Wutanfall in Kiew: Ein US-Film über "gute Russen" schlägt ukrainische Bewerber und gewinnt in Cannes
Anora, eine US-amerikanische Escortlady usbekischer Abstammung, spricht ein wenig Russisch – so bekommt sie Iwan, den Sohn eines russischen Oligarchen, als Kunden. Der charmante Millionärssohn verliebt sich in das reizende usbekisch-US-amerikanische Mädchen und heiratet sie. Gegen den Willen seiner einflussreichen Eltern. Diese schicken russische – ebenfalls charmante und charismatische – Gangster zu dem Sprössling, um ihn zur Vernunft zu bringen. Und dann: viel Liebe, ein Roadmovie, eine Menge russischer Schimpfworte und der Charme russischer und armenischer Schauspieler. Das ist, kurz gefasst, der Film "Anora" des US-Amerikaners Sean Baker, der gerade sensationell die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat.
Im Grunde ist alles an dieser Nachricht sensationell: Die Tatsache, dass ein Top-Regisseur aus Hollywood einen Film über Russen gedreht hat, die Tatsache, dass er russische Hauptdarsteller genommen hat, die aktiv in Russland drehen, die Tatsache, dass er einen "russischen Berater" hatte, und die Tatsache, dass der Film in das Programm des Filmfestivals von Cannes aufgenommen wurde, anstatt verhindert zu werden. Und natürlich die Tatsache, dass "Anora" den Hauptpreis des Festivals bekommen hat. Die Zeitung Iswestija schreibt:
"Der Film wurde bereits als die Geschichte eines modernen Aschenputtels à la rus bezeichnet, und Baker selbst gab zu, dass er seit etwa 15 Jahren davon träumte, einen Film über die russischsprachige Gemeinschaft in Brighton Beach und Coney Island zu drehen. Seiner Aussage nach hat die Filmcrew sorgfältig darauf geachtet, dass die Dialoge lebendig und mit lokalem Slang und Witzen gefüllt sind. Zu diesem Zweck gab es einen russischen Berater für das Projekt.
' Er ist wunderbar, er war unser Script Supervisor. Er übersetzte aus dem Englischen die Teile des Drehbuchs, die für unsere russischen und armenischen Schauspieler bestimmt waren. Ich hatte eine Menge Leute aus der Crew um mich herum, die mich auf dem Laufenden hielten, ob das Drehbuch funktionierte oder nicht. Und natürlich Schauspieler, für die Russisch und Armenisch die Muttersprachen sind. Ich habe ihnen vertraut. Sie verstanden, was ich brauchte, und halfen mir mit Russisch und Armenisch', sagte Baker."
Derartige Äußerungen eines US-amerikanischen Regisseurs – als ob wir heute nicht das Jahr 2024, sondern 2010 schreiben würden – sind ebenfalls eine Art Sensation. Geht das denn heute noch?
Wie sich herausgestellt hat – das geht, freilich. Denn das Publikum nimmt einen solchen Film nicht empört, sondern äußerst begeistert auf: Laut der Fachzeitschrift Variety wurde der Film mit siebeneinhalb Minuten Applaus belohnt, während Deadline deren zehn zählte. Vor der Pressekonferenz in Cannes machte der Regisseur aus seiner Freude keinen Hehl – der Streifen hat ausschließlich positive Kritiken erhalten. Und die russischen Schauspieler wurden von der Fachpresse gelobt: Der junge Mark Eidelstein, der Iwan spielt, wird begeistert als "der russische Timothée Chalamet" bezeichnet, während Juri Borissow (einer der Gangster), wie es scheint, bereits von der Weltpresse und dem Publikum verehrt und als "charmant, aber beängstigend schweigsam" beschrieben wird. Die Filmkritiker der Zeitung Iswestija sind überrascht:
"Ein vollwertiges Schauspielensemble aus Russland ist im Wettbewerb des wichtigsten Filmfestivals der Welt vertreten. Dabei hat keiner unseren Künstlern gesagt, dass sie sich ihrer Herkunft schämen sollen. Das Festival macht also deutlich, dass der kulturelle Dialog weitergeht, auch wenn seine Fragilität für alle Anwesenden ganz offensichtlich ist."
Und die Fragilität ist durchaus da. Immerhin sorgten die proukrainischen Aktivisten für eine regelrechte Hysterie wegen des Erfolgs von "Anora". Das ist verständlich – zwei Jahre lang hatten sie sich um die Abschaffung der russischen Kultur bemüht und, wie es schien, fast Erfolg gehabt, und nun dieser Affront.
Das liberale Radio Swoboda ist empört:
"Wie konnte es geschehen, dass Mark Eidelstein, Russlands modischster junger Künstler, vom roten Teppich des Moskauer Festivals zum roten Teppich von Cannes wechselte, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern?"
Besonders verärgert sind die ukrainischen Aktivisten jedoch darüber, dass "Anora" die Russen zwar als brutale Kerle zeigt, aber eben nicht als solche, wie sie die ukrainische und angelsächsische Propaganda seit mehr als zwei Jahren mühsam porträtiert: Sie sind in dem Film äußerst charmant und keineswegs jene Höllenbrut mit Hörnern, die ukrainische Babys vergewaltigt und armen ukrainischen Frauen die Kloschüsseln klaut.
Aber wirklich – darf man so was? Der politisch korrekte Film "Invasion" des Ukrainers Sergei Losniza, eine raue Geschichte über den heldenhaften Widerstand des ukrainischen Volkes gegen die bösen Landsleute der lustigen Oligarchen aus "Anora", ist bei dem Festival in Cannes leer ausgegangen. Und von Begeisterung des Publikums ist hier auch überhaupt keine Rede. Die Ukrainer sind gekränkt, klar. Aber irgendwie scheint es, dass sie sich an diesen Zustand langsam gewöhnen müssen. Denn Kunst, Liebe und absolute Werte, unabhängig von der politischen Konjunktur, siegen früher oder später. Das war schon immer so, sowohl in Filmmärchen als auch in Wirklichkeit.
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