Wahlanalyse: Scholz als "richtiger Mann zur richtigen Zeit" und selbstzerstörerische Linkspartei
von Tilo Gräser
RT DE: Wie ist das Wahlergebnis einzuschätzen? Den einen Sieger gibt es ja nicht, die SPD liegt nur knapp vor der CDU. Die Zeiten von Wahlergebnissen mit deutlich über 30 Prozent und mehr für die Gewinnerpartei scheinen vorbei.
Erhard Crome: Immerhin liegt die SPD vor der CDU, mit fast 800.000 Zweitstimmen. Solche Partei-Konstellationen, wie sie Deutschland jetzt hat, sind in anderen europäischen Ländern seit Jahrzehnten üblich. Insofern war Deutschland mit Helmut Kohl und Angela Merkel eine Ausnahme. Angesichts der sechs Fraktionen im Bundestag und der Verschiebungen insbesondere zugunsten der Grünen war das zu erwarten. Für absehbare Zeit scheint das mit den 30-Prozent-Parteien in der Tat vorbei zu sein. Aber man konnte an der SPD sehen, dass Wiederauferstehung auch in der Politik möglich ist.
RT DE: Erstmals bestimmt eine Partei den Kanzler, die nur auf ein Viertel der abgegebenen Stimmen kommt. Was bedeutet das für die Politikmöglichkeiten? Droht eine Phase der Instabilität, wie im Ausland vermutet wird?
Crome: Skandinavische Länder oder die Niederlande haben mit solchen Konstellationen seit Jahren handlungsfähige Regierungen. Entscheidend ist, dass die drei Parteien, die eine neue Bundesregierung bilden, einen tragfähigen Koalitionsvertrag mit klaren Zielen und Aufgaben vereinbaren, an den sie sich alle drei eine ganze Legislaturperiode halten und sich nicht in der Regierung gegenseitig auszutricksen versuchen.
Ansonsten will ich nur daran erinnern, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 durch den "Verrat" der FDP an ihren Wahlzusagen von 1980 gestürzt wurde; da hatten SPD und CDU/CSU beide über 40 Prozent.
RT DE: Welche Veränderungen in der Politik erwarten Sie, in der Innenpolitik und in der Außenpolitik? Oder bleibt alles anders? Oder wird alles besser, aber nichts wird gut?
Crome: Wenn es zur "Ampel" kommt – Rot-Gelb-Grün –, wird es sichtbare Veränderungen in der Klima-, Industrie- und Sozialpolitik geben, zugunsten der niederen Einkommensschichten, die während der COVID-19-Pandemie das Land am Laufen hielten, als die "Reichen und Schönen" in ihren Villen hockten wie einst zu Pestzeiten und erwarteten, dass der Kelch an ihnen vorbeigeht. Die FDP wird zwar ihre Klientel bedienen wollen, aber da sie unbedingt mitregieren muss, wird sie "Kröten schlucken".
Inzwischen wurde mitgeteilt, dass sich vorab die Grünen und die FDP einigen wollen, mit wem sie regieren. Das wäre völlig neu, könnte aber funktionieren. Entscheidend ist jetzt, ob sich Habeck mit einer Ampel-Variante durchsetzt oder einknickt vor Lindner, der eher zur CDU zu tendieren scheint.
Mit grundlegenden Veränderungen in der Außenpolitik rechne ich nicht. Wenn es einen Grünen-Außenminister gibt, wird sich die antirussische und antichinesische Rhetorik weiter verschärfen. Aber da hat sich ja Maas schon sichtbar von Steinmeier, Gabriel und Westerwelle unterschieden.
RT DE: Olaf Scholz gilt als der Mann des Finanzkapitals, um es mal zugespitzt zu formulieren. Ist er der "richtige Mann zur richtigen Zeit"?
Crome: Scholz ist kein "Mann des Finanzkapitals". Er war immer sozialdemokratischer Parteimann, in einem Sinne wie Helmut Schmidt. Das ist innerhalb der SPD der "rechte" Flügel, aber hanseatisch, kühl und solide. Er hat wesentlich zur Vereinbarung über die weltweite Besteuerung der Großkonzerne beigetragen, die er am Ende mit Frau Yellen (USA) verabredet hatte.
Seine juristisch betrachtet fragwürdige Haltung in Sachen Verjährung der Besteuerung der Warburg-Bank war realwirtschaftlich gesehen – sofern man Absicht unterstellt – eine Aktion des Ersten Bürgermeisters zur Erhaltung und Stärkung der weltwirtschaftlichen, auch finanziellen Rolle der Hansestadt Hamburg.
Die Wählerschaft hat sich in einer relativen Zahl für Scholz als den "richtigen Mann zur richtigen Zeit" entschieden. Zumindest ist der Faschingsprinz aus Aachen der falsche Mann.
RT DE: Nach der Wahl ist immer wieder zu hören, die Mitte habe gewonnen und die politischen Ränder seien geschwächt worden. Der kanadische Politikwissenschaftler Alain Deneault sieht dagegen Deutschland als Musterbeispiel für die "Herrschaft der extremen Mitte". Wie sehen Sie das?
Crome: Dieses Mitte-Verständnis meint die Perpetuierung der überkommenen Wirtschafts- und Lebensweise. Man redet veganer Essweise das Wort, weniger Flugreisen usw., aber in der modernen Industrie – von der Stahl- bis zur Bauindustrie – bleibt alles wie gehabt. Scholz hat im Wahlkampf darauf verwiesen, dass auch die Stahl- und Chemieindustrie auf Elektrostrom umgestellt werden kann/müsste. Dazu braucht man aber viel mehr Elektroenergie, als bisher diskutiert wurde. Das soll unter sozialdemokratischer Regierung erfolgen.
In einem politischen Sinne ist das Gegenteil von rechtem und linkem "Extremismus" eher die Herrschaft des "Normalismus", von dem der Soziologe und Philosoph Manfred Lauermann schon vor über 15 Jahren geschrieben hat.
RT DE: Wie schätzen Sie die Ergebnisse anderer Partei ein, von der FDP über die AfD bis zur Linkspartei?
Crome: Die FDP hat sich augenscheinlich seit 2017 stabilisiert, nachdem sie 2013 aus dem Bundestag geflogen war. Inwiefern das alles entschlossene FDP-Wähler waren oder Teile der bürgerlichen Klientel sind, die eine Laschet-CDU nicht wollten, muss sich 2025 zeigen.
Die AfD hat offenbar in der Tat eine eigene Stammwählerschaft. Diese Wähler "fehlen" den anderen Parteien aber eher nicht, sie würden wahrscheinlich, wenn es die AfD nicht gäbe, nicht wählen. Insofern bildet der Bundestag im Unterschied zu den Zeiten vor 2017 die reale Bevölkerung eher ab als in früheren Zeiten. Dass es etwa zehn Prozent Wähler gibt, die rechte Parteien wählen würden, wenn es sie gäbe, ohne dass sie offen nazistisch sind, hatten schon Parteienforscher der alten BRD vor 1990 festgestellt. Das hat sich im Osten durch die von der real existierenden deutschen Einheit Enttäuschten erweitert.
Die Linke hat die Protestwähler aus der früheren DDR an die AfD verloren, erscheint nach "erfolgreicher" Regierungstätigkeit auf Länderebene als eher etabliert und nur als eine Art zweite SPD. Diese Wähler sind offenbar nicht zurückzugewinnen.
RT DE: Was sehen Sie als Ursachen des historischen Absturzes der Linkspartei in der Wählergunst?
Crome: Der erste Punkt steht bereits in der Antwort auf die vorhergehende Frage. Die Linke ist nicht mehr die Partei, wie einst die PDS, die mit der Vertretung ostdeutscher Interessen identifiziert wird. Sie hat sich auf den Westen erfolgreich erstreckt, aber dort offenbar weniger gewonnen, als sie im Osten verloren hat.
Hinzu kommt, dass die FDP und die AfD offenbar jeweils eine eigene Wählerschaft haben. Die Wählerschaft der SPD, der Grünen und der Linken rekrutiert sich inzwischen aber zu einem erheblichen Teil gleichermaßen aus dem urbanen, mehr oder weniger weltläufigen, akademisch (halb-)gebildeten Milieu, das Sahra Wagenknecht die "Selbstgerechten" genannt hat. Da scheint es eher eine situative Entscheidung zu sein, welche der drei Parteien gewählt wird. Insofern haben erst der Hype um Baerbock, dann die Chance, mit Scholz die CDU aus dem Kanzleramt zu jagen, der Linkspartei geschadet.
Hinzu kommt, dass die Linken-Akteure alle modischen Wellen von Gender-Sprech, "antikolonialer" Attitüde usw. mitgemacht haben, wohl wissend, dass die Mehrheit der Bevölkerung – darunter auch frühere Linken-Wähler, die nicht zu den Selbstgerechten gehören – dies alles ablehnt.
Am Ende bleiben die unmittelbaren politischen Fehlleistungen. Eine Partei, die sich wenige Wochen vor der Wahl damit beschäftigt, das bekannteste und über die eigenen Blasen hinaus sympathischste Gesicht der Partei – Sahra Wagenknecht – mit einem Parteiausschlussverfahren zu überziehen, ist schlicht nicht wählbar. Die beiden Parteivorsitzenden haben sich zwar bemüht, das rasch aus dem Verkehr zu ziehen. Da war die Nestbeschmutzung aber bereits vollbracht.
Dr. Erhard Crome (Jahrgang 1951) ist Geschäftsführender Direktor des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik in Potsdam und hat als Politikwissenschaftler an verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen gearbeitet.
Mehr zum Thema - Politanalyst Ulrich Brückner: "Laschet muss aus Wahlergebnis seine Schlüsse ziehen"
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.