Völkerrecht ist von gestern – Annalena kommt jetzt aus dem Sport
Annalena Baerbock will einiges verändern in Deutschland. Im Interview mit dem Standard strotzte sie geradezu vor Selbstbewusstsein und Tatendrang. Gleich auf die Eingangsfrage, ob sie denn die nächste Kanzlerin der Bundesrepublik werde, sagte sie wohlfeil:
"Darüber entscheiden in einer Demokratie ja zum Glück die Wählerinnen und Wähler. Aber ja, wir treten bei dieser Bundestagswahl an, um die nächste Bundesregierung nicht nur inhaltlich, sondern auch personell an führender Stelle zu gestalten."
Angesprochen auf die zahlreichen Ungereimtheiten in ihrem Lebenslauf, vergessene Nebeneinkünfte und Plagiatsvorwürfe in ihrem Buch, ging sie überhaupt nicht auf die Kritik ein – stattdessen folgte eine Aneinanderreihung von Wahlkampfphrasen:
"Es gab Tage, die gut gelaufen sind, und andere, die schlechter verlaufen sind. Mir war von Anfang an klar, dass es Gegenwind geben wird, wenn man als Partei und Person antritt und sagt: Ich will dieses Land erneuern und den Status quo an vielen Stellen verändern. Aber wenn wir dazu nicht den Mut haben, dann verlieren wir als Industrieland weltweit den Anschluss."
Weniger entscheidend für das angestrebte Amt ist nun offenbar ihre Ausbildung im "Völkerrecht", sondern die 40-Jährige "komme ja aus dem Sport (Trampolinspringen, Anm.). Wenn man da schon nach der Vorrunde sagt, man will nicht weiterspielen, dann hätte man gar nicht antreten sollen. So ein Wahlkampf ist ein Marathon. Erst am Ende entscheidet sich, wer gewinnt."
Angesprochen auf formale und inhaltliche Fehler ("Verstehen Sie Menschen, die sagen: Wenn eine Partei im Saarland gar keine Wahlliste zustande bringt und die Kanzlerkandidatin so viele Fehler einräumen muss, dann möchte ich den Grünen doch lieber nicht das Kanzleramt anvertrauen?"), ließ Baerbock jede Kritik an sich abprallen und schaute in die Zukunft:
"Es geht nicht darum, alles sofort perfekt zu machen oder so lange zu warten, bis es perfekt ist. Sondern wir müssen jetzt handeln."
Da laut Baerbock die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren "bunter und vielfältiger" geworden ist, müssen die Grünen nun "daher erklären, warum gerade Veränderung dafür sorgt, dass man das erhält, was einem wichtig ist". Die würde man besonders gerne durch ein Tempolimit von 130 km/h, eine weitere Erhöhung des Benzinpreises um 16 Cent sowie den Kohleausstieg bis 2030 realisieren – zum Schutze des Klimas.
Dabei ist Baerbock auch die Gasepipeline Nord Stream 2 ein Dorn im Auge:
"Ich halte diese Pipeline nicht nur aus Klimaaspekten, sondern vor allen Dingen aus geostrategischen Gründen für fatal, insbesondere für die Ukraine, aber auch mit Blick auf die Geschlossenheit und Souveränität Europas."
Die Grünen würden das Projekt gerne noch verhindern, denn sie "würden jedenfalls alles daransetzen, dass diese Pipeline Europa nicht weiter spaltet". Etwaigen "Ärger mit Moskau" würde Baerbock offenbar gerne in Kauf nehmen und verweist auf "europäische Werte":
"Die aktuelle Bundesregierung hat leider die Haltung: Wir machen lieber mal die Augen zu vor der Realität. Das führte dazu, dass wir, mit Blick auf die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine, keinen Schritt vorangekommen sind. Wir hatten den Giftanschlag in Großbritannien, den Tiergarten-Mord mitten in Berlin, die Vergiftung von Herrn Nawalny. Neben dem Dialog, der immer wichtig ist, muss man Härte zeigen gegenüber dem russischen Regime, wenn es um die europäischen Werte und Interessen geht."
Wiederholt kritisiert Baerbock fehlende "Haltung" und "Druck" der Bundesregierung gegenüber Russland, gerade mit Blick auf geostrategische und wirtschaftliche Interessen:
"Mit Blick auf Russland frage ich mich, wieso zahlreiche russische Oligarchen ungehindert in Deutschland und Europa Immobiliengeschäfte machen können, mit denen sie dem Kreml-Kosmos ein gutes Leben sichern. Diese Garanten des Systems Putin müssen doch viel stärker mit personenbezogenen Sanktionen ins Visier genommen werden."
Zum Schluss sprach sich Baerbock für die Aufnahme afghanischer "Ortskräfte" in Deutschland aus. Andere Nationen gingen da mit gutem Beispiel voran, denn die Zeit dränge:
"Zeit für taktische Spielchen gibt es nicht. Diejenigen, für die Tatenlosigkeit keine Option ist, sollten sich zusammentun. Kanada ist schon dabei, die USA auch. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Bundesrepublik ein eigenes Sonderkontingent auflegt. Deutschland könnte aus den genannten besonders schutzbedürftigen Gruppen Menschen in einer Kontingentlösung aufnehmen."
Ende September wird sich zeigen, ob Baerbock in die Fußstapfen Angela Merkels treten wird. Diese sei zwar "menschlich, unprätentiös und immer mit Blick auf die Fakten und Notwendigkeiten. Aber sie hatte eine Partei hinter sich, die nicht bereit ist, die großen Herausforderungen unserer Zeit wirklich vorausschauend anzugehen."
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