Causa Skripal: Die lange Geschichte der Geheimhaltungen um den Kampfstoff "Nowitschok"
In seiner Titelgeschichte vom 17. März 2018 berichtet der Spiegel von Unstimmigkeiten in der Sondersitzung des NATO-Rats zum Vorfall in Salisbury. Es geht demnach um die Nennung des Namens des Nervenkampfstoffs "Nowitschok" in der abschließenden Presseerklärung.
Für Irritationen sorgten dabei die USA. Sie weigerten sich, den Namen des Gifts – "Nowitschok" – in dem Kommuniqué zu erwähnen. Die Sitzung des NATO-Rats musste wegen des amerikanischen Einspruchs sogar unterbrochen werden. Am Ende gaben die Amerikaner klein bei, die Gründe für ihr Zögern blieben unklar. (Der Spiegel)
Einen Hinweis auf mögliche Gründe für dieses Zögern rund um die öffentliche Erwähnung dieser Klasse chemischer Kampfstoffe liefert drei Wochen später erneut der Spiegel in seiner Ausgabe vom 7. April. In einem Interview zu den Hintergründen des Anschlages von Salisbury erklärt der Chemiewaffenexperte und ehemalige Mitarbeiter der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), Ralf Trapp:
Nach der Jahrtausendwende ist darüber diskutiert worden, auch für diese Stoffe eine Meldepflicht einzuführen. Doch die Meldelisten der Chemiewaffenkonvention sind öffentlich. Und eine Reihe von Staaten fürchtete, der Weiterverbreitung Vorschub zu leisten, wenn Beispiele für diese neue Generation von Nervenkampfstoffen bekannt würden. (Der Spiegel)
Auf Nachfrage von RT Deutsch rekapitulierte Ralf Trapp weitere Details zu den Vorgängen in der OPCW zwischen den Jahren 2000 und 2003. Zum einen erinnerte Trapp an die gezielte "Kampagne" der USA im Vorfeld des Irakkrieges von 2003 gegen den seinerzeitigen OPCW-Generaldirektor Jose Bustani. John Bolton, frisch ernannter Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, hatte als damaliger UNO-Botschafter der USA Bustani unmissverständlich zum Rücktritt aufgefordert.
Bustani weigerte sich zurückzutreten und berief sich auf die Unabhängigkeit der OPCW, wurde allerdings kurz darauf, am 21. April 2002, in einer OPCW-Sondersitzung von seinem Chefposten abberufen. Die Arbeit der OPCW im Irak war erfolgreich – laut Bustani zu erfolgreich für die USA. Denn die OPCW stand kurz vor einer Einigung mit dem Irak (und mit Libyen) bezüglich eines Beitritts zur Chemiewaffenkonvention. Dies hätte die Pflicht zur Offenlegung aller etwaigen Chemiewaffenbestände bedeutet. Ein solcher Erfolg der OPCW drohte die von den USA beharrlich aufgebaute und nachweislich erlogene Horrorgeschichte von Saddams Massenvernichtungswaffen als vorgeschobenen Anlass für den bereits geplanten Irakkrieg zu zerstören.
Zudem schilderte Trapp seine Eindrücke der damaligen informellen Gespräche "auf den Gängen" der OPCW. Demnach gehörten insbesondere die Vertreter der USA, Frankreichs und auch Russlands zu der im Spiegel-Interview erwähnten Reihe von Staaten, die sich gegen die Meldepflicht für die neue Generation von Kampfstoffen des Typs "Nowitschok" aussprachen, mit dem Argument, deren Proliferation zu unterbinden. Trapp zufolge erreichten diese informellen Absprachen jedoch zu keiner Zeit die formelle Ebene.
Die Chemiewaffenkonvention von 1993
Die Ausnahme von der Meldepflicht für "Nowitschok" hat allerdings eine interessante Vorgeschichte – und Tradition. Im Jahr 1993 unterzeichneten 165 Staaten die Chemiewaffenkonvention der Vereinten Nationen, die 1997 in Kraft trat. Trapps Schilderungen der Vorgänge auf den Fluren der OPCW nach der Jahrtausendwende rund um die Meldelisten für chemische Kampfstoffe decken sich mit einem detaillierten aktuellen Bericht des niederländischen Handelsblad zu "Nowitschok".
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Einleitend verweist der Handelsblad-Bericht darauf, wie schwierig es ist, an verlässliche Informationen zu "Nowitschok" zu gelangen, bis heute, und zwar nicht nur in Russland, sondern auch im Westen. Viele der verfügbaren Daten seien derart irreführend, dass sich der Eindruck aufdränge, als handele es sich dabei um absichtlich verbreitete Fehlinformationen, so das Handelsblad.
Als gesichert gilt, dass Anfang der 1990er Jahre, kurz vor der Unterzeichnung der Chemiewaffenkonvention im Januar 1993, die internationale Öffentlichkeit durch die beiden ehemaligen Wissenschaftler und Mitarbeiter im Chemiewaffenprogramm der Sowjetunion, Lew Fedorow und Wil Mirsajanow, von der Existenz einer neuen, in der Sowjetunion entwickelten Klasse von chemischen Kampfstoffen erfuhr.
Nach Aussage des Chemiewaffenexperten Trapp versuchte die Sowjetunion speziell seit den 1980er Jahren ihren technologischen Rückstand in der Entwicklung chemischer Waffensysteme gegenüber den USA aufzuholen. Im Rahmen des Projekts "Foliant" entdeckte und entwickelte die Sowjetunion dabei eine neuartige Klasse von Nervenkampfstoffen, eben jene, die später unter dem Namen "Nowitschok" (Neuling) bekannt werden sollten. Die Sowjets selbst benutzten diesen Namen allerdings nie, erklärt Wladimir Uglew, einer der Entwickler dieser Kampfstoffe, in einem ausführlichen Interview zu "Nowitschok". Laut Uglew galten diese Foliant-Kampfstoffe als Alternative zu der sowjetischen Version des US-amerikanischen Nervenkampfstoffes VX.
Uglew verweist auf die Brisanz, die das Bekanntwerden der Entwicklung dieser neuartigen chemischen Kampfstoffe in den 1990er Jahren umgab. Denn bereits damals, just im Vorfeld und unmittelbar nach der Unterzeichnung der UNO-Chemiewaffenkonvention, kam es nicht zu einer Aufnahme dieser neuen "Nowitschok"-Kampfstoffe in die Liste der verbotenen Chemiewaffen. Insbesondere der Westen versuchte seinerzeit Informationen zu "Nowitschok" zu verbergen:
Um die Chemiewaffenkonvention zu retten, entschied sich der Westen dazu, die Existenz der Nowitschoks zu ignorieren, sogar zu verneinen. Dem Reporter, der 1992 bei TNO [dem für Chemiewaffen zuständigen staatlichen Institut der Niederlande] anrief, sagte man, dass Berichte über Nowitschoks Unsinn wären. (Handelsblad)
Kurzum, um die Chemiewaffenkonvention zu retten, verstieß der Westen aufs Gröbste gegen eben diese Chemiewaffenkonvention, sowohl unmittelbar vor der Unterzeichnung der Konvention als auch danach. Denn alle der Chemiewaffenkonvention unterworfenen Staaten verpflichten sich bindend, relevante Chemikalien zu melden. Zur Rolle Russlands in diesem Zusammenhang erinnert Uglew daran, dass weder die Sowjetunion noch Russland diese Kampfstoffe jemals tatsächlich produziert hatte. Die vollständige Abwicklung des russischen Chemiewaffenprogramms bestätigte die OPCW im Oktober 2017. Wohingegen die USA weiterhin im Verzug mit der Zerstörung ihres kompletten Chemiewaffenarsenals sind.
Der damalige kreative Umgang der westlichen Staaten mit dem Völkerrecht hat sich in der Folge allerdings in noch gröberer Form wiederholt – indem der Westen mit der Behauptung der Durchsetzung des Völkerrechts nicht einmal davor zurückschreckt, genau dieses Völkerrecht durch völkerrechtswidrige Kriegshandlungen zu verletzen, so geschehen bei den Kriegen gegen Jugoslawien 1999, dem Irak 2003, Libyen 2011 und den aktuellen Bombardements in Syrien.
Von Hillary Clinton 2009 bis Boris Johnson heute
Dass die Offenlegung der Existenz von "Nowitschok" auch in weiterer Folge nicht im Interesse der USA lag, brachte WikiLeaks 2009 im Rahmen des sogenannten Cablegate ans Licht. Aus zwei Leaks vom März und April 2009 gehen klare Anweisungen des US-Außenministeriums an seine Diplomaten hervor, wie mit Informationen zu "Nowitschok" umzugehen sei: ausweichen, vermeiden, unauffällig abwiegeln.
Erneut und freiwillig durchbrochen hat diese Geheimniskrämerei des Westens um "Nowitschok" der britische Außenminister Boris Johnson in einem Interview mit der Deutschen Welle zum Fall Skripal:
DW: Sie behaupten, dass die Quelle dieses Nervengases, Nowitschok, Russland ist. Wie haben Sie es so schnell herausgefunden? Besitzt Großbritannien Proben davon?
Boris Johnson: Lassen Sie mich das klarstellen. [...] Wenn ich mir die Beweise ansehe, meine ich die Leute von Porton Down, das Labor [...].
DW: Sie haben also die Proben...
Boris Johnson: Das tun sie. Und sie waren absolut kategorisch und ich fragte ihn selbst: "Bist du sicher?" Und er sagte, es gibt keinen Zweifel.
Den Chemiewaffenexperten Trapp wundert Johnsons Eingeständnis keineswegs. Denn, so Trapp, militärische Einrichtungen der biologischen und chemischen Kriegsführung und Gefahrenabwehr, wie das britische Porton Down, haben unter anderem genau die Aufgabe, die Entwicklungen aller Arten von chemischen Kampfstoffen nachzuvollziehen, im Klartext: solche Kampfstoffe "nachzubauen". Trapp ist sich daher "sicher", dass Porton Down – und damit der Westen – selbst über "Nowitschok" verfügt. Selbst der in transatlantischen Kreisen bestens vernetzte und hochaktive britische Chemiewaffenexperte Hamish De Bretton-Gordon bestätigt Trapps Einschätzung in einem aktuellen Artikel für The Sun:
Es gibt nur drei Orte, an denen Nowitschok hergestellt werden könnte – Porton Down, das amerikanische Edgewood Chemical Biological Center und Schichany in Russland.
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Hätte Porton Down kein solch umfassendes Archiv von Proben chemischer Kampfstoffe, würde ausgerechnet dieses Zentrum der britischen Chemie- und Biowaffenforschung seinen genuinen Auftrag nicht erfüllen. Und die von den Briten behauptete umgehende Identifizierung der für die Vergiftung der Skripals verantwortlichen Substanz als "Nowitschok" durch die Experten von Porton Down wäre schlichtweg unmöglich gewesen, da eine solche Identifizierung standardmäßig über den Abgleich der fraglichen Substanz mit archivierten Probenmustern bereits bekannter Substanzen erfolgt.
Ein weiteres Detail in dieser langen "Nowitschok"-Geschichte hat der ständige Vertreter Russlands bei der OPCW, Alexander Schulgin, in der Sitzung des Exekutivrats der Organisation am 18. April 2018 präsentiert. Laut Schulgin ließen die USA Giftstoffe des Typs "Nowitschok" als chemische Waffe patentieren:
Und das war nicht vor langer Zeit, sondern vor einigen Jahren – das Patent stammt vom 1. Dezember 2015.
Die Causa Skripal ist somit Teil eines sehr viel älteren und größeren Falls – der Causa "Nowitschok".
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