Gesellschaft

Vernichtungskrieg im Osten – Kann eine Opfer-Hierarchie vermieden werden?

Die zahlenmäßig größten Opfergruppen des nazistischen Ostfeldzuges waren Bürger Polens und der Sowjetunion. Bislang erinnert in Deutschland kein Denkmal an dieses Verbrechen. Historiker wollen das nun ändern. Doch darüber entscheidet die hohe Politik.
Vernichtungskrieg im Osten – Kann eine Opfer-Hierarchie vermieden werden?Quelle: Sputnik

von Wladislaw Sankin

Vor einem Jahr, im Oktober 2018, stellte die Linksfraktion im Deutschen Bundestag den Antrag "Gedenkort für die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Osteuropa" an die Bundesregierung, der zur Schaffung eines zentralen Erinnerungsortes in Berlin aufrief.

Das Gedenken an die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Ost- und Ostmitteleuropa ist bis heute nicht in gleicher Weise gestaltet worden, wie dies für andere, vergleichbare Opfergruppen geschehen ist. Während es für Opfer in Westeuropa wenigstens teilweise ein ehrendes Gedenken gibt, bleiben viele Opfer in Osteuropa und auch in der Sowjetunion oft in Deutschland ungenannt. Entschädigung gab es hier wie dort nur für ganz bestimmte Opfergruppen. Insbesondere Opfergruppen aus der ehemaligen Sowjetunion gehörten nicht in diese Kategorie, genauso wenig wie jene Zivilisten, die Sühne- und Racheaktionen der deutschen Besatzer erlitten haben", wurde im Antrag argumentiert.

Im Papier wurde betont, dass der Krieg im Osten als Weltanschauungskrieg geführt wurde, bei dem aus rassistischen Gründen große Bevölkerungsgruppen vorsätzlich zur Massentötung freigegeben wurden – neben Juden auch sowjetische Kriegsgefangene, Einwohner eingeschlossener Städte wie Leningrad, Partisanen und die Zivilbevölkerung als Geisel.

Im Antrag wurde darauf hingewiesen, dass der Vernichtungskrieg mit rassistischer Motivation bereits in Polen seit dem Überfall am 1. September 1939 seinen Lauf nahm und mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 seinen Höhepunkt erreichte. Positiv hoben die Linkspolitiker hervor, dass in den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD das Vorhaben zur Aufarbeitung des Schicksals "der bisher wenig beachteten Opfergruppen" aufgenommen worden war.

Hat sich ein Jahr nach der Antragstellung in der Sache etwas bewegt? Ja. Vor allem die Initiative für ein Denkmal für die polnischen Opfer erhielt prominente politische Unterstützung. Es erschienen weitere parteiübergreifende Politiker-Appelle in der Presse, gesellschaftliche Akteure der deutsch-polnischen Zusammenarbeit wurden aktiv, und die Bundesregierung hat sich auf die Seite der Verfechter eines Denkmals für die polnischen Opfer gestellt.

In Reaktion auf eine Anfrage der Deutschen Welle verwies das Auswärtige Amt (AA) auf die Passage im Koalitionsvertrag, in der von der Anerkennung "bisher weniger beachteten Opfergruppen des Nationalsozialismus" die Rede ist. "In diesem Sinne unterstützt die Bundesregierung schon seit längerer Zeit eine zivilgesellschaftliche Initiative zur Errichtung eines Polen-Denkmals in der Mitte Berlins zum Gedenken an die polnischen Opfer der deutschen Besatzung 1939–1945", erklärte das AA.

Damit hat die Bundesregierung eine Opfergruppe – die Polen – aus den mannigfachen Opfergruppen im Osten ausgekoppelt, und zwar nach ethnisch-nationalem Prinzip. Als möglicher Ort des Gedenkens wird eine Kriegsruine am Askanischen Platz am Anhalter Bahnhof gehandelt.

Über das Vorhaben wurde jedoch noch nicht endgültig entschieden, denn darüber muss im Endeffekt der Bundestag abstimmen. Der Termin pünktlich zum 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen am 1. September wurde schon verpasst. Nun mehren sich die Stimmen, dass der richtige Zeitpunkt für die Geste verpasst werden könnte, um die deutsch-polnischen Beziehungen wieder zu verbessern.

Eine Diskussion innerhalb der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" am Holocaust-Denkmal mit hochkarätiger Historikerbesetzung, die letzte Woche stattfand, sollte das Vorhaben hinterfragen, nur einer Opfergruppe einen Gedenkort zu widmen.

Gleich zu Beginn brachte Uwe Neumärker, der Direktor der Stiftung Denkmal, in seiner Begrüßung auf den Punkt, worum es erinnerungspolitisch jetzt gehen muss:

Wir brauchen kein nationalisiertes Gedenken etwa in Form eines Polen-Denkmals, sondern einen Gedenkort für alle Opfer des NS-Vernichtungskrieges, der sich der Aufklärung verpflichtet fühlt.

Neumärkers Vorschlag für ein Dokumentationszentrum der deutschen Besatzungsherrschaft von 1939–1945, in dem umfassend die jeweilige Spezifik in den überfallenen Ländern dargestellt wird, stieß dabei auf große Zustimmung der anwesenden Historiker.

Vor allem bestehe die Gefahr, dass mit der Nationalisierung der Opfer Raum für ihre Hierarchisierung geschaffen wird. Das könne wiederum Ansätze für politische Instrumentalisierung in den jeweiligen Staaten schaffen. Damit bestehe die Gefahr, im Sinne der faschistischen Ideologie der NS-Zeit zu handeln – eben das, was es zu überwinden gelte, so Dr. Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, in seinem Redebeitrag. 

Im Laufe der Veranstaltung wurde immer wieder der schwierige Umgang mit der polnischen Seite angesprochen. Sie sieht sich im Krieg beispielsweise als "Opfer der Russen" und will mit diesen nicht in eine Opfergruppe eingeordnet werden. Ähnliche Probleme entstünden momentan angesichts der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine sowie der Schaffung eines eigenes Opfer-Narrativs in Weißrussland.

Prof. Dr. Martin Aust, Professor für Geschichte und Kultur an der Universität Bonn, schlug deshalb für die deutsche Seite vor, dessen ungeachtet "multilateral zu denken und bilateral zu handeln". Im Hinblick auf den künftigen Gedenkort plädierte er für einen Ort mit drei Funktionen: als Ort der Information, des Austausches und des Gedenkens.

Dr. Peter Jahn, der langjährige Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, sagte, dass es angesichts der deutschen Verantwortung für die NS-Verbrechen im Endeffekt eine deutsche Angelegenheit sei, im multinationalen Opfergedenken richtungsweisend zu bleiben.

Wie auch andere Diskussionsteilnehmer betonte er vor allem, dass es nicht in erster Linie darum gehe, noch ein Denkmal in Berlin zu errichten, sondern dass es wichtig sei, ein Dokumentationszentrum zu Aufklärungszwecken an einem gut erreichbaren Ort in Berlin-Mitte zu schaffen. Das Deutsch-Russische Museum, dessen Leiter er bis 2006 war und das seit mehreren Jahren das Thema Vernichtungskrieg in seinem Programm hat, sei dafür zu abgelegen.

Diese "Geringschätzung" regte den gegenwärtigen Leiter des Museums Dr. Jörg Morré im Laufe der Diskussion immer wieder auf: "Ihr diskutiert im Konjunktiv, was man hätte machen müssen, während bei uns in Karlshorst genau das, was ihr vorhabt, seit 25 Jahren getan wird! Es gibt bei uns Erfahrungen und Expertise, aber anscheinend interessieren sie keinen." Und so weit abgelegen sei Karlshorst auch nicht, so Morré an seine Kollegen.

Das Deutsch-Russische Museum machte den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion schon vor Jahren zu einem seiner Schwerpunkte. Es hat aber immer noch Schwierigkeiten, sich mit der Berliner Museenlandschaft zu vernetzen. Man findet beispielsweise in keinem anderen der zahlreichen Geschichstmuseen der Hauptstadt Flyer des Museums, das am Ort der berühmten Kapitulationsunterzeichnung am 8. Mai 1945 entstanden ist.

Am Ende der Veranstaltung ergriff der Abgeordnete der Linkspartei im Bundestag Jan Korte das Wort. Er betonte, dass die mit der "propolnischen" Position der SPD in der politischen Denkmaldebatte drohende Hierarchisierung der Opfer gebannt werden müsse. Es sei notwendig, in der Diskussion aus den tagespolitischen und außenpolitischen Scharmützen herauszukommen und sich auf einen Ort für alle Opfer zu einigen.

In seiner Partei gibt es auch Befürworter eines separaten Polen-Denkmals. Können die Fachleute mit ihrer profunden Expertenmeinung die politischen Entscheidungsträger beeinflussen und ein 'Denkmal für alle' bewirken? Abgesehen davon, dass das Polen-Denkmal fast beschlossene Sache zu sein scheint, ist dies im heutigen Deutschland allein schon aufgrund der politischen Konstellation fraglich. Und Grund dafür ist nicht nur die politische Auseinandersetzung mit der Russischen Föderation.

Die deutschen Historiker sind froh darüber, dass es hierzulande kein Institut für nationales Gedenken gibt, wie etwa in Polen oder der Ukraine. Mit einem derartigen Institut würde der Staat eine staatlich verordnete Erinnerungspolitik festlegen, die auch die fachliche Debatte maßgeblich beeinflussen würde. Ohne ein solches Institut fühlen sich die deutschen Historiker frei von staatlichen Einflüssen, zumal die Freiheit der Wissenschaft in der Verfassung garantiert ist.

Diese Freiheit hat aber auch ihre Kehrseiten – ohne auf den von der Politik einwirkenden Resonanzraum werden Wissenschaftler, die auch die grenzübergreifende Fachszene mit ihren Debatten und Problemen gut kennen, vom politischen Engagement weitgehend abgeschnitten. Denn: 

Je weiter wir in den politischen Raum reingehen, desto weniger können wir uns beschweren, dass der politische Raum zu uns reingreift, denn dann werden wir zu politischen Größen, die ernst zu nehmen sind. Es ist also Vorsicht geboten", sagte Dr. Axel Drecoll.

Die Bilanz der Veranstaltung fiel auf Jan Kortes Webseite recht diplomatisch aus. Die Debatte müsse endlich auch im Parlament geführt und der politische Wille, den Koalitionsvertrag umsetzen zu wollen, insbesondere auf Seiten der SPD, erkennbar werden.

Die Fachhistoriker sendeten an diesem Tag ein deutliches Signal an die Politik: Die Nationalisierung der Denkmalfrage ist mehr als nur problematisch und eine Absage an einen inklusiven Gedenk- und Aufklärungsort für alle Opfer des nazistischen Feldzuges, einschließlich der 27 Millionen Sowjetbürger, ist moralisch nicht hinnehmbar. Außerdem müsste das bereits existierende Deutsch-Russische Museum als Aufklärungsort besser genutzt werden. 

Es ist aber fraglich, ob sowohl die Wissenschaftler als auch die Linksfraktion die Regierung von ihrer in den letzten Monaten deutlich gewordenen Haltung für ein Polen-Denkmal abhalten können. 

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