Europa

Wie lange hält Russland noch aus? Putins Rede durch die deutsche Brille

Die Jahresbotschaft des russischen Präsidenten an die Föderationsversammlung wurde in simultaner Übersetzung in alle westlichen Sprachen im Live-Format übertragen. Auch diesmal war sie eine schwere Kost für Politkommentatoren, die Putins Rede schon im Vorspann mühsam "einordnen" mussten.
Wie lange hält Russland noch aus? Putins Rede durch die deutsche Brille© Screenshot WELT TV

Von Wladislaw Sankin

Die Botschaft des russischen Präsidenten, die er einmal im Jahr vor der Föderationsversammlung hält, ist nicht nur in Russland ein großes Ereignis. Auch im Westen verfolgt man sehr genau, was Wladimir Putin an diesem Tag verkündet. In Deutschland haben gleich mehrere Sender die Rede mit der deutschen Simultanübersetzung live übertragen. "So hört man dem Präsidenten eines isolierten Tankstellen-Landes zu", spotteten russische Telegram-Kanäle über so viel Aufmerksamkeit.

Doch unwidersprochen darf das Gesagte auch in den gediehenen Oasen der Meinungsfreiheit natürlich nicht bleiben. Vor, nach und während der Rede wurden Expertenmeinungen zwecks besserer "Einordnung" zwischengeschaltet. Worauf die Medien ihren Fokus gelegt haben, kann Aufschluss darüber geben, was den Westen in der aktuellen Lage Russlands gerade interessiert oder, besser gesagt, beunruhigt. 

Auf Phoenix, der seriösesten aller Quellen, die wir für unsere Analyse ausgewählt haben, traten ein Politikwissenschaftler und eine russischstämmige DW-Korrespondentin als Experten auf. Die Aufgabe des Moderators war offenbar, die Rede auch mal ins Lächerliche zu ziehen – mit ständigem Schmunzeln und Breschnew-Vergleichen. Mit einer Frage hat er auch ganz nebenbei Russland unterstellt, ein "totalitärer" Staat zu sein:

"Ist es eine Lüge, die in einem totalitären Regime normal ist?" 

Die Aufgabe der Experten bestand ganz offensichtlich darin, die guten Nachrichten und von Putin verkündete oder voraussichtliche Errungenschaften Russlands kleinzureden. Die in die Zukunft gerichteten Pläne über den sozialen Ausbau, Jugend- und Wohnungsprogramme, Familienförderung, industrielles Wachstum, Modernisierung der Infrastruktur, umweltfreundlicheres Wirtschaften, Verlängerung der Lebenserwartung und vieles mehr seien nur "Kleinkram". Unter diesem Begriff fasste die DW-Korrespondentin alle Themen, die Millionen russische Bürger betreffen, zusammen.

Schon im Vorfeld hat sie viel relativieren müssen. Das Wording entsprechend: "Qualitätsverlust bei den Waren" (keine deutsche Qualität wegen Sanktionen), "von Wohlstand ist keine Rede", "Überlebensstrategien (in der Bevölkerung) wieder wach", "keine Lust auf Kultur" und "viele wandern aus". Ein Thema, das im Fokus des gesamten Gesprächs blieb, war die Resilienz Russlands angesichts der westlichen Sanktionen und des länger anhaltenden Krieges in der Ukraine. Hier stellte die Journalistin allerdings treffend fest:

"Man hat sich in Russland auf einen langen Krieg eingestellt."

Auch der Politikwissenschaftler Heinemann-Grüder musste relativieren. Die Pläne Putins seien nur gewöhnliche Ankündigungspolitik – "er will China imitieren". China habe jedoch das Know-how kopiert, für Russland sei technologische Souveränität wegen der Sanktionen nicht zu erreichen. Der Experte beruhigt ein bisschen: Die Auswirkungen der Sanktionen seien durchaus spürbar. 

Auch eine mögliche Eröffnung der zweiten Front rund um Odessa war ein großes Thema. Phoenix hat dazu einen ganzen Bericht vorbereitet: In der zu Odessa direkt benachbarten abtrünnigen Provinz Moldawiens Transnistrien haben die prorussischen Separatisten bei einer Volksratsversammlung Russland um Hilfe gebeten. Nein, nicht um militärische und schon gar nicht um politische Anerkennung, sondern vorerst um wirtschaftliche. Vorerst, denn die Transnistrien-Frage ist nicht gelöst und die Blockade-Politik der prowestlichen Regierung Moldawiens könnte später zu einem günstigeren Zeitpunkt für Russland und seine "Vasallen" (so drückt sich der Phoenix-Moderator aus) der Anlass sein, weitere Schritte zur Wiedervereinigung zu unternehmen. In Transnistrien leben 220.000 russische Staatsbürger.  

Eine andere unschöne Nachricht teilt die DW-Korrespondentin Boutsko mit: Von der Entstehung eines Widerstands gegen Putin und seine Kriegspolitik könne noch keine Rede sein. Die Tatsache, dass Putin gewöhnlich bei Treffen auf sich warten lässt, kam Phoenix gut gelegen. Nur wenige Minuten vor dem Erscheinen Putins konnte die Sendung einen Bericht mit Ausschnitten aus der Rede von Julia Nawalnaja vor dem Europaparlament kurz einblenden. Da durften die Zuschauer unmittelbar in den Genuss der direkten Rede kommen:

"Europa muss kreativer und entschlossener gegen Putin vorgehen. Große Worte und Sanktionen alleine werden nichts bewirken. Wir haben es nicht mit irgendeinem Politiker zu tun, sondern mit einem blutrünstigen Monster, Putin ist der Anführer einer organisierten kriminellen Bande." 

Die "Einordnung" von Phoenix dazu: "Alexeis Kampf geht weiter, ihre Botschaft ist klar: Europa muss Stärke zeigen." Nun endlich darf auch Putin in Person über den Bildschirm flimmern. 

Jetzt wird kurz die Welt zugeschaltet. Hier ist die "Drohung" Putins mit einem Atomkrieg die wichtigste Nachricht. Und nicht nur bei der Welt. Auch andere westliche Medien machten die "Drohung" mit dem Einsatz von Atomwaffen, falls NATO-Truppen in die Ukraine entsandt würden, zum Hauptthema der Nachrichten über Putins Botschaft. 

Man fragt sich nur, ob irgendjemand im Westen tatsächlich hoffte, "Russland eine strategische Niederlage zufügen zu können", ohne dass es zu einem Atomkonflikt kommt? 

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