Europa

Maritim statt kontinental: Die historischen Hintergründe zum Austritt Großbritanniens aus der EU

Ab Samstag ist Großbritannien kein Mitglied der EU mehr. Der Brexit dürfte eine Hinwendung des Landes zu Asien markieren, weg vom kontinentalen Europa. Dass die Zukunft des Vereinigten Königreichs als maritime Macht nicht in Europa liege, ist keine neue Denkweise.
Maritim statt kontinental: Die historischen Hintergründe zum Austritt Großbritanniens aus der EUQuelle: Reuters © Ints Kalnins/Reuters

von Arkadi Shtaev

In seinem 1847 erschienenen Roman "Tancred" propagierte einer der einflussreichsten britischen Politiker seiner Zeit, Benjamin Disreali, die Idee, dass die Königin von England nach Indien umziehen sollte.

Disraeli brachte mit dieser Idee ein Lebensgefühl zum Ausdruck, welches von einem Großteil der britischen Bevölkerung geteilt wurde, vor allem aber vom Adel und der Oberschicht. Das Gefühl, dass das britische Mutterland, die Insel, aufgrund der gewaltigen geografischen Ausdehnung des Weltreiches, über Kontinente und maritime Weiten hinweg, kein Bestandteil Europas mehr war und auch nicht mehr mit dessen Schicksal verbunden sei. Eher glich dieses Gebiet, indem die Sonne nicht mehr unterging, einem Schiff, welches den Anker lichten und in einem Erdteil vor Anker gehen kann.  

In Disrealis Roman heißt es diesbezüglich:

Die Königin soll eine große Flotte sammeln und mit ihrem ganzen Hof und der ganzen führenden Schicht ausziehen und den Sitz ihres Reiches von London nach Delhi verlegen. Dort wird sie ein ungeheures, fertiges Reich finden, eine erstklassige Armee und große Einkünfte.

Als einer der führenden britischen Politiker, der zweimal sogar das Amt des Premierministers ausübte, definierte Disraeli das britische Weltreich öffentlich eher als eine asiatische Macht als eine europäische. Vor allem bezog sich der Politiker dabei, zu einer Zeit, als britische Seeleute ihren Finger in den Ozean tauchten, flankiert von der Aussage "Tastes salty – must be British", ("Schmeckt salzig, muss also britisch sein"), auf die Herrschaft Londons über den indischen Subkontinent.

Königin von England – Kaiserin von Indien

Im Jahr 1876 erweiterte Disraeli den Titel der Königin von England um den Begriff Kaiserin von Indien, von diesem Zeitpunkt an der offizielle Titel Ihrer Majestät Viktoria, die auch ihrer Epoche ihren Namen verlieh. 

Der amerikanische Admiral Mahan hingegen warb einige Jahrzehnte später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, für eine Wiedervereinigung der USA mit der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien, natürlich aber unter der Schirmherrschaft Washingtons. Mahan wurde dabei von der Vorstellung getrieben, dass die Herrschaft der Angelsachsen über die Weltmeere auf lange Zeit gesichert werden sollte, zumindest bis Mitte des 20. Jahrhunderts hinein.

Während ein amerikanischer Admiral den Auszug des Vereinigten Königreiches nach Amerika für wünschenswert hielt, engagierte sich Disraeli für die Verlagerung nach Asien. Europa kam in diesen geopolitischen Planspielen überhaupt nicht vor. Betrachtet man die Planspiele, welche die Regierung in London dieser Tage für die Zeit nach dem EU-Austritt skizziert, so wird deutlich, dass man in Großbritannien immer noch auf die beiden Pole, die historischen Vorstellungen der Vergangenheit, ausgerichtet zu sein scheint. 

Zum einen werden die "special relations" des UK mit den USA beschworen. Doch schon  droht Ungemach aus Washington aufgrund Londons begehrlichen Blick in Richtung Asien. Als erstes europäisches Land hat sich Großbritannien 2015 an der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank beteiligt. Neben Hongkong ist London zum zweitwichtigsten Handelsplatz für die chinesische Währung Renminbi avanciert. Auf über 78 Milliarden britische Pfund ist das tägliche Handelsvolumen des Renminbi im ersten Quartal 2019 gestiegen – ein Sprung von über 30 Prozent zum Vorjahr.

Diese Entwicklung ist Washington ein Dorn im Auge. Noch mehr könnten die "speziellen" Beziehungen zwischen den beiden Staaten aber zukünftig dadurch belastet werden, dass Großbritannien, trotz aller Repressalien aus den USA, eng mit dem chinesischen Telekommunikationskonzern Huawei kooperiert. In den vergangenen Jahren investierte der chinesische Konzern über zwei Milliarden Pfund in Großbritannien, mit steigender Tendenz. Bisher scheint nichts darauf zu schließen, dass man in London dem Druck Washingtons nachzugeben gedenkt.

Mit stiller Wut vernahm man an der amerikanischen Ostküste, dass London inzwischen sogar dazu aufruft beziehungsweise Appelle an chinesische Unternehmen richtet, New York City zu meiden, um lieber in London an die Börse zu gehen.

Maritime Macht mit globalem Anspruch

Wie zu Zeiten von Disreali pflegt man in Großbritannien das historische Selbstverständnis des Landes als maritime Macht, flankiert von einem globalen Anspruch. Selbstverständlich stammen die Thesen von Mahan und Disraeli schon aus einer fernen Historie, das Empire existiert nicht mehr, ist auf ein paar Fetzen geschrumpft, verstreut in Form von entlegenen Inseln auf allen Weltmeeren. Es ist aber doch auffällig, dass von den Befürwortern des Austritts aus der EU die "Rückkehr zu den Meeren" statt der "Hinwendung zum Kontinent" verkündet wurde.

In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die Befürworter eines Brexit, bei aller ideologischen und parteipolitischen Heterogenität, zumindest unterbewusst, häufig auch demonstrativ, die Sehnsucht nach dieser Zeit propagieren: "when Britannia ruled the waves", als "Britannien die Wellen beherrschte". Dass diese Epoche aber nicht mehr existiert, schon längst im Nebel der Geschichte untergegangen ist, dass es sich dabei um eine von Nostalgie getragene Utopie handelt, könnte Großbritannien mit manchen Risiken konfrontieren, ja mit einer tristen Realität, denn imperiale Vorstellungen sind ohne Imperium nur schwer zu verwirklichen, besonders zu einer Zeit, wo andere Imperien aufsteigen oder schon aufgestiegen sind.

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