Deutschland

Sozialabbau: Immer mehr Menschen erkaufen sich die volle Rente teuer

Das gesetzliche Renteneintrittsalter steigt, die Bezüge sinken. Wer nicht so lange durchhält, muss hohe Abschläge hinnehmen – oder hohe Sonderbeiträge zahlen. Tausende Menschen erkauften sich 2018 damit ungekürzte Altersbezüge, Tendenz steigend.
Sozialabbau: Immer mehr Menschen erkaufen sich die volle Rente teuerQuelle: Reuters © Andreas Gebert

von Susan Bonath

Seit Einführung der Agenda 2010 im Jahr 2003 verlieren die Lohnabhängigen in Deutschland schleichend immer mehr Rechte und Sicherheiten. Drastisch schlägt auch das Rentenkürzungsprogramm zu Buche. Bis zum Jahr 2031 steigt das gesetzliche Eintrittsalter in den Ruhestand auf 67 Jahre. Auch wer 45 Jahre eingezahlt hat, muss ab 2029 bis zum 65. Geburtstag malochen. Andernfalls drohen lebenslange Kürzungen von bis zu knapp 15 Prozent. Immer mehr Menschen wollen das verhindern. Sie erkaufen sich die abschlagsfreie Rente mit hohen Sonderbeiträgen, wie aus einer neuen Datenanalyse der Deutschen Rentenversicherung (DRV) hervorgeht, die der Autorin vorliegt.

Im Schnitt 17.000 Euro zusätzlich für ungekürzte Rente

Demnach ist "die Zahl der Versicherten, die freiwillige Beiträge zum Ausgleich von späteren Renten-Minderungen entrichten, im Jahr 2018 spürbar gestiegen", teilte die DRV auf Anfrage mit. Während danach im Jahr 2017 rund 11.600 Beschäftigte freiwillig für ungekürzte Altersbezüge vorgesorgt hatten, waren es im Jahr darauf bereits mehr als 17.000 Menschen.

Zuletzt, so erläuterte die DRV zudem, hätten sich die Einnahmen der Versicherungsanstalt allein durch diese Sonderbeiträge binnen eines Jahres von 207 Millionen auf 291 Millionen Euro erhöht. Im Schnitt hat damit jeder "freiwillige" Zuzahler 2018 mehr als 17.000 Euro extra entrichtet, um ein, zwei oder drei Jahre früher bei voller Rente in den Ruhestand gehen zu können.

Mehrere Tausend Euro für ein Jahr länger volle Armutsrente

Laut DRV bedeutet das konkret: Armutsrentner, die perspektivisch auf eine volle Bruttorente von gerade einmal 800 Euro kommen, wovon noch die Beiträge zur Sozialversicherung abgehen, müssten 6.820 Euro zusätzlich in die gesetzliche Kasse einzahlen, um nur ein Jahr früher – also mit 66 – aus dem Job zu scheiden, ohne Einbußen hinzunehmen. Andernfalls müssen Betroffene lebenslang mit 28,80 Euro (3,6 Prozent) durch den Monat kommen. Bei so geringem Verdienst dürften Sonderbeiträge kaum zu leisten sein.

Je höher die zu erwartende Rente ist und je früher jemand sie ungekürzt erhalten will, desto höhere Sonderbeiträge werden demnach fällig. Laut einem weiteren Beispiel, das die DRV anbringt, beträgt die freiwillige Zusatzzahlung für Menschen, die ein monatliches Altersgeld von 1.000 Euro brutto erwarten und zwei Jahre früher – also mit 65 Jahren – aus dem Job scheiden wollen, bereits 17.700 Euro. Der Verlust läge hier ansonsten bei 72 Euro pro Monat. Wer eine Bruttorente von 1.200 Euro bekommen wird, müsste sich einen Ausgleich für drei Jahre mit 33.160 Euro erkaufen oder monatlich 130 Euro weniger in Kauf nehmen.

Linke: Sozialpolitische Sauerei, aber "besser als riestern"

DRV-Sprecher Dirk von der Heide lobte auf Nachfrage, dass immer mehr Lohnabhängige das Instrument der freiwilligen Zusatzbeiträge nutzten. Dies wirke sich, so erläuterte er, "nicht nur positiv auf die Finanzen der Rentenversicherung aus". Es sei auch "ein Zeichen für das Vertrauen der Beitragszahler in die Sicherheit der gesetzlichen Rente", so von der Heide.

Die Linksfraktion im Bundestag sieht die Möglichkeit, abschlagsfreie Altersbezüge zu erkaufen, "differenziert", wie ein Sprecher des Rentenpolitikers Matthias W. Birkwald im Gespräch mit der Autorin sagte. "Die Kürzungspolitik und die damit verbundene wachsende Zahl an Niedrigrentnern ist natürlich eine sozialpolitische Sauerei", mahnte er. Aber: In die gesetzliche Versicherung zusätzlich einzuzahlen, sei "wesentlich attraktiver als zu riestern".

IG Metall: Tarifregelung mit "Fifty-fifty-Modell"

Die Industriegewerkschaft (IG) Metall habe das bereits aufgegriffen und mit dem Arbeitgeberfachverband Sanitär-, Heizung-, Klima- und Klempnertechnik ein "Fifty-fifty-Modell" tariflich geregelt, erläuterte der Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Das heißt: Zahlt der Beschäftigte mindestens 50 Euro monatlich von seinem Nettolohn in die Rentenkasse zusätzlich ein, muss der Betrieb genauso viel dazugeben.

Hintergrund ist das sogenannte Flexirentengesetz, das seit Juli 2017 in Kraft ist. Damit wurde das Alter von 55 auf 50 Jahre gesenkt, ab dem Versicherte Sonderbeiträge entrichten können, um Kürzungen bei vorzeitigem Eintritt in den Ruhestand zu verhindern. Laut DRV ging dennoch 2018 jeder fünfte Mann und sogar jede vierte Frau mit Abschlägen von durchschnittlich 90 Euro in den Ruhestand.

Schleichende Rentenkürzungen mit der Agenda 2010

Im Zuge der Agenda 2010 hatte die damalige Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und mit Zustimmung der mitregierenden Grünen, der CDU und der FDP am 21. Juli 2004 das sogenannte Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz beschlossen. Danach sollte erstens das Rentenniveau schrittweise von ursprünglich 53 auf 43 Prozent im Jahr 2030 abgesenkt werden. Zweitens beschloss man, das Eintrittsalter in die gesetzliche Rente schrittweise von 65 auf 67 Jahre anzuheben.

Später kam die sogenannte Flexi-Rente, also die "Rente mit 63" für langjährig Versicherte, hinzu, auch, um einige Folgen der massiven Kürzungen abzumildern. Bedingung dafür ist der Nachweis von mindestens 45 sozialversicherungspflichtigen Berufsjahren. Allerdings steigt auch hier das Eintrittsalter. Aktuell liegt es bei 63 Jahren und acht Monaten, bis 2029 steigt es auf 65 Jahre. Wer es nicht auf 45 Beschäftigungsjahre bringt, was Frauen häufiger betrifft, kann derzeit mit 65 Jahren und acht Monaten in den Ruhestand gehen. Der Geburtsjahrgang 1964 wird seine Regelaltersgrenze erst 2031 am 67. Geburtstag erreichen.

Bundesregierung: Altersarmut ist vor allem weiblich

Der Abbau sozialer Rechte schlägt sich bis heute zum einen in einem wachsenden Niedriglohnsektor nieder. Wie im Sommer 2019 aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion hervorging, arbeitete 2018 in Ostdeutschland jeder dritte Beschäftigte für ein Einkommen auf dem Niveau des Mindestlohns oder nur knapp darüber. Im Westen betraf dies etwa jeden Sechsten.

Niedrige Löhne sorgen zusätzlich zum Kürzungsprogramm für eine wachsende Altersarmut. Am stärksten davon betroffen sind Frauen, auf deren Schultern noch immer ein Großteil der unbezahlten Familienarbeit lastet. Laut einer Datenauswertung der DRV im Sommer 2019 erhielten Männer oberhalb des Renteneintrittsalters im vorvergangenen Jahr durchschnittliche Brutto-Altersbezüge von 1.148 Euro. Frauen kamen lediglich auf ein Alterseinkommen von 711 Euro im Schnitt – also unterhalb des Sozialhilfesatzes.

Allerdings beinhalteten diese Summen auch Zusatzrenten, etwa aus dem Riestertopf oder von privaten Zusatzversicherungen. Die reine Regelaltersrente lag im Jahr 2018 noch weitaus niedriger. Männer kamen allein damit auf durchschnittlich 848 Euro pro Kopf, Frauen auf lediglich 497 Euro.

DIW: Frauen auf dem Arbeitsmarkt noch immer stark benachteiligt

Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2017 zufolge hat dies mit einer systemischen Schlechterstellung von Frauen am Arbeitsmarkt zu tun. Typische Frauenberufe, etwa in der Pflege, im Einzelhandel oder diversen Dienstleistungssektoren, sind danach weitaus schlechter bezahlt als beispielsweise Tätigkeiten in der Produktion.

Frauen gelangen laut DIW-Analyse zudem seltener in Führungspositionen und müssen sehr viel häufiger aus familiären und sozialpolitischen Gründen auf Teilzeitjobs zurückgreifen. Im Jahr 2018 verdienten Frauen laut Statistischem Bundesamt bei gleicher Arbeitszeit im Schnitt 21 Prozent weniger als Männer.

Veröffentlichten Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) zufolge sind Frauen bei den Löhnen am stärksten in Westdeutschland benachteiligt. In einigen Gegenden verdienten sie 2018 teils weniger als die Hälfte ihrer männlichen Kollegen, selbst in ähnlichen Berufen. In den östlichen Bundesländern sind die Unterschiede bei ähnlicher Arbeit indes sehr gering. Frauen sind dort somit weniger abhängig von Männern – offenbar ein positives Relikt aus DDR-Zeiten. So hatte sich das Land weit stärker als der Westen um Gleichberechtigung bemüht.

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