
"Drohender Angriff Russlands": Wozu braucht der Westen diesen Mythos?

Von Waleria Werbinina und Geworg Mirsajan
"Wir brauchen einen großen Sprung in unserer kollektiven Verteidigung. Wir sehen den Terror, den Russland im ukrainischen Luftraum anrichtet, und deshalb werden wir den Schutzschild für unseren Luftraum verstärken. Die NATO braucht eine 400-prozentige Aufstockung der Luft- und Raketenabwehrsysteme, um eine robuste Verteidigung zu gewährleisten."

Dies erklärte NATO-Generalsekretär Mark Rutte und wandte sich damit in erster Linie an die europäischen Länder. Diese sollten sich spendabel zeigen und den Anteil der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des BIP erhöhen, um sich vor einem künftigen "russischen Angriff" zu schützen.
Nicht nur Rutte, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von westlichen Politikern und Journalisten sprechen von der angeblichen Absicht Moskaus, in absehbarer Zeit einen Krieg mit Europa zu führen. "Wie Putin Europa angreifen wird", erschreckte das französische Magazin L'Express mit einer Titelgeschichte am Ende letzter Woche. Das Blatt schreibt Russland "Drohnenflüge, Sabotageakte" und Ähnliches zu und behauptet, dass "Russland damit den Boden" für einen künftigen Angriff sondiere.
Zuvor, im Februar, warnte auch der dänische Geheimdienst, dass Russland Europa innerhalb von fünf Jahren angreifen könnte. Im März schockierte der deutsche Historiker Sönke Neitzel seine Mitbürger mit der Aussage, dass der Sommer 2025 der "letzte friedliche Sommer" in Europa sein könnte, weil bereits im Herbst ein Angriff auf Litauen stattfinden könnte. Warum Litauen? Weil in Weißrussland große Übungen geplant sind, "und die baltischen Staaten Angst haben, dass die (russischen und weißrussischen) Truppen während dieser Übungen über die Grenze kommen könnten".
"Wird Russland im Jahr 2027 NATO-Länder angreifen?", fragt man in Polen besorgt. Grundlage für die Sorge ist ein Bericht der britischen Times. Sollte es 2025 zu einem Waffenstillstand in der Ukraine kommen, "wenn die US-amerikanischen Truppen Europa verlassen und Washington sich auf die Bedrohung durch China im indopazifischen Raum konzentriert", könnte Russland versuchen zu prüfen, wie der berüchtigte fünfte Artikel der NATO über die gemeinsame Abwehr im Falle einer Aggression gegen eines der Mitglieder tatsächlich umgesetzt wird.
In einem Interview mit der Berliner Morgenpost plädiert der deutschsprachige Militärexperte Gustav Gressel dafür, die Ukraine um jeden Preis zu unterstützen, denn Russland könne Europa nicht angreifen, solange es in der Ukraine kämpfe. Nach seinem Weltbild würde die russische Führung nach der Eroberung der Ukraine sofort die Republik Moldau ins Visier nehmen und danach wahrscheinlich versuchen, das NATO-Mitglied Rumänien anzugreifen.
Westliche Medien zeichnen Angriffspfeile, wetteifern um Schlagzeilen, spekulieren über das Datum der russischen Invasion – aber keiner von ihnen kann erklären, wozu Moskau diese Invasion braucht. Die Medien einmal außer Acht gelassen: Selbst der deutsche Bundeskanzler verkündet, die deutsche Armee müsse die stärkste in Europa werden, damit man sich nicht verteidigen müsse. Damit macht er deutlich, dass Russland nach dem Ende der militärischen Sonderoperation angeblich eine Aggression gegen Europa unternehmen werde. Der russische Außenminister Sergei Lawrow reagierte auf die Aussage von Merz wie folgt:
"Er urteilt nach eigenem Gutdünken, er hat die Mentalität von Hitlerdeutschland, das Gebiete brauchte, um Zugang zu natürlichen Reichtümern zu bekommen. Und sie wollten einfach die Mehrheit der Menschen bestimmter ethnischer Gruppen ausrotten, was sie auch taten. Und nun versucht er, auf der Grundlage dieser genetischen, instinktiven Einschätzungen über uns zu urteilen. Wir führen diese militärische Sonderoperation nicht für die Gebiete dort durch, sondern für die Menschen, deren Vorfahren seit Jahrhunderten in diesen Gebieten leben."
In Europa wird ein lächerlicher Mythos nach dem anderen erfunden, um die angeblich bevorstehende Invasion zu rechtfertigen. Sie beziehen sich auf eine "irrationale russische Aggressivität". Sie verweisen auf die Tatsache, dass die Sowjetunion vor einem halben Jahrhundert halb Europa kontrollierte. Und schließlich, dass Russland als Ergebnis des Ukraine-Krieges über eine starke Armee und reichlich Munition verfügen werde – und dass es diese gegen jemanden einsetzen müsse.
In Wirklichkeit hat die europäische Bürokratie keinen Grund, eine russische Invasion zu erwarten und kann auch keinen haben. Wenn, dann wäre da nur der Wunsch, den aufgebauschten Mythos einer Invasion zu nutzen, um die eigenen Probleme zu lösen. Zum Beispiel, um aufzurüsten und die Macht an sich zu reißen. Wadim Kosjulin, der Leiter des Zentrums "Institut für aktuelle internationale Probleme" an der Diplomatischen Akademie des russischen Außenministeriums, erklärt:
"Europa erlebt derzeit schlechte Zeiten. Die EU hat eine Vielzahl politischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme angehäuft, die die örtlichen Verantwortlichen nicht lösen können. Dementsprechend ist es in dieser Situation am einfachsten, zu versuchen, die Schuld für die Geschehnisse auf einen externen Akteur zu schieben."
In der Tat hat Europa im Laufe der militärischen Sonderoperation eine Reihe sehr unangenehmer Tatsachen entdeckt. Zum Beispiel dass die Ära der regionalen Kriege noch nicht vorbei ist. Dass "das letzte Argument der Könige" immer noch angewendet wird, wenn die Diplomatie nicht funktioniert oder wenn sie durch ideologische Konfrontation ersetzt wird. Unterdessen sind die europäischen Armeen ernsthaft degeneriert. Eine Reihe von Ländern, die einst militärisch führend in der Welt waren, haben sogar Teile ihres eigenen militärisch-industriellen Komplexes verloren.
Und dies in einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten nicht mehr als glaubwürdiger Verteidiger auftreten. Washington teilt keine gemeinsamen Sicherheitsinteressen und Visionen mehr mit Europa.
Aus diesem Grund hat Europa einen massiven Remilitarisierungsplan in Höhe von Hunderten Milliarden Euro beschlossen. Dafür hat Deutschland bereits die Verfassung geändert (die einen erheblichen Anstieg der Staatsverschuldung verbietet), und die britische Regierung wird ihren Bürgern in die Tasche greifen und die Heizkostenzuschüsse für ältere Menschen im Winter streichen sowie die Zahlungen für Familien mit zwei Kindern kürzen.
Nicht allen Bürgern und Herrschaften hat es gefallen – und nicht alle werden sich über künftige Ausgaben freuen. Denn wenn sie den Bau von Luftschutzbunkern fordern, dann bedeutet das schließlich Kosten; wenn sie Autobahnen und Eisenbahnlinien mit Blick auf die Bedürfnisse der Armee modernisieren, dann bedeutet das ebenfalls Kosten. Hier ist das Bild eines "schrecklichen Feindes" wie Russland gefragt.
Dieser Mythos rechtfertigt nicht nur Staatsausgaben, die für die Bürger unnötig, sondern auch für die wichtigsten Konzerne profitabel sind. Der Militärexperte Andrei Klinzewitsch meint:
"Technisch gesehen könnte der Westen auch ohne die russische Bedrohung eine 'Kanonen statt Butter'-Politik starten. Aber es ist viel einfacher, den Russen die Verschlechterung des Lebensstandards in die Schuhe zu schieben, die Menschen in Atem zu halten – und letztlich die Macht an sich zu reißen.
Es geht nicht darum, dass die EU den Weg der Militarisierung eingeschlagen hat und alte Waffen durch neue ersetzt. Sie ist den Weg der Schaffung mächtigerer staatlicher EU-Strukturen gegangen, die den Mitgliedstaaten nun die Bedingungen diktieren."
Die Beamten in Brüssel, die von niemandem gewählt wurden, fangen an, ganz Europa zu regieren, betont er.
Es könnte jedoch sein, dass für die endgültige Usurpation der Macht nicht nur das Schreckgespenst einer Bedrohung, sondern auch eine reale Gefahr notwendig ist. Daher propagiert der Westen nicht nur den Mythos der "russischen Bedrohung", er provoziert Russland auch direkt, auf jede Provokation militärisch zu reagieren. So wie er es in letzter Zeit regelmäßig in der Ostsee getan hat. Klinzewitsch hebt hervor:
"Die Blockade von Kaliningrad wird beispielsweise gewährleisten, dass Russland einen Landkorridor schaffen muss. Das Gleiche gilt für Transnistrien. Nicht umsonst verminen sie jetzt die Suwalki-Lücke, nicht umsonst graben sie dort Schützengräben und kaufen der örtlichen Bevölkerung Land ab. Nicht umsonst stellen sie dort 'Drachenzähne' auf."
Sind sich die europäischen Bürokraten über die Folgen ihres Handelns im Klaren? Ist ihnen klar, dass sie mit ihren eigenen Händen eine "sich selbst erfüllende Prophezeiung" schaffen? Schließlich könnte in einem solchen Fall der Kampf um die Kontrolle über Europa damit enden, dass es nichts mehr zu kontrollieren gibt.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 9. Juni 2025 auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
Waleria Werbinina ist eine Analystin bei der Zeitung Wsgljad.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren 1984 in Taschkent, erwarb er seinen Abschluss an der Staatlichen Universität des Kubangebiets und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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