Professor im RT-Interview: Verbundenheit Türkeistämmiger mit Deutschland nimmt ab
von Ali Özkök
RT Deutsch hat mit Hacı Halil Uslucan gesprochen. Er ist Professor für Moderne Türkeistudien und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Er ist auch Mitglied des Sachverständigenrates für Integration und Migration.
Zuletzt ist es um die deutsch-türkischen Beziehungen sehr ruhig geworden. Haben beide Nationen zurück zur Kooperation gefunden oder herrscht noch immer Misstrauen nach Jahren mehrerer diplomatischer Zerwürfnisse?
In der Tat kann man sagen, dass in den letzten drei bis vier Jahren insbesondere vor Wahlkampfzeiten das Thema Türken bzw. Türkei, aber auch Deutschland und Europa von beiden Seiten instrumentalisiert wurde. Wir hatten das bei der Bundestagswahl erlebt, und umgekehrt haben wir von türkischer Sicht immer wieder Instrumentalisierungs- und Einmischungsvorwürfe, die gegenüber Europa und Deutschland formuliert wurden. Beispielsweise ging es um verbotene Wahlkampfauftritte von türkischen Ministern.
Nichtsdestotrotz gibt es ganz starke gesellschaftliche, menschliche und institutionelle Verbindungen. In der Türkei sind über 5.000 deutsche Unternehmen tätig. Neben den starken wirtschaftlichen Verbindungen gibt es auch wissenschaftliche. Aber man muss einräumen, dass diese Beziehungen auch einige Risse erhielten.
In den letzten Jahren wurde die türkische Minderheit hier in Deutschland wiederholt zum Spielball gemacht. Wo liegt Ihrer Meinung nach die Loyalität der Deutschtürken?
Zu diesem Thema arbeiten wir seit mehr als 20 Jahren Studien aus. Die positive Botschaft ist, dass der deutlich größere Teil der Türkeistämmigen sowohl Deutschland als auch die Türkei als ihre Heimat betrachten. Aber kritisch muss man auch sehen, dass seit 2010 die Heimatverbundenheit mit Deutschland abnimmt und die mit der Türkei eher zunimmt.
Das nutzt natürlich der Türkei. Andererseits muss man auch sehen, dass die Integrationsdebatte seit 2010 sehr stark über Türken und Muslime läuft. Das heißt, die Türken werden als die kritische Gruppe betrachtet, bei der Integration nicht gut läuft. Sie machen Ausgrenzungserfahrungen. Umgekehrt bemüht sich die Türkei seit 2010 auch sehr stark um Auslandstürken. Sie hat eigens dafür ein Ministerium geschaffen. Damit liefert sie ein starkes Signal: Wenn sich eure Regierungen nicht um euch kümmern, wir kümmern uns um euch.
Ist es Ihrer Meinung nach möglich, dass Deutschtürken sowie Russlanddeutsche Doppelidentitäten in sich tragen können, die sowohl Loyalität zu Deutschland als auch zum Herkunftsland ausdrückt?
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Angesichts des globalen Wandels ist es natürlich, dass sie Bezüge zu ihren Herkunftsländern haben. Es ist ja auch kein Nullsummenspiel. Transnationale Bezüge zu haben, ist eigentlich der Normalfall. Wenn man bei den Türkeistämmigen bleibt, dann haben noch 76 Prozent Familie und Verwandte in der Türkei.
Ich glaube, hier muss die Politik gegenüber Russlanddeutschen und Türkeistämmigen Gelassenheit bewahren. Es heißt nicht, dass die Menschen ihre Loyalität zu Deutschland verlieren. Wenn man mehr zuließe, dann glaube ich, wäre auch das politische Engagement in Deutschland viel größer.
Der türkische Präsident Erdoğan unterstrich, dass man sich integrieren, aber nicht assimilieren solle. Wie schätzen Sie diese Sichtweise ein?
Die Forschungen zeigen, die Aufgabe der kulturellen Herkunft ist nicht gut. Unter Druck zu stehen, die eigene Herkunft aufgeben zu müssen, ist nicht gut. Erdoğan hätte den Zusatz machen sollen, dass er die kulturelle Assimilation meint. In anderen Bereichen ist Assimilation ja etwas Wünschenswertes, beispielsweise auf dem Arbeits- oder Bildungsmarkt, wenn es dort keine systematischen Unterschiede zwischen Einheimischen und Zuwanderern gibt. Die generelle Forderung "Assimiliert euch nicht" ist so allgemein nicht haltbar.
In Deutschland wählt die Mehrheit aller Türken, die noch einen türkischen Pass haben, die Partei des türkischen Präsidenten Erdoğan, obwohl dieser medial und politisch in Deutschland als Diktator kritisiert wird. Wie lässt sich das Wählverhalten objektiv erklären?
Das stimmt, diejenigen, die noch einen türkischen Pass haben, haben mehrheitlich für Erdoan gestimmt. Aber diese Art des Wahlverhaltens ist natürlich nicht nur bei Türkeistämmigen zu beobachten. Das haben wir bei fast allen Minderheiten so ähnlich, also bei Polen, aber auch Italienern. Diese wählen in der Regel staatstragende Parteien. Wenn wir jetzt auf Erdoğan zurückkommen, dann kommt dazu, dass die Mehrheit der Türkeistämmigen, die Erdoğan wählt, eher konservativ ist.
Die türkische Religionsinstitution DITIB, die die meisten Moscheen in Deutschland beaufsichtigt, sorgt durch ihre Verbindungen zum türkischen Staat für Kritik in Deutschland. Ist die Kritik berechtigt und gibt es überhaupt eine Alternative zu DITIB, wie sie Kritikern fordern?
In der Tat, DITIB ist die größte Gemeinde Deutschlands mit über 900 Moscheen. Ein Teil der DITIB hat eine große Nähe zu Erdoğan, aber es sind nicht alle. Vor kurzem ist jemand in Niedersachen zurückgetreten, weil er andere Vorstellungen hatte als Ankara. Wir haben in den Moscheen auch autonome Köpfe.
Bei der Islamkonferenz wurde diskutiert, die finanzielle Abhängigkeit aus der Türkei zu lösen. Das heißt, dass der deutsche Staat, beziehungsweise über Steuern der Muslime, die Finanzierung übernimmt. Dann wäre der Einfluss des Auslands nicht mehr so gegeben.
Einige Kritiker tun sich schwer mit dem Konzept eines deutschen beziehungsweise europäischen Islam. Wie bewerten Sie die Vorwürfe, dass der deutsche Staat auf diese Weise den traditionellen Islam untergraben möchte?
Ich glaube, die Kritik betrifft den Aspekt, dass sich der Islam als universell versteht und nicht als deutscher oder europäischer Islam. In seinem Selbstverständnis steht er nicht nur für die deutschen Muslime, sondern für alle.
Mit dem deutschen Islam meint man, dass die Lebenswelt der deutschen Muslime besser berücksichtigt werden soll. Natürlich steht der Islam in Deutschland vor anderen Herausforderungen als in Malaysia. Der Islam muss sich in der Türkei beispielsweise gegenüber Andersgläubigen nicht profilieren. In Deutschland muss er das aber. Natürlich hat der Islam einen universellen Charakter, aber vor Ort gelebt wird er immer etwas anders.
In Deutschland brach in der Vergangenheit die Debatte darüber aus, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Wie stehen Sie dazu?
Muslime gehören zu Deutschland. Es gibt rund zwei Millionen Muslime, die einen deutschen Pass haben. Was macht man mit denen, wenn der Islam nicht zu Deutschland gehören soll? Soll man die ausweisen? Was macht man mit Konvertiten, die Deutsche sind, aber Muslime wurden? Wenn man das genauer betrachtet, wird schnell deutlich, wie stumpfsinnig und wie kurz gedacht diese Debatte ist. Wir haben in Deutschland Religionsfreiheit, Pluralität und auch die Pluralität der Religionen.
Wie wirken sich Parolen wie die, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, auf das Verhalten der Muslime aus?
Was einen Teil der Muslime in der Tat irritiert hat, ist die Ausgrenzung. Wenn man ihnen sagt, du gehörst nicht dazu, zugleich aber fordert, integriere dich, dann ist das eine paradoxe Botschaft. Man kann ja nicht Teil einer Gruppe werden, die einen gar nicht haben will. Das heißt, die Botschaften an Muslime sind sehr widersprüchlich. Das schafft nur Irritation, Frustration und bei einigen, die eh der Meinung sind, dass Deutschland ein christlicher Klub ist, eine radikale, abwertende Haltung.
Vielen Dank für das Gespräch!
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