"Lassen uns nicht mehr einsperren": Straßenkämpfe zwischen Jugendlichen und Polizei in der Schweiz
In der schweizerischen Stadt St. Gallen kam es gestern Abend und Nacht zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Nach Medienangaben hatten sich bis zu 1.000 Jugendliche in der Innenstadt versammelt, um gegen die Corona-Beschränkungen zu demonstrieren. "Wir lassen uns nicht mehr einsperren – Corona und die Regierung können uns endgültig", schrie Berichten zufolge eine junge Frau.
Die Polizei hatte ein Großangebot mit Kräften aus verschiedenen Kantonen versammelt, da bereits im Vorfeld mit Ausschreitungen gerechnet wurde. Der zunächst friedliche Protest eskalierte zügig. Polizisten wurden mit Feuerwerkskörpern beworfen und schossen mit Gummischrot und Tränengas zurück. Nach Angaben der Stadtpolizei St. Gallen wurden auch Molotowcocktails geworfen. Insgesamt wurden 19 Personen festgenommen.
Laut einem Bericht des Tagblatts eskalierte die bis dahin friedliche Protestaktion gegen 21 Uhr. Die Demonstranten hatten sich auf dem Roten Platz in St. Gallen versammelt – eingekesselt von einer Kette von Polizisten. Einzelne Feuerwerkskörper und Glasflaschen werden geworfen. Die Polizei schießt mit Gummischrot in die Menge. Auf Twitter rechtfertigt sie das als "Notwehr" und fordert alle Personen auf, sich nach Hause zu begeben.
Kurz nach 21 Uhr wurden Mitarbeitende der Polizei mit Gegenständen beworfen und mussten aus Notwehr Gummischrot einsetzen. Wir fordern die betroffenen Personen auf, sich friedlich zu verhalten. Die vielen Schaulustigen bitten wir, nach Hause zu gehen.
— Stadtpolizei SG (@StapoSG) April 2, 2021
Gewalt und Zerstörung wüten in der Stadt St.Gallen: Die Bilder der Krawalle von Freitagnacht machen Eindruck – und stimmen nachdenklich.https://t.co/zMQRIaZIUO
— Tagblatt.ch (@tagblatt_ch) April 2, 2021
Die große Protestgruppe löst sich im Gewühl auf, und einzelne Grüppchen ziehen durch die St. Gallener Innenstadt. Es kommt zu bürgerkriegsartigen Szenen: Schaufenster werden eingeworfen, Container angezündet. Die Polizei treibt die Gruppen durch die Stadt. Laut Polizeiangaben werfen die Demonstranten Molotowcocktails. Die Polizei antwortet mit dem Einsatz von Reizgas.
Polizei wird mit Molotowcocktails beworfen. Gegenstände werden in Brand gesetzt. Wir rufen eindringlich dazu auf, keine Gewalt gegen Polizisten auszuüben und keine Sachbeschädigungen zu begehen.
— Stadtpolizei SG (@StapoSG) April 2, 2021
St. Gallen: Mindestens zwei Verletzte bei heftigen #Ausschreitungen in der Innenstadt. Jugendliche attackieren Polizei mit Molotowcocktails, Feuerwerk, Flaschen und Steinen. Mehrere Festnahmen. #Krawall#StGallen@StapoSGpic.twitter.com/AOnuFLasN3
— LIVE1 (@LIVE1TV) April 3, 2021
Gegen 23 Uhr drängt die Polizei die Protestgruppen zum Bahnhofplatz. Es kommt laut dem Tagblatt zu einer Straßenschlacht. Die Polizei setzt Gummischrot und Tränengas ein. Die Demonstranten antworten mit Böllern. Zahlreiche Festnahmen werden vorgenommen.
Etwa um Mitternacht entspannte sich die Situation. Die Protestgruppen hatten sich aufgelöst. Um 1:30 Uhr konnte laut Angaben der Stadtpolizei St. Gallen "der Polizeieinsatz beendet werden". Zurück blieben eine verwüstete Innenstadt und ein Sachschaden in noch unbekannter Höhe. Über Verletzte gibt es noch keine Medienmeldungen.
Zweiter Protestfreitag in Folge – "Das Fass ist voll"
Die eskalierenden Proteste kamen nicht unangekündigt. Schon am vergangenen Freitag (26. März) waren in St. Gallen jugendliche Demonstranten in gewaltsame Konflikte mit Polizeikräfte geraten. Auch damals kam es zu Straßenschlachten – laut schweizerischen Medien zu einer "Krawallnacht". Die Polizei setzte ebenfalls Gummigeschosse ein.
Gummischrot hatte ich in #StGallen jetzt auch noch nie vor der Haustür. pic.twitter.com/LDdbZkxHK8
— Christof Krapf (@ChKrapf) March 27, 2021
Im Vorfeld gab es mehrere Aufrufe von Protestgruppen, am 2. April in St. Gallen zusammenzukommen. Die zuständige Stadträtin für die Direktion Soziales und Sicherheit Sonja Lüthi zeigte sich äußerst "beunruhigt" und mahnte, keine Gewalt einzusetzen. Bei allem Verständnis für den Unmut der Jugendlichen wie der gesamten Bevölkerung sei ein Verhalten wie am 26. März "inakzeptabel": "Der Stadtrat verurteilt die Gewalt."
In der Neuen Zürcher Zeitung äußert sich der schweizerische Jugendpsychologe Felix Hof zu den "Krawallen in St. Gallen" vom 26. März. Er argumentiert, die gewaltsamen Proteste seien eine Folge von schlecht durchdachten Corona-Maßnahmen. Man habe den Jugendlichen die Möglichkeit für "Austausch und Kreativräume" genommen.
"Vor allem Jugendliche müssen sich artikulieren können – sei es in Gruppen, sei es, indem sie Musik machen oder sich auf der Straße treffen. Das alles wurde ihnen abgeschnitten – und zwar abrupt, ohne Alternativangebote. Man hat zentrale Bedürfnisse und Entwicklungsmöglichkeiten der Jugendlichen einfach gekappt, ohne die Folgen zu bedenken. Und jetzt ist genug, das Fass ist voll."
Hof erwartete schon am 1. April eine weitere Zunahme der Proteste von Jugendlichen, denn man könne nicht "Lockerungen in Aussicht stellen, Hoffnungen schüren" und diese wieder enttäuschen. Gerade Jugendliche bräuchten "verbindliche Aussagen" zur Orientierung. Aber ihre Interessen wurden ohnehin bislang nicht beachtet. Es gebe keine Vertretungen von Jugendverbänden in der Schweizer Taskforce zur Corona-Bekämpfung.
"In all den Planungen wurden Jugendliche bis jetzt nicht angehört. Zentrale Entwicklungspotenziale wurden massiv beeinträchtigt, und zwar völlig unbedacht."
Der Jugendpsychologe macht deutlich, dass Jugendliche es nicht akzeptieren, "von den Eltern bevormundet oder von Autoritätspersonen beliebig gelenkt und kontrolliert" zu werden.
"Man geht immer noch davon aus, dass sich Jugendliche beliebig verwalten lassen sollen."
Klar formuliert Hof das Versagen der Behörden in der Kommunikation von Corona-Maßnahmen. Erst mache man den Jugendlichen "monatelang klar, dass sie ein marginales Infektionsrisiko darstellen", und dann verneine man dies: Das "macht etwas mit den Jugendlichen". Hof spricht diesbezüglich von "systematisierter Angstmacherei" statt einer "Stringenz" in den Corona-Maßnahmen.
"Sie können wie Sardinen in der S-Bahn sitzen, aber ein Bier im Klub trinken ist nicht erlaubt. Das kann man einem Jugendlichen nicht vermitteln."
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