Europa

Macron oder Le Pen? Präsidenten-Wahl in Frankreich als Weichenstellung für Europa

In weniger als einer Woche findet in Frankreich der zweite Wahlgang der Präsidentschaftswahl statt. Es stehen sich wie 2017 der amtierende Präsident Emmanuel Macron und Herausforderin Marine Le Pen gegenüber. Wie nie zuvor wird dieses Mal die Zukunft oder den Zerfall der Europäischen Union bei den französischen Wahlen entschieden.
Macron oder Le Pen? Präsidenten-Wahl in Frankreich als Weichenstellung für EuropaQuelle: Gettyimages.ru © Chesnot/Getty Images

Von Pierre Lévy

Wie im Jahr 2017 belegten Emmanuel Macron und Marine Le Pen in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen die ersten beiden Plätze. Sie werden daher in der zweiten Runde am 24. April gegeneinander antreten.

Damit bestätigt sich ein starker Trend, der sich von Wahl zu Wahl in der politischen Realität Frankreichs verfestigt und dessen erste deutliche Anzeichen beim Referendum 2005 über den Entwurf des EU-Verfassungsvertrags zu erkennen waren: eine sich vertiefende Spaltung zwischen denjenigen, die sich hinter die "globalisierten Eliten", also die besitzenden Klassen, stellen, und der Arbeiterklasse. Diese Spaltung "Block gegen Block" wird nicht verschwinden.

Ob man es nun begrüßt oder bedauert, die "Klassenwahl" ist für diese Wahl besonders charakteristisch. Nicht umsonst wird der derzeitige Herrscher des Élysée-Palastes seit 2017 als "Präsident der Reichen" bezeichnet, ein Pflaster, das ihm sowohl durch den Inhalt seiner Politik als auch durch sein arrogantes und verächtliches Auftreten ständig anhaftet; und die Arbeiter und Angestellten – eben jene, die regelmäßig versucht sind, nicht zur Wahl zu gehen – bilden die großen Bataillone unter den Wählern von Marine Le Pen.

Es ist anzumerken, dass der dritte Mann, Jean-Luc Mélenchon, dank der Verstärkung durch zwei Kategorien zulegen konnte. Erstens, die "gebildeten" urbanisierten Schichten, die im Zentrum der großen Metropolen leben und der Globalisierung gerne aufgeschlossen gegenüberstehen; und zweitens, die – oftmals jungen – Bürger mit Migrationshintergrund, die jedoch keine homogene Kategorie bilden.

Natürlich werden die detaillierten Studien, die in den nächsten Monaten erscheinen werden, diese Klassenspaltung, die die Wahlplakate des zweiten Wahlgangs kennzeichnet, präzisieren, nuancieren und beleuchten. Aber sie werden sie nicht widerlegen. Um es bildlich auszudrücken: Einerseits werden sich diejenigen, die das "Ende der Welt" befürchten (und den "Planeten retten" wollen), geschlossen um Macron scharen; und anderseits identifizieren sich die Geringverdienenden, die vor allem das "Ende des Monats" (und den Abbau unserer Industrie, insbesondere der Schwerindustrie) befürchten, stark mit seiner Konkurrentin.

Bei einer Rede in Straßburg sagte der noch amtierende Präsident, dass die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen ein Referendum über Europa sei. Damit versuchte er, sein Lager zu mobilisieren, d. h. diejenigen, die mehr als alles andere den Zerfall und schließlich den Untergang der Europäischen Union fürchten. Es sind die Letzteren, die weiterhin die alten, von den Fakten widerlegten Psalmen "Europa ist Frieden", "Europa schützt uns" und "Vereint sind wir stärker" herunterbeten.

Damit aber geht der derzeitige Bewohner des Élysée-Palastes ein Risiko ein: Sollte er am 24. April verlieren, müsste er zugeben, dass eine Mehrheit der Franzosen das Prinzip der europäischen Integration aufgeben will. Und selbst wenn er mit einer knappen Mehrheit gewählt würde, müsste er feststellen, dass fast jeder zweite Wähler nicht nur die derzeitige Europäische Union, sondern auch die Idee eines politischen Europa in Frage stellt.

Die Front National (jetzt Rassemblement National) ihrerseits nahm den Austritt aus der EU nie explizit in ihr Programm auf, auch nicht 2017, als der Eindruck vorherrschte, dass dies der Fall sei. Diesmal schüttete ihre Kandidatin im Hinblick auf die aktuelle Kampagne noch mehr Wasser in den Wein. Entweder stimmt sie der (falschen) Selbstverständlichkeit zu, dass eine solche Perspektive die Mehrheit der Wähler abschreckt und unweigerlich zum Scheitern führt, oder sie bleibt selbst davon überzeugt, dass man die EU von innen heraus reformieren kann – eine Illusion, die jedoch regelmäßig durch die Fakten widerlegt wird.

Zur Erinnerung: Ende der 1990er-Jahre waren in den drei Schwergewichten der EU – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – gleichzeitig drei sozialistische Premierminister an der Macht. Eine "Sternenkonstellation", dank derer wir die Wunder der EU sehen würden, insbesondere das "soziale Europa". Wir haben gesehen … Und man kann auch an die Kapitulation des Griechen Alexis Tsipras (antiphrasierend als "radikale Linke" etikettiert) nach nur sechs Monaten an der Spitze der Regierung erinnern – und das aus gutem Grund: Er hatte seinen Willen bekundet, in der Union (und in der Eurozone) zu bleiben, koste es, was es wolle…

Le Pen versprach jedoch, das französische Recht über das europäische Recht zu stellen. Sollte sie gewählt werden und an diesem Prinzip festhalten, würde dies das Ende der europäischen Integration beschleunigen. Die EU hat für ihre Erfinder und Sponsoren nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn sie in der Lage ist, diesem oder jenem Land die Beibehaltung eines Kurses aufzuzwingen, der den Interessen der Oligarchie entspricht, oder diesem oder jenem Land zu verbieten, einen politischen Kurs zu wählen, der mit den Interessen der Oligarchie bricht, auch wenn das Volk dies so entschieden hat.

Aus diesem Grund hatte die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, das die Überlegenheit des nationalen Rechts bestätigte, in Brüssel einen solchen Zorn ausgelöst – der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Dessen Karlsruher Pendant hatte selbst für einen Aufschrei gesorgt, als es (in Bezug auf die Währungsregeln) seine Überlegenheit gegenüber dem Europäischen Gerichtshof bekräftigt hatte. Die Rumänen hatten ebenfalls einen Schritt in diese Richtung gemacht, wenn auch etwas diskreter. All dies sind Schläge, die an den Grundfesten der EU rütteln.

Wenn ein Land wie Frankreich eine solche Entscheidung auf höchster Ebene träfe, deutete alles darauf hin, dass die Union dies nicht überleben würde, möglicherweise kurzfristig. Dann stünde nicht Frankreichs Verbleib in der Union auf dem Spiel, sondern die Existenz der EU selbst, was aus Sicht der Interessen jedes einzelnen Volkes sogar noch besser wäre, weil es den Weg für Kooperationen zwischen freien und souveränen Ländern ebnen würde. Und das sowohl innerhalb des alten Kontinents als auch weltweit.

Hat Le Pen wirklich die Absicht, dies zu tun? Im Grunde geht es nicht darum, was sie denkt oder was sie will, sondern darum, was sie – wenn überhaupt, wider eigenes Wissen – vertritt. Die politische Kaste und die Mainstream-Presse in vielen EU-Ländern, insbesondere in Deutschland, beschuldigen sie, die Union sprengen zu wollen, und bestätigen die Vorstellung, dass dies der Fall wäre, wenn sie gewählt würde. Und das ist der springende Punkt: Ihre Wahl würde höchstwahrscheinlich ein solches Erdbeben auslösen, noch bevor die erste Maßnahme beschlossen ist, dass eine Dynamik des Zerfalls in Gang gesetzt würde. Gemäß einem sehr treffenden Sprichwort: Die Folgen einer Illusion sind niemals illusorisch …

Wie auch immer das Ergebnis am 24. April ausfallen wird, die Zukunft (und der Zerfall) der Europäischen Union wird ein zentrales Thema bleiben.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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