nicht die richtige Person". Obiols wurde nicht mitgeteilt, von wem die Nachricht gekommen sei – ob zum Beispiel vom Original-Verleger von Gormans Gedicht oder von Gormans Agenten. Auf eine Anfrage der AFP reagierte der Verlag laut der britischen Zeitung The Guardian nicht.
Die Absetzung Obiols als Übersetzer ist bereits der zweite Fall dieser Art. Ende Februar erklärte die niederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld, dass sie sich von der Übersetzung von Gormans Gedicht zurückziehen werde. Die 29-Jährige Rijneveld versteht sich selbst als nicht-binäre Person und wurde im August 2020 als Preisträgerin des International Booker Prize, einem renommierten britischen Literaturpreis, gekürt. Sie wurde im Februar vom niederländischen Verlagshaus Meulenhoff für die Übersetzung engagiert. Laut The Guardian hatte Gorman selbst sich für Rijneveld ausgesprochen.
Nach der Bekanntgabe von Meulenhoff folgte eine stürmische Diskussion in den sozialen Medien, losgetreten von der Journalistin und Aktivistin für die Rechte von schwarzen Menschen Jenice Deul. Sie bezeichnete die Entscheidung des Verlagshauses als "unbegreifliche Wahl" und als "eine verpasste Chance", da Rijneveld "weiß, nicht-binär und ohne Erfahrung in diesem Feld" sei.
Rijneveld äußerte in der Rücktrittserklärung via Twitter, dass sie "schockiert" sei "von dem Aufruhr" um das Engagement zur Übersetzung von Gormans Gedicht. Sie hätte sich "liebend gern" an die Übersetzung gemacht, verstehe aber, dass es Menschen gebe, "die sich verletzt fühlen von Meulenhoffs Entscheidung, mich zu fragen". Als Reaktion auf Rijnevelds Rückzieher, schrieb Deul über Twitter: "Danke für diese Entscheidung."
Marieke Lucas Rijneveld geeft vertaalopdracht terug. Dank voor deze beslissing @MLRijneveld@Meulenhoffpic.twitter.com/fpmnaeWQXI
— Janice Deul (@JaniceDeul) February 26, 2021
Beide Fälle werfen Fragen auf, nach welchen Kriterien Übersetzer ausgewählt werden sollen. Für den Katalanen Obiols steht fest, dies "ist eine sehr komplizierte Angelegenheit, die nicht mit Leichtsinn behandelt werden darf":
"Denn wenn ich keinen Dichter übersetzen kann, weil dieser weiblich, jung, schwarz und ein Amerikaner aus dem 21. Jahrhundert ist, kann ich genauso wenig Homer übersetzen, weil ich kein Grieche aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. bin. Und ich kann auch nicht Shakespeare übersetzen, weil ich kein Engländer aus dem 16. Jahrhundert bin."
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