Wie Russland andere Länder dazu zwang, seine Grenzen anzuerkennen
Von Michail Diunow
Zar oder nicht Zar?
Der erste dieser Fälle ist der von Iwan III., dem Großfürsten von Moskau, der im fünfzehnten Jahrhundert zum Schöpfer des russischen nationalen Zentralstaates wurde. Nachdem Iwan III. den Nordosten Russlands geeint hatte, nahm er den Titel des Herrschers von ganz Russland an und beanspruchte damit die legitime Autorität in allen Ländern, die zuvor Teil des altrussischen Staates waren und von der Rurikowitsch-Dynastie regiert wurden. Natürlich hat dieser Schritt eine scharfe Ablehnung seitens des westlichen Nachbar Russlands hervorgerufen – des Großfürstentums Litauen, dessen Herrscher den Titel "Litauischer und russischer Großfürst" trugen und das ebenfalls das Erbe Rurikowitschs beanspruchte.
Die Situation wurde dadurch verschärft, dass viele russische Feudalherren sich auf die Seite Moskaus stellten und nicht im katholischen Litauen leben wollten, wo die alte religiöse Toleranz mit dem Erstarken der katholischen Kirche immer weiter ausgehöhlt und durch Privilegien für Katholiken und Unterdrückung orthodoxer Gläubiger ersetzt wurde.
Das Ergebnis war der Krieg von 1487 bis 1494, ein sehr merkwürdiger Konflikt, der ohne förmliche Kriegserklärung ausgetragen wurde, aber sehr heftig war. Die erste Hälfte des Krieges verlief für Russland erfolglos, doch dann wendete sich das Blatt und der litauische Großfürst Alexander Jagellon bat um Frieden. Als Ergebnis des Konflikts kehrten die Parteien hinter die Vorkriegsgrenzen zurück, aber der Friedensvertrag erkannte Litauen Iwan III. den Titel des Herrschers von ganz Russland zu. Gleichzeitig weigerte sich das mit Litauen verbündete Polen jedoch, den Titel Iwans III. anzuerkennen, und bezeichnete die Herrscher Russlands hartnäckig weiter als "Großfürsten von Moskau".
Das Heilige Römische Reich, das ein Bündnis mit Russland anstrebte, erkannte hingegen nicht nur den Titel Iwans III. und seines Sohnes Wassili III. an, sondern es erkannte auch den russischen Herrscher freiwillig als Kaiser, setzte ihn damit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gleich und akzeptierte zugleich die künftige Vereinigung ganz Russlands unter dem Zepter der Rurikowitschs.
Die nächste Phase des Konflikts ereignete sich unter Iwan IV., dem ersten Moskauer Herrscher, der offiziell den Zarentitel annahm. Dies war in seiner Bedeutung ein außergewöhnlicher Akt. In den slawischen Sprachen wurde der Titel "Zar" bis dahin nur im Zusammenhang mit den Kaisern von Byzanz verwendet (und wurde auch von den großen Herrschern der Serben und Bulgaren verwendet, die den gleichen Status wie Byzanz beanspruchten). Die Khane der Goldenen Horde wurden auch Zaren genannt, wenn sie als oberste Herrscher ihres Staates fungierten, zu dem auch das von den Mongolen eroberte Russland gehörte. Die Einführung des Titels "Zar der gesamten Rus" bedeutete, dass Russland von keinem anderen Land der Welt mehr abhängig war, ein vollständig souveräner Staat und darüber hinaus in gewissem Sinne Nachfolger und Erbe sowohl von Byzanz (als größte und mächtigste orthodoxe Macht) als auch der Goldenen Horde als neue, Eurasien beherrschende Großmacht.
Das heißt, nicht mehr Russland war den Tataren unterworfen, sondern die tatarischen Khanate wurden zum Objekt der russischen Eroberung. Unter Iwan IV. wurden die Khanate Kasan, Astrachan und Sibirien an Russland angegliedert; die Baschkiren baten darum, unter zaristische Schirmherrschaft gestellt zu werden; und die kasachische Horde, die später Teil des russischen Staates wurde, nahm diplomatische Beziehungen zu Russland auf.
So war es auch mit dem zaristischen Titel. Der Zarentitel wurde von Polen, dem damals mächtigsten Staat Osteuropas und Hauptrivalen Russlands, nie akzeptiert. Die Engländer, die sehr am Handel mit Russland interessiert waren, erklärten den Zarentitel sofort für gleichwertig mit dem Kaisertitel. In der an Iwan IV. gerichteten Charta von Königin Mary Tudor wurde er als "Kaiser von ganz Russland" bezeichnet; dasselbe galt für andere europäische Staaten, die ihm zumindest nicht feindlich gesinnt waren.
Das Ringen um die Großmacht führte zum langen, harten und blutigen Livländischen Krieg, dessen Ergebnis unter anderem die Anerkennung der neuen russischen Westgrenzen durch Polen und die Eingliederung des eroberten Baltikums sowie die Anerkennung des Zarentitels sein sollte. Die anfänglichen Kriegserfolge konnten jedoch nicht gefestigt werden, und Russland konnte einer längeren Konfrontation mit Polen-Litauen, Schweden, Dänemark und dem Krim-Khanat gleichzeitig einfach nicht standhalten. Also musste es einen Friedensvertrag schließen. Der Konflikt wurde so um fast einhundert Jahre verschoben.
Kleinrussland und Russland
Nach dem Kosaken-Aufstand unter der Führung von Hetman Bogdan Chmelnizki begann erneut der Kampf mit Polen um das Erbe Rurikowitschs. Der Aufstand begann als gewöhnlicher Kosaken-Aufstand gegen die Verletzung der Rechte der orthodoxen Bevölkerung in den russischen Gebieten, die unter polnischer Kontrolle standen. Doch sehr schnell entwickelte er sich zu einem nationalen Befreiungskrieg. 1648 fügten Chmelnizkis Truppen den Polen schwere Niederlagen zu, die den Konflikt vorübergehend zum Stillstand brachten. Im Jahr 1650 flammte er jedoch wieder auf, nachdem der polnische Sejm die Versammlung des gesamten Adels zur Niederschlagung des Aufstandes angekündigt hatte. Angesichts der Stärke der Streitkräfte des polnischen Staates hatten die Kosaken bereits Niederlagen einstecken müssen. Bogdan Chmelnizki bat Zar Alexei Michailowitsch, den Kosaken die russische Staatsbürgerschaft zu verleihen. In Moskau wurde ein Zemsky Sobor (Versammlung der ganzen russischen Standesgesellschaft – Anm. der Red.) abgehalten, der beschloss, die ukrainischen Gebiete in Russland einzugliedern, selbst wenn man dafür mit Polen kämpfen müsste. Im Jahr 1654 fand die sogenannte Perjaslawskaja Rada statt, auf der die Kosaken und die Bewohner Kleinrusslands dem russischen Zaren die Treue schworen. Polen weigerte sich, die neuen Grenzen Russlands anzuerkennen. Es begann der Russisch-Polnische Krieg von 1654 bis 1667.
Während dieses Konflikts hat sich die russische Armee als die überlegene Partei erwiesen. Die polnischen Kräfte wurden besiegt, und die russische Armee erreichte Wilna, Kowno, Grodno und Lublin. Der größte Teil des polnisch-litauischen Staates kam unter russische Kontrolle. Der Waffenstillstand von Andrussowo legte die Eingliederung der ukrainischen Gebiete links des Dnjepr-Ufers nach Russland fest, ebenso wie den Titel des Zaren als russischer Herrscher. Doch die Polen weigerten sich erneut, einen solchen Frieden anzuerkennen, den sie als Demütigung empfanden. Zwischen den beiden Ländern herrschte bis 1686, als der sogenannte Ewige Friede unterzeichnet wurde, Waffenstillstand. Russland erreichte die Kapitulation von Kiew und die Aufhebung des russisch-polnischen Gemeinschaftsbesitzes am Kosakengebiet Saporoger Sech, das vollständig Russland unterstellt wurde.
Ohne den Krieg mit dem Osmanischen Reich, bei dem Polen verzweifelt auf russische Hilfe angewiesen war, hätten die Polen ein solches Dokument niemals unterzeichnet. Auch hier wurde der Vertrag zwar jahrzehntelang buchstabengetreu erfüllt, aber erst 1764 vom polnischen Sejm ratifiziert, als der polnische Staat russisches Protektorat wurde. Wäre Russland damals nicht so mächtig gewesen, hätte sich Polen weiterhin geweigert, eine längst vollendete Tatsache anzuerkennen.
Der Club der Mächtigen
Ein neues Problem der "Nichtanerkennung" durch den Westen trat am 22. Oktober 1721 auf, als Peter der Große den Kaisertitel annahm. Dies bedeutete nicht nur das Ende des Großen Nordischen Krieges, sondern auch die Aufnahme Russlands in den Kreis der großen Weltmächte, zusammen mit Frankreich, dem Heiligen Römischen Reich, Großbritannien und Spanien. Vor der Kriegsniederlage hatte auch Schweden mit seinem baltischen Reich als Großmacht gegolten, doch nun war es aus diesem prestigeträchtigen Klub ausgeschieden, und seinen Platz nahm Russland ein. Doch um die Anerkennung des Kaisertitels und der neuen Grenzen musste Russland noch kämpfen. Dies hing vor allem davon ab, inwieweit Russland als Militärmacht gefürchtet wurde und ob seine Nachbarn an friedlichen Beziehungen zu Sankt Petersburg interessiert waren.
Holland und Preußen erkannten den Titel sofort nach seiner Ausrufung an. Auch Schweden, das eine schwere Niederlage gegen die Russen erlitten hatte, erkannte den Titel schnell an – bereits 1723. Die Türkei folgte im Jahr 1739, ebenfalls nach einer Niederlage im Krieg mit Russland. Österreich (trotz seines Bündnisses mit Russland) und Großbritannien (trotz seines Status als wichtiger Handelspartner) zögerten mit einer Anerkennung bis 1742, als der Preis für die Anerkennung der Eintritt des Russischen Reichs in den Österreichischen Erbfolgekrieg an der Seite Österreichs und Großbritanniens war. Spanien, das nur schwache Beziehungen zu Russland unterhielt, konnte es sich leisten, die Anerkennung bis 1759 hinauszuzögern, und Polen erkannte den Kaisertitel erst 1764 an, nachdem Katharina II. ihren Schützling und ehemaligen Günstling Stanislaw Poniatowski auf den polnischen Thron gesetzt hatte.
Bis zum Ende der napoleonischen Kriege mussten die Russen ihre Ansprüche mit Gewalt durchsetzen. Der Sieg über Frankreich brachte Russland Weltruhm und die Stellung der ersten Macht in Europa, und der russische Kaiser wurde zum obersten Richter in allen europäischen Streitigkeiten. Dieser ehrenvolle Status wurde jedoch bereits 40 Jahre später von Großbritannien und Frankreich anlässlich des Krimkriegs wieder infrage gestellt.
Diese Geschichte von Kriegen und Diplomatie beweist einmal mehr, dass es in der Weltpolitik keine stabilen Elemente gibt. Daher sollte man immer bereit sein, für die Rechtfertigung der eigenen Rechte oder Grenzen zu kämpfen. Diese Bereitschaft ist das zuverlässigste Argument, und ohne sie sind internationale Verträge nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschien beim Wsglyad.
Michail Diunow ist russischer Historiker und Publizist.
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