Keine Gnade für Überläufer: Syrischer Staatsbeamter zu lebenslänglich verurteilt
Der heute 58-jährige Anwar R. war Beamter des staatlichen syrischen Geheimdienstes. Er hatte sich vom einfachen Ermittler zum Oberst und Vernehmungschef eines Gefängnisses hochgedient. Mitten in den Wirren der sogenannten "syrischen Revolution" kam ihm der Sinneswandel, erklärte er. Objektiv nachweisbar ist, dass er schon im Juni 2011 – knapp drei Monate nach Ausbruch der Unruhen in Land – abgesetzt wurde: Anwar sagt, er habe Häftlingen geholfen, die Vorgesetzten hätten ihm misstraut. Danach sei er nur noch formal Leiter einer Unterabteilung gewesen, hätte nichts mehr mit der Vernehmung von Gefangenen zu tun gehabt.
Ende 2012 floh der Geheimdienstler mit seiner Familie nach Jordanien, später stellte er einen Asylantrag in Deutschland. Inmitten des syrischen Bürgerkrieges brachte er sich nicht nur in Sicherheit, sondern schloss sich auch der Opposition an und wurde dafür gefeiert. Im Jahr 2014 wurde er Unterhändler der Opposition bei Gesprächen über die Zukunft Syriens in Genf.
Anwar R. geht aber noch weiter. Er will an der Aufklärung der "Verbrechen des Assad-Regimes" mitwirken. Also bot er sich im August 2017 dem Landeskriminalamt in Stuttgart als Zeuge an. Im Zuge der Zeugenbefragung beschrieb er freimütig seine Rolle im Geheimdienstapparat und äußerte unter anderem einen für ihn verhängnisvollen Satz:
"Bei so vielen Verhören an einem Tag kann man nicht immer höflich sein. Bei bewaffneten Gruppen muss man manchmal strenger sein."
Die Informationen aus der Zeugenvernehmung werden nach den Befragungen an das Bundeskriminalamt weitergeleitet, das Ermittlungen gegen den Ex-Oberst einleitet. Im Jahr 2019 wird Anwar R. schließlich verhaftet, im April 2020 beginnt der Prozess vor dem Oberlandesgericht in Koblenz.
Fast zwei Jahre und 108 Verhandlungstage später kam nun das Urteil. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert, die Staatsanwaltschaft sah Anwar R. hingegen als Verantwortlichen für Folter an mehr als 4.000 Häftlingen im Zeitraum von April 2011 bis September 2012, die in 27 Fällen zum Tod geführt haben soll. Das Gericht folgte der Argumentation der Staatsanwaltschaft und verurteilte den ehemaligen Oberst zu einer lebenslangen Haftstrafe.
Dem Verurteilten werden jedoch größtenteils gar nicht seine eigenen Handlungen angelastet. Für alles, was in dem besagten Zeitraum in seinem Dienstbereich passiert ist oder passiert sein soll, trage der Ex-Oberst persönliche Schuld und strafrechtliche Verantwortung, so Staatsanwaltschaft und Gericht. Allein aufgrund seiner Einbindung in die Befehlsstruktur und Hierarchie des Geheimdienstes.
Am deutschen Justizwesen...
Kann ein deutsches Gericht angesichts der jahrelangen Kriegspropaganda des Westens, die mehr als einmal als Lüge und Manipulation entlarvt wurde, tatsächlich unbefangen und qualifiziert über die Ereignisse in einem fremden und fernen Land befinden? Wie professionell ist es, Todesursachen anhand fotografischer Aufnahmen ohne Autopsie, ohne rechtsmedizinische Begutachtung feststellen zu wollen? Wie will man Zeugen vertrauen, die sich offensichtlich von Rachegelüsten gegen ein ihnen verhasstes Regime leiten lassen? Ist ein Strafverfahren fair, wenn Entlastungszeugen nicht vernommen werden können, weil sie ob der Gefahr, selbst verhaftet und angeklagt zu werden, nicht anreisen oder nicht aussagen? Wie kann ein Gericht überhaupt über Vorgänge in einem Land urteilen, von dessen Gesetzen, Sitten, Geschichte, politischem System man hierzulande eine nur oberflächliche und verzerrte Vorstellung hat?
Das Koblenzer OLG hat sich das alles zugetraut und im Rechtsstaat Deutschland kann die Urteilsfindung anhand der Faktenlage nicht überprüft werden. Gerade in den Fällen, in denen es um hohe Freiheitsstrafen geht, gibt es keine zweite Tatsacheninstanz. Kein effektives, leicht zugängliches und zuverlässiges Rechtsmittel steht einem in Deutschland Verurteilten zur Verfügung.
Wie kommt die deutsche Justiz überhaupt dazu, sich für Ereignisse in einem anderen Land zuständig zu sehen? Grundsätzlich ist ein nationales Gericht für die Aburteilung von Straftaten zuständig, die auf seinem Staatsgebiet entweder begangen werden oder deren Folgen unmittelbar (und nicht erst durch einen Umzug des Tatverdächtigen) hier eintreten. Außerdem ist jeder Staat für die Aburteilung von Straftaten, die von seinen Staatsangehörigen oder gegen seine Staatsangehörigen begangen werden, zuständig, unabhängig vom Ort, an dem sie begangen wurden.
Nichts davon trifft im Fall des Anwar R. zu: Da leitete ein syrischer Staatsangehöriger ein syrisches Gefängnis auf syrischem Territorium, in dem syrische Staatsangehörige verhört und möglicherweise gefoltert wurden.
Bemüht wird das "Weltrechtsprinzip": Danach ist nationales Strafrecht für bestimmte, besonders gravierende Straftaten auch auf Sachverhalte anwendbar, die keinen spezifischen Bezug zum Inland haben. Fälle also, bei denen weder der Tatort im Inland liegt noch der Täter oder das Opfer die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Staates besitzen. Das gilt für gravierende Straftaten, die Bestandteil des "Völkerstrafrechts" sind: Völkermord, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Anwars tatsächliche oder angebliche Taten sollen letzteres gewesen sein – Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter diesen Tatbestand fällt ein ganzer Katalog von Straftaten, von Freiheitsentzug und Menschenhandel, Vergewaltigung und Folter bis hin zur vorsätzlichen Tötung oder dem Entzug von Wasser und Lebensmitteln – immer unter der Voraussetzung, dass sie "im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen" werden.
Und hier liegt das Problem: Freiheitsentzug und in einigen Ländern sogar die Vollstreckung der Todesstrafe sind staatliches Handeln, überall auf der Welt. Wann dies "demokratische und rechtsstaatliche Praxis" und wann ein "ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung" ist, bleibt eine rein ideologische Frage. Für den einen ist die in den USA nach wie vor angewandte Todesstrafe, die Unzahl Inhaftierter in amerikanischen Gefängnissen oder die staatlich organisierte Foltermaschinerie in Guantanamo ein "ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung". Für den anderen ist es normale Strafverfolgung oder "Selbstverteidigung gegen Terrorismus".
Folter dort, Guantanamo hier
Sich bei der Beurteilung der Legitimität staatlichen Handelns von westlichen propagandistischen Narrativen leiten zu lassen, kann und darf nicht Grundlage von Rechtsprechung sein. Man frage die syrischen Christen, die Jesiden, die Drusen, die moderaten Moslems, die durch die dem Westen so am Herzen liegenden "syrischen Revolutionäre" malträtiert, ermordet, geschlachtet, geköpft wurden, ob sie ein hartes Vorgehen der säkularen Staatsmacht gegen ihre Peiniger wünschen. Man frage die Mehrheit der Syrer, die offenkundig Assad bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihre Stimme gab, was sie heute von den Unruhestiftern von 2011 hält, ob sie froh oder unglücklich darüber ist, dass der "arabische Frühling" scheiterte.
Auch Syrien hatte und hat das Recht, sich mit den Mitteln der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung gegen Umstürze, Terrorismus, oder ethnische und religiöse Hassprediger zu wehren. Wenn dabei etwas aus dem Ruder läuft, so ist dies kein "systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung", sondern eine rein interne Angelegenheit des syrischen Staates, die vor syrischen Gerichten und in der syrischen Geschichtsschreibung aufzuarbeiten ist.
In völkerrechtlich bedenklicher Weise werden syrische Staatsbürger zudem dem "Völkerstrafrecht", dem Römischen Statut des Internationalen Gerichtshofes unterstellt, obwohl Syrien dieses nie ratifiziert hat. Wie übrigens auch die USA, die ihre Unterschrift 2002 zurückgezogen haben.
Nicht nur darum haben die Folterknechte von Guantanamo oder Abu Ghraib in absehbarer Zukunft nichts zu befürchten, was alldem einen zusätzlichen Anstrich von Verlogenheit gibt. Einen US-Amerikaner nach dem Weltrechtsprinzip abzuurteilen, wird die deutsche Justiz so bald nicht wagen.
Jedem anderen, der in Syrien, Russland, der Ukraine, China, Iran und all den anderen "Schurkenstaaten" dieser Erde überlegt, seine Dienste dem europäischen und amerikanischen Imperialismus anzubieten, wird der Fall Anwar R. eine Lehre sein. Besser ist es, bis zum letzten Blutstropfen für sein Land, für seinen Staat und dessen Souveränität zu kämpfen, als sich der Hoffnung hinzugeben, sich durch Seitenwechsel und Landesverrat eine individuelle Zukunft in westlichem Wohlstand sichern zu können.
Im Westen liebt man den Verrat, nicht den Verräter.
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