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"Grob fahrlässig": Vom RKI prognostizierte Schreckens-Inzidenz ist ausgeblieben

Es sind vor allem Modellierungen und Prognosen, die die Grundlage für die von der Bundesregierung verhängten Corona-Maßnahmen bilden – und mitunter die Bevölkerung in Angst versetzen. So etwa die Inzidenzwert-Prognosen des Robert Koch-Instituts für die vergangenen Wochen, die ein Vielfaches über der tatsächlich eingetroffenen Realität lagen und nun für Kritik sorgen.
"Grob fahrlässig": Vom RKI prognostizierte Schreckens-Inzidenz ist ausgebliebenQuelle: AFP © Tobias Schwarz

Es ist erst wenige Wochen her, als düsterste Prognosen, die "britische Mutante" betreffend, durch die Köpfe der Medienkonsumenten geisterten. Bis Ostern sei im schlimmsten Fall eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 500 zu rechnen, prognostizierte das Robert Koch-Institut (RKI) Mitte März in seinem Lagebericht.

Das war allemal ausreichend für Forderungen nach einer "Osterruhe", noch etwas strengeren Corona-Maßnahmen und einem wieder ansteigenden Angst-Pegel in der Bevölkerung.

Der Virologe Christian Drosten sprang auf den Zug auf und spekulierte über eine "amtliche Auffassung von dem, was uns in den nächsten Wochen bevorsteht".

Es wurden noch höhere Inzidenz-Werte feilgeboten, etwa vom Berliner Mobilitätsforscher und Physiker Kai Nagel. Dieser prophezeite ebenfalls Mitte März gar Inzidenzen von über 1.000, im ungünstigsten Fall sogar über 2.000 für Anfang Mai. Neben Medien und Politik zeigte sich u. a. der SPD-Politiker und Gesundheitsökonom Karl Lauterbach alarmiert.

Nach Ansicht des Mediziners seien die RKI-Prognosen "realistisch und entsprechen auch eigenen Ansätzen". Nach der Veröffentlichung von Nagels Prognosen warnte Lauterbach obendrein vor einer "massiven Zunahme der COVID-19-Toten und -Invaliden" (zuletzt forderte Lauterbach einen "letzten strengen Lockdown", ansonsten drohten bis Ende Mai "10.000 Tote").

Keine der Schreckensprognosen bewahrheitete sich. Im Gegenteil: Mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von derzeit um die 160 liegt diese weit unter dem vom RKI Mitte März prognostizierten Szenario. Von anderen Prognosen ganz zu schweigen. Was derweil sicherlich massiv anstieg, waren die durch die gewagten Voraussagen erzeugte Angst und Sorge in der Bevölkerung.

Hinzu kommt, dass der Professor für Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik an der TU Berlin, Kai Nagel, ebenso zum Corona-Beratungsstab der Bundesregierung zählt wie etwa Christian Drosten. Somit haben auch Nagels Einlassungen erheblichen Einfluss auf die Maßnahmen-Politik der Bundesregierung, die vor wenigen Tagen die sogenannte Bundesnotbremse beschlossen hat.

Gegenüber der Bild-Zeitung kritisierte der FDP-Politiker und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki die Prognosen-Politik nun scharf:

"Angst zu verbreiten scheint mittlerweile ein übliches Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen zu sein."

Für das RKI hatte Kubicki kein positives Feedback übrig. Vielmehr stünde der Verdacht im Raum, dass es sich bei diesem um einen "willfährigen Erfüllungsgehilfe der Bundesregierung" handele, "um die jeweils nächsten harten Maßnahmen quasi-wissenschaftlich zu begründen".

"Mit solchen Einlassungen wird jedoch das Vertrauen in die Lauterkeit dieser wichtigen Institution nachhaltig zerstört", so der FPD-Politiker. 

Es gab jedoch auch Wissenschaftler, für die kein Anlass bestand, Furcht zu schüren. Zu diesen zählt der Virologe Hendrick Streeck. Im Januar zeigte sich der Forscher überzeugt: "Im März, spätestens April gehen die Infektionszahlen nach unten – wie bei allen anderen Coronaviren auch." Streeck ergänzte, er gehe davon aus, dass es "über die Sommermonate nur noch wenige Fälle" geben werde.

Gegenüber dem Bild gewährte das RKI nun Einblick in das Zustandekommen der hauseigenen, düsteren Prognosen: "Bei der Prognose wurde der Trend in die Zukunft fortgeschrieben, den wir zuvor über acht Wochen stabil beobachtet haben – und der sich zunächst auch fortsetzte wie vorhergesagt."

Bereits vor einigen Tagen erklärte der an den RKI-Modellierungen beteiligte Statistiker Matthias an der Heiden, dass es sich bei der Tatsache, dass der selbst vorhergesagte Trend nicht eingetreten sei, um ein "wichtiges Signal" handele, "dessen Gründe wir noch nicht genau kennen".  Im Konjunktiv fährt an der Heiden fort:

"Es könnte mit der eingeschränkten Mobilität der Menschen sowie mit geschlossenen Betrieben und Schulen über Ostern oder mit einer Verhaltensanpassung der Bevölkerung zu tun haben."

Zudem sei "im Vergleich zu den Vorwochen eine geringere Anzahl von Tests durchgeführt" worden. Ob sich "die aktuelle Seitwärtsbewegung" fortsetze, bleibe "abzuwarten". Es sei dem RKI Mitte März darum gegangen, davor zu warnen, dass sich ein stetiges exponentielles Wachstum der ansteckenderen britischen Variante B.1.1.7 hinter den Gesamtzahlen verberge.

Gegenüber Bild meldete sich auch der Medizinstatistiker Gerd Antes zu Wort. Entwicklungen einfach fortzuschreiben, wird Antes zitiert, sei "geradezu ein fachlicher Fehler". "Es ist ein chronischer Fehler der Modellbildung, einen Trend fortzuschreiben und naiv in die Zukunft zu schauen." Als Statistiker wendet sich Antes nicht grundsätzlich gegen Modellierungen. Es gebe jedoch Entscheidendes zu bedenken.

"Sie zur Grundlage für politische Entscheidungen zu machen, halte ich für grob fahrlässig. Sowohl von wissenschaftlicher Seite, diese Zahlen ohne deutliche Warnungen in den Raum zu stellen, wie auf der anderen Seite von der Politik, sie ohne kompetente Beratung zur Grundlage von weitreichenden Entscheidungen zu machen".

Dieses Phänomen sei "leider seit vielen Monaten" zu beobachten. Die Voraussagen für den Mai hält der Wissenschaftler für "geradezu atemberaubend".

Bereits Ende März sprach Antes angesichts der auf tönernen Füßen stehenden Corona-Maßnahmen der Regierung von einem "Pandemie-Bingo". Dass etwa Urlaub im Schwarzwald verboten und in Malle erlaubt sei, gleiche einer Abschaffung der Logik. Gegenüber dem Südkurier erklärte Antes:

"Mir kommt das vor wie Pandemie-Bingo und Malle hat den Hauptgewinn gezogen."

Zugleich sprach er von desaströsen Daten-Mängeln. Die Inzidenz als Richtwert sei der denkbar gröbste Indikator, den man für eine Beschreibung des "Infektionsgeschehens" nutzen könne. Ermittelte Mittelwerte würden Unterschiede vertuschen. "Bei Altersgruppen und Mortalitäten muss ich auf die Details dieser Gruppen blicken", so Antes.

Währenddessen relativierte der Physiker Kai Nagel gegenüber Bild seine Vorhersagen. Bei seinen düsteren Mai-Modellierungen handele es sich lediglich um "Szenarien".

Es seien auch die mitunter aufgrund seines Berichts verhängten Maßnahmen der Regierung, die Schlimmeres verhindert hätten. So sei er bei seinem Szenario mit einer Inzidenz von bis zu 2.000 etwa von "vollständig geöffneten Schulen" ausgegangen. Zudem sei bereits bei der Veröffentlichung der einschränkende Hinweis mitgeliefert worden: "Dieses Szenario wird so wohl nicht eintreten, da von politischer Seite vorher die Reißleine gezogen würde."

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