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Rente mit 68 – eine Forderung im Interesse der Versicherungswirtschaft?

Bereits im Jahr 2019 war der Anteil erwerbstätiger Menschen älter als 65 Jahre doppelt so hoch wie noch zehn Jahre zuvor. Die Forderungen nach einem höheren Renteneintrittsalter haben aktuell Konjunktur und werden oft demografisch begründet. Dabei gibt es auch ganz andere Zusammenhänge.
Rente mit 68 – eine Forderung im Interesse der Versicherungswirtschaft?Quelle: www.globallookpress.com © Max Kovalenko/ imago-images / Global Look Press

Die Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter von mindesten 68 oder auch 70 Jahren wird derzeit von mehreren Seiten – gemäß dem Rat vermeintlich unabhängiger Experten – und vielen Leitmedien als alternativlos dargestellt. Schon jetzt arbeiten viele Menschen hierzulande länger als laut Rentenaltersgrenze vorgesehen ist. Der Anteil der Senioren, die auch nach dem Eintritt ins Rentenalter arbeiten, steigt schon seit Jahren stark an. Waren 2009 lediglich vier Prozent der Männer und Frauen im Alter ab 65 erwerbstätig, so waren es 2019 bereits acht Prozent. Seit 2012 steigt das Renteneintrittsalter ohnehin schrittweise an, von 65 bis auf 67 im Jahr 2031.

Arbeiten zu gehen war im Jahr 2019 für mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen im Alter über 65 Jahren alternativlos, weil es für ihren Lebensunterhalt notwendig war, wie am Donnerstag veröffentlichte Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen. Für die Übrigen gehe es eher um einen Zuverdienst, so das Bundesamt.

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Dr. Axel Börsch-Supan und Klaus Schmidt hatten jüngst im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) gewarnt, dass "schockartig steigende Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025" drohen, wenn das Renteneintrittsalter nicht angehoben würde. Wie bereits früher hieß es auch hier zur Untermauerung dieser Argumentation, dass die Rente nicht von der steigenden Lebenserwartung abgekoppelt werden könne, da der Altersquotient steige, also die Zahl der älteren Menschen über 65 im Verhältnis zu denen, die in die Rentenversicherung einzahlen, also diejenigen im Alter von etwa 20 bis 64 Jahren. Im Jahr 2040 werde demnach jeder zweite Erwachsene im derzeitigen Rentenalter sein. Weniger als 100 Tage vor der Bundestagswahl distanzieren sich Politiker verschiedener Parteien, insbesondere der regierenden Großen Koalition aus Union und SPD, von solchen Forderungen und betonen, dass der Wissenschaftliche Beirat, von dem das Gutachten mit der Forderung stammt, schließlich unabhängig sei.

Auch das Statistische Bundesamt rechnet aktuell vor, dass im Jahr 2030 hierzulande dem Arbeitsmarkt voraussichtlich nur noch 42,6 Millionen Menschen zur Verfügung stehen und damit eine Million Menschen weniger als 2019 einzahlen werden. Im Jahr 2060 würde deren Zahl auf rund 38,5 Millionen sinken – ein Rückgang um rund 12 Prozent. Hauptgrund für die Abnahme der Zahl der Erwerbspersonen ist demnach das Ausscheiden der ehemals geburtenstarken Jahrgänge aus dem erwerbsfähigen Alter in den nächsten 25 Jahren. Wer ab dem Jahr 2042 dann früher als mit 68 nicht mehr arbeiten kann, müsse mit entsprechenden Kürzungen rechnen, wie die Berater der Bundesregierung auf Anfrage der taz bestätigten.

Dabei zahlen mit den Selbständigen, Beamten und Politikern bisher erhebliche Teile der Bevölkerung gar nicht in das System ein. Auch müssen Beamte nur 40 Jahre dem Staat dienen, und ihre Pension bemisst sich am Einkommen der letzten Jahre und nicht an dem, was über die Jahre (nicht) eingezahlt wurde. Doch diese Grundlage von tatsächlich jahrelangem Einzahlen reicht auch für viele künftige Renten- oder Grundsicherungsbezieher seit Langem nicht mehr aus, da zahlreiche Menschen gar kein Beschäftigungsverhältnis mehr finden, auf den der "traditionelle Arbeitnehmerbegriff" zutrifft  – nämlich sozialversichert, unbefristet, vertraglich geregelt, fest entlohnt, feste Arbeitszeit – und damit auch ausreichend in eine Rentenversicherung einzahlend –, wie Sozialverbände seit Langem betonen. 

Laut einer Studie des DGB und der Hans-Böckler-Stiftung zeigte sich bereits im Jahr 2018, dass hierzulande immer weniger unselbstständig Beschäftigte von ihrem Lohn leben können, Millionen Bürger leben trotz Arbeit im Prekariat. Den Autoren zufolge breiten sich Prekariat und Unsicherheit vor allem aufgrund politischer Entscheidungen aus, weil der Arbeitsmarkt "dereguliert" wurde. Die Zahl der Menschen, die auf die sogenannte "Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung" (sogenanntes "Rentner-Hartz-IV") angewiesen sind, hat sich seit dem Jahr 2003 von 439.000 auf knapp 1,1 Millionen mehr als verdoppelt – und auch die Mittelschicht ist hierzulande nicht mehr vor Altersarmut gefeit.

Gleichzeitig gelingt es einigen "Auserwählten" durchaus – beispielsweise Vorständen von großen Unternehmen, die bei Angestellten oder auch Werkstudenten und Minijobbern sehr genau auf Personalkosten achten und an diesen trotz staatlicher Subventionen unter anderem mit Verweis auf die Corona-Krise teils heftig kürzen –, für sich persönlich sowohl ein weit überdurchschnittliches hohes Einkommen und einen sehr frühen Renteneintritt zu erreichen. Der Trick: Topmanager von DAX-Unternehmen haben im Schnitt das 49-fache Gehalt ihrer Mitarbeiter bezogen, bei Volkswagen sogar das 86-Fache, wie eine Studie im vergangenen Jahr zeigte.

Doch dürften sich Rentner nach der Renten-Nullrunde in diesem Jahr voraussichtlich im kommenden Jahr wieder auf leicht ansteigende Bezüge freuen, wie Anja Piel, die Vorsitzende des Bundesvorstandes der Deutschen Rentenversicherung Bund, am Donnerstag bei einer Bundesvertreterversammlung ankündigte. Die Einnahmen der Rentenversicherung aus Beiträgen stiegen im vergangenen Jahr um 0,9 Prozent. Nach den aktuellen Schätzungen dürften sich die Pflichtbeiträge im Jahr 2021 um 1,9 Prozent erhöhen. "2023 könnte eine kleine Anhebung auf 18,7 Prozent erforderlich sein", so Piel.

Der laut Gesetz maximale Beitragssatz von 20 Prozent werde bis 2025 aus heutiger Sicht nicht erreicht. Auch beim Rentenniveau werde die Haltelinie von 48 Prozent bis 2025 eingehalten. Im laufenden Jahr betrage das Rentenniveau 49,4 Prozent. Durch einen statistischen Effekt werde das Rentenniveau dabei ab dem 1. Juli 2021 rechnerisch um rund einen Prozentpunkt höher ausgewiesen. Rentenversicherungspräsidentin Gundula Roßbach nannte es wichtig, die Rentendiskussion ruhig und sachlich zu führen. Sie warnte davor, immer wieder negative Prognosen zur Rentenversicherung herauszugeben, wenn bei den Menschen nicht deutlich wird, dass dies auf spekulativen Annahmen basieren. Viele negative Langfristvoraussagen zur Rente in der Vergangenheit hätten sich nicht bewahrheitet. Die umlagefinanzierte Rentenversicherung habe sich gerade auch in schwierigen Zeiten bewährt, zuletzt in der Finanzkrise und während der Corona-Pandemie.

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Der rentenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, Matthias Birkwald, und Xaver Ketterl, ein Referent für Soziale Sicherung und Renten, betonen in einem aktuellen Text, dass sich die Erzählung von der Überlegenheit kapitalgedeckter Altersvorsorge – an der einige Politiker starr festhalten wollen – verglichen mit dem Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung als "radikal falsch entpuppt" hat. Demnach habe vor allem die Versicherungswirtschaft weiter ein direktes Eigeninteresse an einer möglichst schwachen gesetzlichen Rentenversicherung – und auch Arbeitgeber profitieren davon. So sei der Disput um die Alterssicherung kein Generationenkonflikt, sondern vielmehr ein gesellschaftlicher Verteilungskonflikt.

Unter dem Vorwand des demografischen Wandels wurde die Privatisierung der Alterssicherung schon vor der sogenannten Riester-Reform gefordert – und zwar vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Der GDV habe diese für die Versicherungen vorteilhafte Argumentation durch ihren "bevorzugt finanzierten Gutachter", den Volkswirt Dr. Axel Börsch-Supan, bewerben lassen – er ist einer der Autoren des Gutachtens, welches aktuell zur Forderung eines höheren Rentenalters dient. Professor Börsch-Supan, der in verschiedenen Studien massiv für die Schwächung der Rente und die Stärkung kapitalbasierter Vorsorgeprodukte geworben habe, ist demzufolge "seit jeher eng mit der Versicherungs- und Finanzwirtschaft verbunden" und leitet das wirtschaftsnahe "Munich Center for the Economics of Aging" (MEA). Bereits dessen Vorgänger, das "Mannheim Research Institute for the Economics of Aging", wurde sogar vom GDV initiiert und mitfinanziert, und auch im Namen des MEA dankte Dr. Axel Börsch-Supan dem GDV für großzügige Unterstützung.

Weiter heißt es in dem Text, dass Professor Axel Börsch-Supan als Mitglied der sogenannten "Rürup-Kommission" neben ganz offiziellen Lobbyisten der Versicherungswirtschaft und der Großindustrie sowie vermeintlich "unabhängigen Wissenschaftlern" wie Dr. Bernd Raffelhüschen und Dr. Bert Rürup saß, wovon der Erstgenannte seit Langem "durch eine Vielzahl von Nebentätigkeiten in der Versicherungswirtschaft" auffalle, während Rürup sich "offenbar ... so gut für die Versicherungswirtschaft ein(setzte), dass der Finanz- und Versicherungsunternehmer Carsten Maschmeyer später sogar eine eigene Firma mit ihm gründete. Entsprechend war es wenig überraschend, als die Kommission sich 2003 in ihrem Abschlussbericht besonders lautstark für die Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherung sowie die Anhebung der Regelaltersgrenze aussprach."

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