Europa

Religionskrieg flammt wieder auf: Ukrainische Nationalisten besetzen unter Polizeischutz Kirche

Die russische militärische Intervention in der Ukraine verschärft den bereits seit Jahren schwelenden konfessionellen Konflikt in dem Land. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die traditionell zum Moskauer Patriarchat zählt, wird durch ukrainische Nationalisten zugunsten einer nationalen Kirchenneugründung angegriffen. Auch der Staat beteiligt sich an den Übergriffen.

Konfessionskonflikt verschärft sich

Der in der Ukraine schwelende konfessionelle Konflikt zwischen der traditionellen Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und der auf Betreiben des damaligen Präsidenten Poroschenko 2018 neu gegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine, die derzeit nur von einem kleineren Teil der Weltkirchen anerkannt ist und den übrigen als nicht kanonisch gilt, hat sich in Folge der russischen militärischen Intervention in der Ukraine nochmals verschärft. 

Die Übergriffe auf die Gemeinden der traditionellen Kirche und staatlich geförderte Versuche der Neugründung, die Kirchengebäude der traditionellen Kirche in eigenen Besitz zu nehmen, waren bis zur Abwahl Poroschenkos zahlreich. Unter Selenskij, der eine neutrale Position im Konfessionsstreit einnahm und auf die Gläubigen der Traditionskirche als Wählerschaft setzte, nahmen die Übergriffe zunächst ab. Aktuell hat die Verfolgung der orthodoxen Christen, die der kanonischen Kirche die Treue halten, erneut massiv zugenommen. Die Angreifer aus den Reihen von Poroschenkos Neugründung können sich auch wieder der staatlichen Unterstützung sicher sein. 

Ein von der Publizistin und Buchautorin Miroslawa Berdnik am Sonntag veröffentlichtes Video gibt einen Einblick, wie die "Übernahmen" der Kirchengebäude durch die neu gegründete nicht kanonische Orthodoxe Kirche der Ukraine (ukrainisch: PZU) ablaufen und welche Wunden sie in die Gemeinden reißen. 

Der hier dargestellte Fall ereignete sich am 10. April in dem Dorf Mikhaltscha in der Region Tschernowzy. Örtliche Aktivisten der PZU, die seit 4 Jahren versuchen, die orthodoxe Kirche des Ortes an sich zu reißen, haben an diesem Tag, einem Sonntag, am frühen Morgen unter Polizeischutz das Kirchengrundstück besetzt und die Türen zum Gotteshaus gewaltsam aufgebrochen. Die Gläubigen der Traditionskirche, wie auch der Gemeindepriester, die zum sonntäglichen Gottesdienst erschienen waren, mussten von außen hilf- und machtlos zusehen, wie ihnen das Kirchengebäude gewaltsam genommen wird. Eine Polizeikette hinderte die Gläubigen der kanonischen Kirche am Betreten des Grundstücks.

Der Gemeindepriester betete mitten auf der Straße, knieend und verzweifelt. Anschließend betete er mit seiner Gemeinde im Freien.

Miroslawa Berdnik kommentiert den Vorfall:   

"In der Zeit, in der in unserem Land ein blutiger Krieg geführt wird und die meisten Männer der orthodoxen Gemeinde der Heiligen Mariä-Entschlafens-Kirche das Vaterland an der Front verteidigen, stürmen die Anhänger des Epiphanius das Heiligtum.

An diesem Tag um 7:00 Uhr, als die Gläubigen der kanonischen Kirche zum Sonntagsgottesdienst kamen, warteten die mit Ketten verschlossenen Tore und bewaffnete Menschen auf dem Territorium der Kirche bereits auf sie.

Die Gläubigen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche und ihr Abt durften ihr Territorium nicht betreten. Alle Zugänge zum Dorf wurden gesperrt, damit niemand der Gemeinde zu Hilfe kommen konnte.

Nach Angaben der Diözese Tschernowzy-Bukowyna befanden sich auf dem Territorium der Kirche der Heiligen Entschlafung Polizisten, die die Räuber schützten.

Die Anhänger des Epiphanius ließen sich weder von Tränen noch von Bitten aufhalten".

Ganz am Schluss des Videos sprechen die Anhänger der nichtkanonischen Neugründung ihre "Gebete", indem sie mehrfach "Tod, Tod, Tod!" skandieren. 

Im ukrainischen Parlament wird derzeit ein Gesetzesentwurf debattiert, der die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats verbietet und sie enteignen will. Angesichts der derzeitigen Stimmung ist es sehr wahrscheinlich, dass dieser Gesetzesentwurf angenommen wird. 

Über tausend Jahre wechselhafter Kirchengeschichte: Alte und neue Risse im Fels

Die Orthodoxe Kirche auf dem Gebiet der heutigen Ukraine hat eine wechselhafte Geschichte. Christianisiert wurde die mittelalterliche Rus von Byzanz aus: Der traditionellen Geschichtsschreibung zufolge ließ sich Großfürst Wladimir im Jahr 988 taufen und christianisierte daraufhin das gesamte Reich, teilweise gewaltsam. In Kiew wurde ein eigenes Bischoffsamt ("Mitropolie") eingerichtet, die zunächst dem Patriarchen von Konstantinopel unterstand. 

Als Kiew im 12. und 13. Jahrhundert zunehmend unter Überfällen von migrierenden Steppenvölkern und später der Mongolen zu leiden hatte und mehrmals zerstört wurde, verlagerte sich das politische, kulturelle und religiöse Zentrum der Rus nach Nordosten. 1299 verlegte der damalige Metropolit Maxim den Sitz der Mitropolie offiziell zuerst nach Wladimir und zwei Jahrzehnte später nach Moskau, womit die künftige Rolle Moskaus als Hauptstadt des gesamten wiedervereinigten Russlands quasi vorbestimmt war. 

Die russische Kirche spaltete sich im Zuge der Unionsbestrebungen der Kirchenoberen in Konstantinopel von der Mutterkirche ab: 1448 de facto, seit 1589 auch de jure, als die Unabhängigkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche vom Patriarchen in Istanbul anerkannt wurde. Große Teile der heutigen Ukraine waren zu diesem Zeitpunkt jedoch weder politisch, noch kirchlich unter der Kontrolle Moskaus. In dem zum kleinen Dorf verkommenen Kiew richtete der Istanbuler Patriarch ein eigenes, von ihm abhängiges Bistum ein. Im Westen der heutigen Ukraine unterstellte sich die örtliche orthodoxe Kirche bald dem Papst in Rom – die sogenannte "unierte" Kirche war geboren. 

Der Herrschaftsbereich der Moskauer Kirche breitete sich parallel zum Gebietswachstum des russischen Reiches aus, und so kamen auch große Teile der heutigen Ukraine in der Spanne vom 16. bis zum 18. Jahrhundert an die Russisch-Orthodoxe Kirche. Istanbul erkannte die Gebietszuwächse teilweise förmlich, teilweise konkludent an. 

Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden in der Ukraine auch Bestrebungen nach kirchlicher Unabhängigkeit laut. Zunächst beschränkten sie sich auf zwei kleine Abspaltungen, die in der Westukraine in der Zwischenkriegszeit ihren Anfang nahmen. Für die "große" Orthodoxe Kirche, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre dank der liberalen Politik Gorbatschows gerade einen Aufschwung erlebte, bedeuteten die politischen Umwälzungen zunächst einen hohen Grad an Autonomie und Selbstverwaltung, die im Herbst 1990 gewährt wurden. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche war offiziell geboren, die Anbindung an das Moskauer Patriarchat war ab da nur noch symbolischer und ideell-dogmatischer Natur.

Doch es kamen persönliche Eitelkeiten ins Spiel. Der Vorsteher der neuen Kirche, Metropolit (Erzbischof) Filaret (Denisenko) hatte sich selbst Aussichten auf den Patriarchenstuhl in Moskau ausgerechnet, war er doch faktisch der designierte Nachfolger des verstorbenen Patriarchen Pimen. Die Wahl des Esten Alexei (Ridiger) zum Patriarchen im Jahr 1990 war eine Auflehnung der orthodoxen Bischöfe gegen Partei und Staat, die Denisenko unterstützten. Die unerwartete Niederlage hinterließ im Ego Spuren und so forderte Denisenko, der zuvor noch ein ausgesprochener Zentralist und Gegner selbst ukrainischsprachiger Gesänge und Predigten in der Kirche war, die vollständige kirchliche Unabhängigkeit von Moskau.

Hiergegen rebellierten im Frühjahr 1992 die Bischöfe der ukrainischen Bistümer: In einem konspirativen Treffen setzten sie Filaret ab und bestimmten den beliebten Wladimir zum ukrainischen Kirchenfürsten. Filaret verschanzte sich mit Getreuen in der Kiewer Wladimir-Kathedrale und schloss sich einer der zwei westukrainischen Abspaltungen an. Nach dem Tod von deren Vorsteher ließ er sich wählen und ernannte sich zum Patriarchen von Kiew. Als solcher wurde er von niemandem in der Weltkirche anerkannt und nach kanonischen Regeln sämtlicher geistlichen Würden enthoben. Doch unter den ukrainischen Nationalisten fand er genug Gefolgschaft, um in den folgenden 25 Jahren eine auskömmliche Existenz zu führen. 

Schon damals gab es unschöne Szenen gewaltsamer Besetzung von Kirchenbauten, doch der Staat verhielt sich seit der Abwahl des ersten ukrainischen Präsidenten und Separatisten von 1991, Leonid Krawtschuk, weitgehend neutral und gesetzestreu.

Gründung einer "Nationalkirche" aus politischem Kalkül – immer wieder aufflammende Verfolgungswellen 

Das änderte sich mit dem Sieg des Euromaidan im Jahr 2014, der Nationalisten an die Macht brachte und sich vor allem auf die Westukraine stützte, die Domäne der Unierten Kirche ist. Fälle gewaltsamer Kirchenbesetzungen und von Übergriffen auf Geistliche und Gläubige nahmen zu, in den Medien begann eine in Europa kaum vorstellbare Verleumdungskampagne gegen die traditionelle Kirche. Anders als "Moskauer Popen" wurden die Geistlichen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in den ukrainischen Medien, mit Ausnahme der 2021 verbotenen Oppositionssender, kaum noch tituliert.

In den Jahren 2017 und 2018 sah der damals amtierende Präsident Petro Poroschenko seine Wahlaussichten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen schwinden. Seine Chancen sah er in einem radikal nationalistischen Kurs und die Parole "Armee, Sprache, Glaube" bestimmte von da an die politische Agenda in Kiew. Seine nationalistische Anhängerschaft wollte Poroschenko mit einer Militarisierung des Landes, der Annahme von diskriminierenden Gesetzen gegen die russische Sprache und schließlich auch mit der Schaffung einer "Nationalkirche" motivieren. 

So wandte er sich offiziell an den Patriarchen "der gesamten Welt" mit Sitz im türkischen Istanbul, Bartholomäus. Dieser hatte noch wenige Monate zuvor, wie fast jedes Jahr seit 1990, in Kiew gastiert, sich bewirten und reichlich beschenken lassen, und dem gerade neu gewählten Kiewer Metropoliten Onufrij versichert, nur ihn und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats als die einzig legitime und kanonische Kirche auf dem Gebiet der Ukraine anzuerkennen. 

Welche Argumente Poroschenko vorbrachte, welchen Einfluss Washington auf die Meinungsbildung des ambitionierten Patriarchen hatte, bleibt verborgen. Doch quasi über Nacht änderte der Istanbuler Patriarch seine Auffassung, vergaß die "brüderlichen" Treueschwüre und erteilte der durch Vereinigung der zwei nicht kanonischen orthodoxen Organisationen geschaffenen "Nationalen Kirche" Anfang Januar 2019 den "Tomos" – die Bulle über die kirchliche Anerkennung der Selbständigkeit. 

Aus den Reihen der kanonischen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche haben sich trotz massiven Drucks des Staates nur zwei Bischöfe der Neugründung angeschlossen. Gescheitert sind auch die Hoffnungen Poroschenkos damit seine Wiederwahl zu erreichen. 73 Prozent der Ukrainer stimmten im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2019 für Selenskij, und damit gegen Poroschenko und seine Politik. 

Und auch die Anerkennung durch die Weltkirche steht noch aus: Außer dem Istanbuler Patriarchen haben nur die griechischen Kirchen auf dem griechischen Festland und auf Zypern sowie der orthodoxe "Papst" von Alexandria die ukrainische Nationalkirche anerkannt – und auch das erst nach langem Zögern und offensichtlichem Druck des Amerikanischen State Department. Selbst Kirchen, die nicht gelöste Konflikte mit dem Moskauer Patriarchat haben und in russophob regierten Staaten beheimatet sind, wie die rumänisch-orthodoxe Kirche und die georgisch-orthodoxe Kirche haben bislang von der Anerkennung von Poroschenkos Neugründung Abstand genommen.

Den Verfolgungsdruck, dem sich die kanonische Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats im Inneren ausgesetzt sieht, mildert das nur wenig ab. In der Zeit zwischen der Gründung der Nationalkirche und dem Amtsantritt von Selenskij wurden der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche ca. 200 Gotteshäuser gewaltsam, meist unter Mitwirkung der örtlichen Verwaltungen, entzogen. In den meisten Fällen blieben die Kirchengemeinden jedoch ihrer Konfession treu und setzten ihr Glaubensbekenntnis in angemieteten Räumlichkeiten fort. Einigen Gemeinden ist es in der Zwischenzeit sogar gelungen, mit gesammelten Spenden neue Kirchenbauten zu errichten. 

Am 11. November hat sich der UN-Menschenrechtsrat in seinem offiziellen Bericht zur Lage der Menschenrechte in der Ukraine besorgt gezeigt über die Verfolgung orthodoxer Gläubiger in dem Land. In der auf der Webseite des Menschenrechtsrates veröffentlichten Zusammenfassung heißt es: 

"Der Ausschuss ist besorgt über Berichte über Gewalt, Einschüchterung und Vandalismus gegen Gotteshäuser im Zusammenhang mit dem Übergang von Kirchen und Religionsgemeinschaften von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche zur neu gegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine. Der Ausschuss ist auch besorgt über Berichte über die Untätigkeit der Polizei bei solchen Vorfällen und den Mangel an Informationen über staatliche Ermittlungen."

Und das war noch zu einer Zeit, in der die Verfolgung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche dank Selenskijs Neutralität im konfessionellen Konflikt etwas abgeflaut war. Seit dem 24. Februar 2022 rollt aber eine neue Verfolgungswelle über das Land, an der sich auch staatliche Strukturen wieder beteiligen. Deren Ende und Auswirkungen sind derzeit nicht abzusehen. 

Mehr zum Thema - Ukrainisch-Orthodoxe Kirche verurteilt Gesetzesentwurf zum Verbot ihrer Aktivitäten in der Ukraine

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.