Angstmache mit manipulativen Klinikdaten? Verbände reagieren auf Analyse empört statt konstruktiv
von Susan Bonath
Nicht überall, wo COVID-19 draufsteht, ist COVID-19 drin. Doch seit 14 Monaten fährt das Robert Koch-Institut (RKI) unbeirrt damit fort, alle positiv Getesteten – ob symptomatisch oder nicht – zu "COVID-19-Fällen" zu deklarieren. Auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die mehrfach warnte, ohne harten Lockdown liefen bald die Intensivstationen (ITS) über, verfährt nach diesem Muster. Zudem verzeichnet ihr Intensiv-Register einen massiven Bettenschwund seit letztem Sommer. Wo aber versickerten dann die Fördermittel? Wurden gar Statistiken manipuliert, um an mehr Geld zu kommen? Ein am Sonntag von zehn Medizinern und Juristen veröffentlichtes Papier wirft diese Fragen auf. Und das sorgt nun für helle Empörung beim DIVI und weiteren Verbänden.: Man bestreitet Vorwürfe, moralisiert und beschuldigt zurück. Eine sachliche Debatte bleibt in weiter Ferne.
Fördergeld für Auslastung mit vielen "COVID-19-Fällen"
Zunächst: Die Fragen der Autoren des Thesenpapiers um den Kölner Arzt, Gesundheitsökonom und früheren Fachberater der Regierung Matthias Schrappe sind berechtigt. Mehr als zehn Milliarden Euro aus dem Steuertopf steckte der Bund 2020 in die Kliniken, damit sie Betten für COVID-19-Patienten freihalten. Eine gute halbe Milliarde kam hinzu, um davon 11.000 zusätzliche ITS-Betten zu schaffen. Zunächst stieg ihre Anzahl, doch dann sank sie wieder, besonders stark im Herbst, ausgerechnet zu Beginn der sogenannten zweiten Welle.
Was war im Herbst passiert? Die Bundesregierung hatte in der Novelle des Infektionsschutz-Gesetzes vom 18. November festgeschrieben, dass Kliniken wie bereits im Frühjahr 2020 Ausgleichzahlungen erhalten sollen, um Betten für COVID-19-Patienten bereitzustellen. Ab einer sogenannten "Sieben-Tage-Inzidenz" von 70 Positivfällen pro 100.000 Einwohnern sollte Geld fließen – allerdings nur an Häuser, deren Intensivstationen mindestens sieben Tage lang zu 75 Prozent belegt waren.
Urplötzlich waren die meisten ITS zu mindestens drei Viertel ausgelastet, teilweise sogar "rückwirkend". An der Gesamtbelegung lag das nicht, denn die blieb relativ stabil. Es sank die Anzahl freier Betten. Für diese hatte es im Frühjahr 2020 noch Geld gegeben, nun mussten sie aus der Statistik verschwinden, um den Fördertropf am Laufen zu halten. Für die Höhe dieser Mittel spielt zudem der Anteil der versorgten COVID-19-Patienten eine maßgebliche Rolle. Wurden also unnötigerweise Patienten mit leichteren Verläufen in die Klinik eingewiesen, um mehr Fälle vorweisen zu können? Für die Autoren ist das eine offene Frage.
Mal ehrlich: Wer in der viel gelobten Marktwirtschaft, der inzwischen auch die Kliniken unterliegen, nicht alles tut, um die Kassen klingeln zu lassen, wäre schön blöd und wahrscheinlich bald pleite. Nebeneffekt: Die Politik bekommt so hohe Corona-Zahlen geliefert, um ihre Gängel- und Lockdown-Politik zu rechtfertigen. Wurde also mit überhöhten Zahlen Angst und Panik geschürt, damit die Bürger die Maßnahmen möglichst klaglos hinnehmen?
Übertreiben und Angst schüren
Dafür, dass die Zahl der COVID-19-Patienten übertrieben wurde, spricht viel. Im Februar 2021 hatte eine Recherche der Zeit ergeben, dass 20 bis 30 Prozent der normal stationär aufgenommen "COVID-19-Fälle" lediglich positiv getestet waren, aber keine COVID-19-Symptome hatten. Sie waren wegen anderer Beschwerden in der Klinik. Selbst in den ITS sei dieser Effekt zu beobachten, hieß es. Dort hätten etwa zehn Prozent der vermeintlichen COVID-19-Patienten wegen anderer Ursachen gelegen. Über die Zeit-Recherche berichtete auch der Nordkurier.
Anfang April, erste lautstarke Forderungen nach schneller Zulassung der Corona-Impfstoffe für Kinder machten die Runde, ging eine weitere Warnmeldung durch die Medien: Angeblich lägen immer mehr Kinder mit COVID-19 in den Kliniken. In Hamburg etwa füllte sich laut Deutscher Presse-Agentur (dpa) das Asklepios-Krankenhaus mit kranken Babys. Während die Hansestadt diese Meldung inzwischen entfernt hat, ist sie bei RTL noch zu finden.
Die Medien beriefen sich dabei auf einen Asklepios-Sprecher. Doch dieser zeigte sich wenig später im Gespräch mit der Autorin nicht erfreut darüber. Tatsächlich habe man zwar "weniger als eine Handvoll" positiv getesteter Kleinkinder versorgt. Doch seien diese wegen "Blinddarm, Polypen oder Leistenbruch" im Krankenhaus gewesen, so der Sprecher damals. Kurzum: Die Schlagzeile entpuppte sich als blanke Übertreibung.
Es gäbe noch Dutzende weitere Beispiele für maßloses Aufbauschen und unlautere Zahlenspiele mit nicht erkrankten "Kranken" und für an ganz anderen Erkrankungen verstorbene "COVID-19-Tote". Die Stadt Halle weist auf ihrer Seite etwa aus, dass dort lediglich ein Drittel der "Corona-Toten" tatsächlich an dem Virus starb, obgleich auch die anderen beiden Drittel in der RKI-Statistik landeten.
Diese Vorgehensweise streiten RKI und DIVI nicht einmal ab. Das RKI zum Beispiel erklärte auf eine Presseanfrage der Autorin letztes Jahr, dass man auch klinisch gesunde Corona-Positive als COVID-19-Kranke deklariere, weil dies "internationale Praxis" sei. Eine DIVI-Sprecherin bestätigte der Autorin, dass im Intensivregister nicht nach Symptomen unterschieden werde. Die Kliniken meldeten alle positiv Getesteten, unabhängig vom Grund des Aufenthalts. Und diese tauchten dann eben alle als COVID-19-Fälle auf.
Alte Probleme und katastrophale Datenlage
Man muss Schrappe und seinen Kollegen mindestens in zwei Dingen Recht geben: Die objektive Datenlage zu Corona ist eine Katastrophe. Sie taugt nicht als Begründung für die Politik des fortgesetzten Lockdowns mit gravierenden existenziellen Folgen für viele. So ist bis heute gar nicht klar, wie viele Menschen wirklich an dem Virus schwer erkrankten und wie viele deshalb starben. Dabei wäre dies das A und O in einer Pandemie.
Zweitens ist es höchst erstaunlich, dass die DIVI zu Beginn der Pandemie von rund 28.000 vorhandenen ITS-Betten sprach, die mit einer halben Milliarde Euro auf knapp 40.000 Betten aufgestockt werden sollten. Wenn nun heute im Register nur noch knapp 23.500 Betten für Erwachsene und etwa 2.800 Betten für Kinder angegeben werden, dann ist was faul.
Gewiss, die DIVI, die Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft (DKG) und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund haben Recht, wenn sie in ihrer empörten Stellungnahme den Personalmangel als einen der Gründe für die Überlastung anführen. Nur, wenn der personelle Notstand an Kliniken so groß ist, was schon lange vor Corona so war: Warum hat man nicht die Milliarden genommen, um qualifiziertes Pflegepersonal zurückzuholen und die Kliniken verpflichtet, Pflegekräfte besser zu bezahlen? Das Personal läuft den Kliniken bereits seit Jahren wegen miserabler Arbeitsbedingungen weg. Und um Ausgaben einzusparen, kochen die Krankenhäuser hier ohnehin auf Sparflamme – Corona hin oder her.
Mal grundsätzlich: In den letzten zehn Jahren habe ich regelmäßig über gesperrte ITS-Betten oder sogar Krebsstationen berichtet, über geschlossene Kreißsäle, Kinderkliniken und ganze Krankenhäuser, auch über abgewiesene Schwangere in den Wehen. Jeden Winter pünktlich zur Grippesaison konnte man das Klagen der Verbände über überfüllte Kliniken vernehmen. Es ist auch kein Geheimnis, dass in Krankenhäusern Operationen und Behandlungen, die besonders lukrativ sind, beliebter sind als solche, die weniger einbringen. Zu den lukrativen Behandlungen zählt auch die Beatmung.
Moralisch aufgeladenes Kontra statt ernsthafter Debatte
Schrappe und seine Mitautoren mögen "weit weg von der Versorgungswirklichkeit" sein, wie es die Verbände in ihrer Reaktion auf das Papier ihnen im Gegenzug vorwerfen. Das erklärt dennoch nicht, wohin das Geld für mehr Betten geflossen ist, wenn diese just nicht vorhanden sind. Das erklärt schon gar nicht, warum die Bettenzahl, zumindest nach offiziellen Angaben, seit Beginn der Pandemie sogar gesunken ist und warum nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um mehr Personal zu rekrutieren.
Es ist nicht an der Zeit, um von Schrappe nun Beweise für die eine oder andere Fehlversorgung von Patienten zu verlangen. Das in deutschen Kliniken nicht alles rundläuft, weiß wohl jeder, der mal im Krankenhaus lag. Anstatt die Analyse darüber hinaus noch moralisch als "Schlag ins Gesicht der Ärztinnen und Ärzte und der Pflegekräfte" aufzuladen und daher die Vorwürfe "aufs Schärfste" zurückzuweisen, hätten die Verbände durchaus einfach mal damit beginnen können, ehrlich zu sein.
Das würde zum Beispiel bedeuten, zuzugeben, dass Krankenhäuser im derzeitigen System mit Patienten Umsatz erwirtschaften müssen, dafür selbstverständlich an Personal sparen und die Pflegekräfte übel ausbeuten. Man könnte einräumen, dass die präsentierten Zahlen schlicht und ergreifend nicht preisgeben, wie viele COVID-19-Fälle tatsächlich in den Kliniken behandelt werden.
Ähnlich wie die "COVID-19-Fälle" des RKI, bei denen laut Dashboard für mehr als die Hälfte nicht einmal ein Erkrankungsbeginn angegeben wurde (offenbar, weil sie klinisch gesund waren), taugen auch die DIVI-Daten nicht ansatzweise für eine objektive Einschätzung der realen Lage auf den Intensivstationen und der tatsächlichen Probleme. Da hilft es nicht weiter, dass sich die Statistikwächter nun fürchterlich auf den Schlips getreten fühlen. Die Empörung der Verbände führt keinen Schritt aus der Misere heraus. Im Gegenteil: Sie deckt die langjährigen Probleme weiter zu.
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