Gesellschaft

Opfer, Nazi oder Kollaborateur? Projekt für Holocaustmuseum in Kiew sieht virtuelle Rollenspiele vor

Ist dies das Museum des 21. Jahrhunderts? Ein virtueller Spaziergang soll den Besuchern das Schicksal der Holocaust-Opfer erlebbar machen. Das Computerprofil kann ihnen jedoch ein anderes Profil zuweisen – das eines Henkers. An dem Projekt scheiden sich nun die Geister.
Opfer, Nazi oder Kollaborateur? Projekt für Holocaustmuseum in Kiew sieht virtuelle Rollenspiele vorQuelle: Reuters © Valentyn Ogirenko

In den Jahren 1941 bis 1943 erschossen die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD am Kiewer Stadtrand in den Schluchten von Babi Jar mindestens Hunderttausend Menschen. Etwa zwei Drittel von ihnen waren jüdische Einwohner Kiews und der restlichen Sowjetukraine – Kinder, Frauen, Alte, den Rest machten hauptsächlich sowjetische Kriegsgefangene und Roma aus. So unfassbar die Geschichte dieses Leids auch war, fand sie in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg jedoch nicht den ihr gebührenden Weg in die öffentliche Erinnerung. Es galt in der Nachkriegs-UdSSR als politisch unerwünscht, Juden und Kriegsgefangener als besonderer Opfergruppe zu gedenken.

Erst im Jahr 1966 erschien der erste zensierte dokumentarische Roman über die Tragödie, im gleichen Jahr der erste Obelisk und im Jahr 1976 das erste Denkmal. Ein umfassendes Projekt für das Gedenkzentrum für die Opfer der Massenerschießungen in Osteuropa gibt es aber erst seit dem Jahr 2016. Im letzten Jahr stieg der russische Regisseur Ilja Chrschanowski als künstlerischer Leiter der Museumsausstellung ein.

Von "Dau" zu "Babi Jar"

Der 44-jährige Chrschanowski, der sich einen Namen als Regisseur des mehrjährigen Mammutprojekts "Dau" machte, sollte das Museum zu etwas noch nie Dagewesenem machen. Für die Dreharbeiten an "Dau" sollten 400 Menschen in einem Zeitraum von bis zu drei Jahren im Nachbau eines sowjetischen Forschungsinstituts in der Atmosphäre der Sowjetunion der 1930er- bis 1960er-Jahre leben. Das entstandene Filmmaterial umfasst 700 Stunden, es wurden daraus bereits 16 Kinofilme und sechs Serien geschnitten, die laut den Machern des Projekts die Psyche der Menschen im repressiv-totalitären System untersuchen.

Viele Kritiker bezeichneten das Projekt "Dau" als "Kino der Zukunft". Nun hat der Regisseur vor, in Kiew das Museum der Zukunft zu bauen. In Interviews im März und im April lüftete er sein Vorhaben:

Jeder Besucher soll sein eigenes Museum besuchen. Mit modernen Technologien ist dies absolute Realität. In naher Zukunft wird alles so funktionieren. Sie werden auf Ihrer eigenen Reise sein und das sehen, was Ihnen entspricht. Der Effekt ist das Erleben eines anderen Lebens, eines eigenen Alter Egos. Niemand weiß, wie man sich verhalten hätte. In dem Museum soll der Besucher ständig eine kleine individuelle Wahl treffen.

Näheres durfte man jedoch nicht erfahren, die erste Präsentation des Projekts wurde auf Mitte Juni gelegt. Ende April nahmen die Ereignisse jedoch ihren eigenen Lauf. Am 22. April leitete die Staatsanwaltschaft der ukrainischen Millionenstadt Charkow ein Strafverfahren wegen Kindesmissbrauchs gegen die Macher des Projekts "Dau" ein. Im Zentrum der Vorwürfe stand Chrschanowski, der bei den Aufnahmen des Films in den Jahren 2008 bis 2011 in Charkow weinende Säuglinge in einem Käfig filmen ließ.

Die Sequenz war Teil einer Szene im Film "Dau. Degeneration", die ein wissenschaftliches Experiment an Kindern zeigen sollte. Über den Regisseur brach ein Sturm der Entrüstung in den sozialen Medien herein. Die Empörten nannte der Regisseur in einem Interview "Bots", was auf den orchestrierten Charakter der Kampagne hindeuten sollte.

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VR und Deepfake

Am 27. April veröffentlichte das ukrainischsprachige Portal Istoritschna Prawda (Historische Wahrheit) unter dem Titel "Babi Jar. Horrormuseum des Regisseurs Chrschanowski" die wichtigsten Folien der von ihm geplanten Museumspräsentation. Die Datei mit der Präsentation habe die Redaktion von einer nicht näher genannten Quelle erhalten. Noch am selben Tag erschienen die ersten Aufrufe ukrainischer Kunstschaffender, Chrschanwoski unter Verweis auf seine russische Staatsbürgerschaft von dem Projekt auszuschließen. Aber was stand in der Präsentation?

Dort wird unter anderem erklärt, dass die Besucher ein digitales Formular ausfüllen müssen. Mithilfe dieser Angaben und weiterer Informationen aus sozialen Netzwerken und einer Gesichtserkennungssoftware werden sie auf eine individuelle Reise durch die Ausstellung geschickt. Zu den interaktiv gestalteten Zwischenstationen gehören Dunkelräume, Labyrinthe und Spielplätze. Das Kernstück der Reise soll aber ein durch die virtuelle Brille erzeugtes erschütterndes emotionales Erlebnis sein:

Virtuelle Realität ermöglicht es Ihnen, eine Person in eine konstruierte Umgebung zu versetzen, in der sie die Umstände erlebt, die die Opfer der Tragödie zu ertragen hatten. So kann der Betrachter überzeugenderweise in den Kontext der Ereignisse eintauchen.

Wir werden Rollenspielrouten in virtueller Realität anbieten, die die Besucher in die Rolle von Opfern, Kollaborateuren, Nazis und Kriegsgefangenen versetzen. Letztere hätten unter anderem die Leichen verbrennen sollen.

Dabei hängt die virtuelle Rollenspielroute nicht nur von dem anfangs erzeugten Profil ab, sondern auch von den spontanen Reaktionen auf die Inhalte der Ausstellung. Es wird auf die sogenannte Deepfake-Technologie der künstlichen Intelligenz gesetzt, die es ermöglicht, sein eigenes Gesicht bei den Protagonisten des Rollenspiels zu sehen.

Dank tiefgreifender digitaler Fertigungstechnologien werden die Besucher Rekonstruktionen von Schrecken sehen können, in denen die Protagonisten die Gesichter der Besucher haben werden. Diese Technologien werden verwendet, um gefälschte pornografische Videos mit Prominenten zu erstellen, sie können aber auch für gute Zwecke eingesetzt werden", steht weiter in der Präsentation.

Das miterlebte Leiden soll bei den Besuchern eine emotionale Spur und reinigende kathartische Wirkung hinterlassen, so die Folie. Um eine stärkere Identifikation mit den Opfern zu ermöglichen, sollten alle jüdischen Opfer des Massakers, ihre Adressen und Lebensumstände in einer Datenbank erfasst werden.

"Holocaust-Disney"

Chrschanowski bestätigte die Echtheit der Daten, wies allerdings darauf hin, dass dies eine ein halbes Jahr ältere Version sei. Nach Angaben der BBC wurde die Präsentation noch vor der offiziellen Ernennung des Regisseurs zum künstlerischen Leiter des Projekts erarbeitet. Damit war sie eines der Argumente für seine Einstellung.

Die Publikation wurde von weiteren Skandalen begleitet, so etwa dem Ausstieg mehrerer leitender Mitarbeiter aus dem Projekt. So wies der holländische Historiker Karel Berkhoff darauf hin, dass das aktuelle Projekt Standards für Museen totalitärer Regime und die Würde der Opfer der Tragödie verletze. "Es ist ein Ort der Erinnerung und Respektes und nicht des Spiels", sagte er in einem Interview. In einem offenen Brief an die Mitglieder des Aufsichtsrates des Gedenkkomplexes "Babi Jar" schrieb Berkhoff (der englische Text ist hier abrufbar):

Mit den in der Präsentation dargestellten Ideen wird die Hauptausstellung zu einer Art "Holocaust-Disney" verkommen und nicht zu einem Ort der Erinnerung und Reflexion der unglaublichen Tragödie werden, die sich in Babi Jar und in Osteuropa ereignet hat.

"Ich habe verstanden, dass das Projekt seinen Vektor ändert. Ich orientiere mich aber an Museumskomplexen wie Yad Vashem", sagte die ehemalige Exekutivdirektorin Jana Barinowa.

In einer vor Kurzem veröffentlichten Stellungnahme äußerte der Wissenschaftliche Rat des Gedenkzentrums "Besorgnis" über die Publikation des neuen künstlerischen Konzepts. Die Leitung des Gedenkzentrums habe zugesichert, dass das künstlerische Projekt einer Analyse und Qualitätsprüfung durch den Aufsichtsrat und unabhängige Experten unterzogen wird.

Der Aufsichtsrat, der Anfang Mai tagte, schlug der Regierung in einer Stellungnahme vor, in das Gremium einen Vertreter zu entsenden. Über die Person Chrschanowski werde Ende des Jahres entschieden. Die erste offizielle Präsentation des Projekts findet am 15. Juni statt.

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"Trojanisches Pferd"

Inzwischen tobt ein Medienkrieg um das Projekt. Obwohl Chrschanowski in den letzten 15 Jahren hauptsächlich in der Ukraine und London lebte und typische kremlkritische Ansichten eines liberalen Intellektuellen pflegt, wird er nun in vielen ukrainischen Medien als "Putins Agent" angegriffen. So schrieb die Ukrainskaja Prawda unter Verweis auf einen jüdisch-ukrainischen Menschenrechtler und ehemaligen Sowjet-Dissidenten, das Projekt Babi Jar sei ein "Trojanisches Pferd", das Putin der Ukraine schenke. In einem Appell an die Regierung fordern zahlreiche Wissenschaftler und Kunstschaffende, "die Kontrolle über das Projekt zu übernehmen und Manipulationen von außen zu vermeiden".

Damit deuten die Kritiker auf den Einfluss der russischen Oligarchen Michail Fridman und German Chan, die bereits 2016 Millionen von Dollar in das Großprojekt Babi Jar investierten. Beide sind auch Mitglieder des Aufsichtsrates. Fridmann soll auch Chrschanowski in das Projekt geholt haben. Der Milliardär und Gründer der "Alfa Group" wohnt in London und gilt als spendabler Philanthrop, unter anderem für ein Jazz-Festival in Lwow, wo seine Eltern immer noch wohnen. Auch Chan stammt aus der Ukraine, in Babi Jar sind 14 Mitglieder seiner Familie gestorben. Die jüdische Mutter Chrschranowskis ist dem Holocaust knapp entkommen, als sie kurz vor dem Eintreffen der Nazi-Truppen aus dem ukrainischen Winniza ins Hinterland evakuiert wurde. In seinen zahlreichen Interviews verweist der Regisseur gerne auf seine ukrainischen Wurzeln und vergleicht die Kampagne gegen ihn mit der Beilis-Affäre – einem Justizskandal im Zarenreich um einen Kiewer Juden namens Menachem Beilis wegen eines angeblichen Ritualmordes.

Holocaust statt Sieg?

Bis zu ein Viertel aller sechs Millionen Opfer des Holocaust waren Juden aus der Sowjetukraine. In der Ukraine gibt es kein Holocaust-Museum im Stile von Yad Vashem in Jerusalem. Der ukrainische Historiker Jan Gritzak bezeichnete das flächendeckende Holocaust-Gedenken als "Freifahrtschein in die europäische Zivilisation".

Die ukrainische Kulturwissenschaftlerin und Dichterin Jewgenia Biltschenko, die RT dazu befragte, sieht das kritisch. Denn ob mit oder ohne Chrischanowski, das Kiewer Gedenkzentrum "Babi Jar" folgt dem globalen Trend der "Aussöhnung" mit Nazismus. Seit mehreren Jahren darf der Krieg gegen Nazi-Deutschland in der Ukraine nicht mehr "vaterländisch" heißen. Die Feierlichkeiten wurden vom traditionellen Tag des Sieges am 9. Mai auf den 8. Mai verlegt. Dieser Tag gilt nun als "Tag der Erinnerung und Aussöhnung".

Ich schätze, der Holocaust hat die amerikanische Welt in eine globale Stilikone verwandelt. Das ist ein zynisches Spiel mit dem Genozid am jüdischen Volk. Dieses Spiel wird vom transnationalen Kapital veranstaltet mit dem Zweck die Erinnerung an den Sieg zu vermindern und sie in die Erinnerung des Traumas zu verwandeln.

In Hinblick auf das aktuelle Ausstellungskonzept des Museums sagte sie:

Der Kult des universellen Opfers setzt das Opfer mit dem Henker gleich und legitimiert in der Gesellschaft die Figur des antisemitischen Nazi-Henkers, die spielerische Herangehensweise an den das Böse "furchtlos", "unterhaltsam" macht.

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Massaker in Babi Jar

Die jüdischen Einwohner wurden von der Besatzungsmacht aufgefordert, am 29. September 1941 um 8 Uhr mit Dokumenten, Wertsachen und warmer Kleidung an einer Straßenecke zu erscheinen. Bei Zuwiderhandlungen wurde Erschießung angedroht. Überall in der Stadt wurden insgesamt 2.000 Flugblätter mit diesem Inhalt verteilt.

Menschen, die an diesem Tag gekommen waren – fast ausschließlich Frauen, Kinder und Ältere –, wurden in Konvois an den Stadtrand zu den Schluchten von Babi Jar geführt, dort ausgezogen und in Gruppen von je 30 bis 40 Menschen am Rande der Schlucht mit einem Maschinengewehr erschossen. Das Massaker dauerte zwei Tage, über 33.000 Menschen starben.

In den folgenden zwei Jahren nutzten die Besatzer den Ort als Erschießungsstelle für Juden, sowjetische Kriegsgefangene und Roma. Die Zahl der Menschen, die dort erschossen wurden, wird auf mindestens 100.000 geschätzt. Um die Spuren des Verbrechens zu verwischen, wurden die Gräber vor dem Rückzug der Nazi-Truppen im Herbst 1943 ausgehoben, Zehntausende Leichen verbrannt, ihre Knochen zermalmt und die Asche in der Luft verstreut. Häftlinge, die diese Arbeit im Angesicht von Gewehrläufen ausgeführt hatten, sollten nach dem Ende der Aktion erschossen werden. 29 von ihnen konnten flüchten und traten als Zeugen in den Nürnberger Prozessen auf.

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