LMU-Statistiker: Keine Corona-Übersterblichkeit – Deutsche Datenqualität "einzige Katastrophe"
Sie gilt als ultimativer Nachweis für den mutmaßlich verheerenden Verlauf der ausgerufenen COVID-19-Pandemie auch in Deutschland: die sogenannte Übersterblichkeit (Exzess-Mortalität). Der Begriff ist aus der Corona-Debatte längst nicht mehr wegzudenken und hängt wie ein unsichtbares Damoklesschwert über der Bevölkerung.
Und es mangelt nicht an Schlagzeilen die den Zusammengang zwischen COVID-19 und einer signifikant erhöhten Anzahl an Todesfällen herstellen. So hieß es etwa bei der Zeit am 11. Dezember alarmistisch:
"Übersterblichkeit durch Corona – Alle drei Minuten ein Toter".
Doch bei genauerer Betrachtung ist der Sachverhalt für das Corona-Jahr alles andere als eindeutig. Laut dem Statistischen Bundesamt beläuft sich die Gesamtzahl der 2020 in Deutschland verstorbenen Menschen auf 982.439, und das bei einer Gesamtbevölkerung von rund 83,25 Millionen Menschen.
Das wiederum entspricht laut Statistischem Bundesamt rund 48.000 Verstorbenen mehr als etwa für die Jahre 2016 bis 2019. Aha, da ist die also, die Corona-Übersterblichkeit? Ganz so einfach sollte man es sich nach Ansicht des Statistikers Göran Kauermann von der Ludwig-Maximilians-Universität in München (LMU) nicht machen.
Eines stellt der Statistiker und LMU-Professor im Interview mit der Welt direkt zu Beginn unmissverständlich klar:
"Nach unseren Berechnungen sind tatsächlich nicht unerwartet mehr Menschen gestorben als im Schnitt der vier Jahre davor."
Mit seiner statistisch fundierten Einschätzung schließt sich Kauermann einer Einschätzung des Bonner Virologen Hendrik Streeck an, die dieser bereits im Frühjahr 2020 tätigte und wonach es bis Ende des Jahres aufgrund von COVID-19 wohl keine Übersterblichkeit gegeben werde.
An der LMU leitet Kauermann die COVID-19 Data Analysis Group, deren Aufgabe es ist, mit ihrem wissenschaftlichen Know-how und ihrer statistischen Expertise zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie beizutragen.
Eine grundlegende Ursache, die zu verzerrenden Zahlen-Interpretationen führe, sei die mangelnde Berücksichtigung des demografischen Faktors, so Kauermann. So gelte es, auch beim Vergleich der Sterblichkeit von 2020 die Altersstruktur der Bevölkerung zu berücksichtigen.
"Sie müssen wissen, dass der Jahrgang 1940, also der heute 80-Jährigen, besonders geburtenstark war. Das wirkt sich natürlich auf die Sterbezahlen aus."
Wie der Statistiker im Welt-Interview erläutert, sei der Jahrgang 1940 besonders geburtenstark gewesen, was sich selbstverständlich nun auch in der Sterbestatistik niederschlage bzw. die Anzahl der Verstorbenen ohnehin nach oben treibe.
Im Jahr 2020 sei daher mit knapp 41.000 zusätzlich Verstorbenen im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 zu rechnen gewesen.
"Die 7.000, die noch fehlen zur 48.000, sind schlichtweg keine Übersterblichkeit, sondern völlig im Rahmen von zufälligen Schwankungen."
Bereits Mitte Dezember erklärte Kauermann anhand von statistischen Modellen, dass etwas mehr Menschen über 80 Jahre gestorben sein als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Das gelte jedoch nicht für die Jahrgänge der 35- bis 59-Jährigen. Dort sei statistisch sogar eine Untersterblichkeit auszumachen:
"Und in der Alterskategorie 35–59 haben wir eine Untersterblichkeit."
Dies sei jedoch schlicht damit zu begründen, dass aufgrund der Corona-Einschränkungen etwa weniger Menschen im Straßenverkehr ums Leben kämen. Auch im aktuellen Interview geht Kauermann auf das entsprechende Phänomen ein.
"In dieser Altersgruppe sind die häufigsten Todesursachen Unfälle. Im Coronajahr sind wir weniger gereist, trieben weniger riskanten Sport, weniger Menschen starben im Straßenverkehr. In der Summe glich es das Plus an Corona-Toten möglicherweise aus."
Wie Kauermann erläutert, müsse bei der Frage nach einer vermeintlichen Übersterblichkeit auch ein weiterer Effekt berücksichtigt werden.
"2020 war die Grippewelle praktisch ausgefallen, weil sich ab Mitte Februar die Hygienemaßnahmen durchgesetzt hatten. Es gab also deutlich weniger Grippetote als in den Vorjahren, was sich auf die Gesamtstatistik auswirkt."
Deutliche Kritik übt Kauermann an den ohne einordnende Informationen als "Rohdaten" vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Sterbefallzahlen. Das Amt selbst sieht den Sachverhalt naturgemäß anders. Es sei schlicht noch zu früh, um in Sachen Übersterblichkeit für das gesamte Jahr 2020 fundierte Aussagen tätigen zu können.
Auch das tägliche erwähnte Robert Koch-Institut (RKI) kommt bei dem LMU-Statistiker alles andere als gut weg. So gehe man im Rahmen der eigenen mathematischen Berechnungen gerne auf Berichte ein, dass COVID-19 vermeintlich immer mehr junge Menschen heimsuche.
"Doch zu Intensivpatienten gibt es keine Altersangaben. Das gleiche gilt für die Mutanten. Oder das Testgeschehen."
"Angesichts der Datenqualität des Robert-Koch-Instituts (RKI)" sei er "eher skeptisch, ob wir irgendwann zu aussagekräftigen Analysen kommen".
Auch darüber hinaus gibt es für das RKI Schelte von Kauermann. So sei die Tatsache, dass die sogenannten Infektionszahlen bei Senioren trotz Lockdown nach oben schossen, durch eine andere und einfach zu erstellende Visualisierung darstellbar gewesen. Die verwirrende Darstellung des RKI habe dies jedoch verhindert.
"Für uns ist es erschreckend zu sehen, dass die Datenqualität in Deutschland noch immer eine einzige Katastrophe ist."
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