Außenministerin Baerbock: "Bei Fragen von Krieg und Frieden kann Deutschland nicht neutral sein"
Das Auswärtige Amt lud zu einer Veranstaltung unter dem Titel: "Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie". Auf einer Podiumsdiskussion diskutierten die FDP-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann und Christoph Heusgen – der ehemalige außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und von 2017 bis Juni 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen. Zum Auftakt hielt Außenministerin Annalena Baerbock eine Rede, die wiederum den Titel trug:
"Die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens"
Zu Beginn ihrer Rede betonte die Außenministerin, dass ihrer Meinung nach der russische Präsident Putin aufgrund der Ereignisse in der Ukraine aktuell "mit unserer Friedensordnung in Europa … und mit unserer Charta der Vereinten Nationen" bricht. Sie verwies auf ihre Wahrnehmung, dass die Menschen in Deutschland "einen brutalen Angriffskrieg zehn Autostunden von hier, mitten in Europa" erleben. Bezugnehmend auf den Titel ihrer Rede legte Baerbock dar:
"Und wir spüren so eine Sehnsucht, die wir wahrscheinlich lange nicht, die vielleicht meine Generation noch nie so richtig gespürt hat: eine Sehnsucht nach Sicherheit. Das ist eine zutiefst menschliche Sehnsucht – im Sinne vielleicht einer Versicherung für das, wofür wir alle gemeinsam einstehen: für die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens."
Drei "essenzielle Elemente", die sich nicht voneinander trennen ließen, seien für eine "Sicherheit der Freiheit" gegeben, dabei sei zu beachten:
"Dabei müssen wir Sicherheit nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft heraus denken. Wir wollen das – trotz aller Gräuel, die wir gerade erleben – selbstbewusst tun, aber auch selbstreflektiert und wenn nötig selbstkritisch."
"Im Lichte von Russlands massivem Bruch mit unserer Friedensordnung" müssten "leitende Prinzipien" in praktische Politik umgesetzt werden. Diese lauten für Baerbock:
- eine klare Haltung
- eine gestärkte Handlungsfähigkeit
- und geschärfte außen- und sicherheitspolitische Instrumente
Das "aggressives Vorgehen" Russlands führe daher aktuell "vor Augen":
"Bei Fragen von Krieg und Frieden, bei Fragen von Recht und Unrecht kann kein Land, auch nicht Deutschland, neutral sein. Viel ist in den letzten Wochen über die Geschichte unseres Landes und unsere deutsche Verantwortung geschrieben worden. Ich sage es hier ganz klar: Ja, aus unserer Geschichte, aus der deutschen Schuld für Krieg und Völkermord erwächst für uns, erwächst für mich in der Tat eine besondere Verantwortung: und zwar die Verpflichtung, jenen zur Seite zu stehen, deren Leben, deren Freiheit und deren Rechte bedroht sind."
Baerbock zitierte den südafrikanischen Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu: "Wenn du dich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhältst, hast du dich auf die Seite des Unterdrückers gestellt."
Die Politik müsse "immer wieder reflektieren und aufpassen", dass "die alten Fehler der Vergangenheit" sich nicht "erneut wiederholen", dass "es gute und schlechte Diktatoren gibt", so die Außenministerin weiter in ihrer Rede. Denn der "Angriff Russlands auf die Ukraine" stellt für sie "eine geopolitische Zäsur mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die europäische Sicherheit" dar.
In einem "Strategischen Kompass verankert" müsse daher "die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU komplementär zur NATO" ausgerichtet werden, um darüber den "europäischen Pfeiler des transatlantischen Bündnisses" zu stärken und auszubauen. Deshalb sei es von Dringlichkeit, dass sich "auch der Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie" gewidmet werde. Dabei gehe es nicht darum, "mehr Geld auszugeben, sondern effektiver zu sein". Baerbock wies darauf hin, dass im Sommer in Madrid "die Staats- und Regierungschefs ein neues strategisches Konzept" verabschieden werden:
"Wir müssen daher die Verstärkungen, die wir in den letzten Wochen vorgenommen haben, langfristig ausgestalten. Unsere militärischen Übungen müssen die neuen Realitäten abbilden. Und wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass das gesamte östliche Bündnisgebiet einer neuen Bedrohung unterliegt, wir also NATO-Präsenzen in den Ländern Südosteuropas aufstellen müssen. Deutschland wird hierzu in der Slowakei einen substanziellen Beitrag leisten."
Zum Thema nukleare Bewaffnung bzw. entsprechender militärischer Ausrüstungsbedarf stellte die Außenministerin klar:
"Die nukleare Abschreckung der NATO muss glaubhaft bleiben. Daher hat die Bundesregierung sich jetzt für die Beschaffung der F-35 entschieden. Dennoch gilt: Unser Ziel bleibt eine nuklearwaffenfreie Welt. Über dieses Ziel wollen wir mit unseren Partnern sprechen – im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrages. Aber auch als Beobachter mit den Mitgliedern des Atomwaffenverbotsvertrags."
Abrüstung und Rüstungskontrolle bleibe nichtsdestotrotz "zentraler Bestandteil unserer Sicherheit". Diese müssten zusammen "komplementär zu Abschreckung und Verteidigung" angedacht werden. Das "Sondervermögen für unsere Verteidigungsfähigkeit", um die "Streitkräfte schneller zu modernisieren und voll auszustatten", sei notwendig, um die "gemeinsame Bündnisfähigkeit" zu stärken. Bezugnehmend auf strategische Fragen der Vergangenheit und Gegenwart analysierte Baerbock:
"Wir sehen jetzt, das waren ja immer die strategischen Fragen der Vergangenheit: Verteidigen wir unsere Sicherheit fern von hier am Hindukusch oder anderen Orten? Oder verteidigen wir unsere Sicherheit direkt vor unserer Haustür? Wir erleben jetzt in einer vernetzten Welt: Es ist nicht entweder oder. Fern oder nah. Sondern wir verteidigen unsere Sicherheit sowohl hier vor unserer Haustür, zehn Autostunden von hier entfernt, genauso wie in der vernetzten Welt."
Militärischen Übungen bilden laut der Außenministerin "die neuen Realitäten" ab. Das "gesamte östliche Bündnisgebiet" unterliege aktuell "einer neuen Bedrohung", daher müssten "NATO-Präsenzen in den Ländern Südosteuropas" aufgestellt werden. Mit Blick "auf Belt and Road", die massiven Investitionen Chinas in Afrika und im indopazifischen Raum, werde die Bundesregierung "in den nächsten Monaten nicht nur eine neue Sicherheitsstrategie erarbeiten, sondern auch eine neue China-Strategie".
Im zweiten Teil der Rede wurde der Schwerpunkt auf das Thema "Energieversorgung als Sicherheitsfrage" gelegt. Die Klimakrise stelle die "sicherheitspolitischen Frage unserer Zeit". Deutschland müsse unabhängiger von Energielieferungen werden, dürfe aber zugleich "nicht in eine neue Abhängigkeit von anderen Ländern hineinschlittern", so die Ministerin. Baerbock führte in ihrer Rede aus:
"Klar ist: Weg von den fossilen Brennstoffen und schneller hin zu erneuerbaren und effizienten Energien. Das sind nicht nur Investitionen in saubere Energie, sondern das sind Investitionen in unsere Sicherheit und damit in unsere Freiheit."
Zum Ende ihres Vortrags betonte Baerbock: "Wenn wir uns im Kräftemessen des 21. Jahrhunderts global behaupten wollen, dann müssen wir alle unsere Instrumente auf die Höhe der Zeit bringen – militärisch, politisch, analog, digital, technologisch. Wir müssen ein umfassendes Verständnis von Sicherheit haben, ohne dabei total unscharf zu werden." Abschließend stellte die Außenministerin die strategisch-politischen Ziele der Bundesregierung für die kommenden Monate und Jahre dar:
"Wir werden dabei besonnen und pragmatisch vorgehen. Nicht mit Schwarz-Weiß-Kategorien, sondern mit Mut zur Abwägung und Mut zur Auseinandersetzung. Und mit klarem Wertekompass in der Hand: für die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens. Für unseren Frieden und die Zukunft unserer Kinder in einem gemeinsamen, demokratischen Europa."
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