"Krim-Plattform": Ukraine sieht Deutschland in "moralischer Pflicht" bei Rückführung der Krim
Seit fast einem Jahr arbeitet die Ukraine Schritt für Schritt an der Strategie zur "Rückführung der Krim". Der Kernpunkt der Strategie sollte die "Krim-Plattform" sein – ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, der USA, der Türkei und so weiter.
Am 26. Februar hatte Präsident Wladimir Selenskij ein Dekret "über die Deokkupation und Reintegration" der Krim unterzeichnet, mit dem die Arbeit der "Krim-Plattform" offiziell begann. Um so viele Staaten wie möglich zur Mitarbeit an dem Projekt heranzuziehen, unternimmt die Ukraine seit Monaten erhebliche diplomatische Anstrengungen.
Am 18. März, dem siebten Jahrestag des offiziellen Beitritts der Autonomen Republik Krim zur Russischen Föderation, teilte das Amt des ukrainischen Präsidenten mit, dass das Gipfeltreffen der "Krim-Plattform" am ukrainischen Unabhängigkeitstag am 23. August stattfinden soll.
Laut Selenskij haben die USA, Kanada, Großbritannien und die Türkei bereits der Teilnahme an der Krim-Plattform zugestimmt. Es fällt allerdings auf, dass sich unter diesen Staaten noch kein einziger EU-Staat befindet. Es ist bekannt, dass die Türkei wegen der historischen Verbindungen zum Krim-Chanat die Krim vor allem als Teil ihres Einflussbereichs sieht und daher in dieser Frage eine eigene, nicht unbedingt proukrainische Agenda vertritt. Die restlichen Staaten gehören nicht zu Kontinentaleuropa.
Um seinem außenpolitischen Projekt mehr Gewicht zu verleihen, bemüht sich Selenskij vor allem darum, große EU-Staaten wie Frankreich oder Deutschland zur Teilnahme an diesem Format zu bewegen. Den Jahrestag des Krim-Referendums am 16. März nutzte die Ukraine für einen großen diplomatischen Vorstoß in Berlin. An diesem Tag veröffentlichte der ukrainische Botschafter Andrei Melnyk einen Artikel in der Berliner Zeitung.
Gerade jetzt eröffnet sich laut Melnyk für Deutschland eine historische Chance, im Schulterschluss mit der neuen US-Regierung den Kremlherrn mit neuer transatlantischer Härte zu konfrontieren. Die Krim sei ein Lackmustest, ob die Deutschen wirklich bereit seien, mehr Verantwortung auf der Weltbühne zu übernehmen und für das Völkerrecht zu kämpfen.
"Gerade Deutschland kann und muss eine entscheidende Rolle spielen, um die Krim-Annexion zu stoppen."
Im Artikel wirft Melnyk dem russischen Präsidenten "Barbarei" und die brutale Verfolgung der Ukrainer und Krimtataren auf der Halbinsel vor, die "Schrecken der NS- und sowjetischen Vergangenheit in Erinnerung rufen". Der Nazismus-Vergleich ist nicht zufällig. Mit ihm mahnt Melnyk die moralische Pflicht der Bundesrepublik wegen der "immerwährenden historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine für die NS-Gewaltherrschaft mit über acht Millionen ukrainischen Kriegsopfern" an.
In seiner geschichtlichen Ausführung geht Melnyk sogar so weit, dass er einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verbannung der Krimtataren am Ende des Krieges und der deutschen Besatzung herstellt:
"Vor allem für die Krimtataren wurde die NS-Besatzung zum Verhängnis: Gleich nach der Vertreibung der Deutschen durch die Rote Armee wurden am 18. Mai 1944 etwa 200.000 Personen von Stalin unter dem pauschalen Vorwurf der Kollaboration nach Zentralasien in Viehwaggons deportiert."
#Germany has occupied #Crimea twice & therefore bears special moral & historic responsibility for #Ukraine to act & liberate the 🇺🇦peninsula from 🇷🇺clawsIt’s time to start international negotiations on returning #Crimea to #Ukraine#CrimeaIsUkraine 👇🏻https://t.co/HTNaeOA2yx
— Andrij Melnyk (@MelnykAndrij) March 17, 2021
Mit dieser Behauptung überbietet Melnyk sogar den Rahmen des offiziellen geschichtlichen Narrativs in der Ukraine, wonach die Tatsache der Kollaboration mit dem Nazi-Regime – sei es von ukrainischen Nationalisten oder Krimtataren – unter den Teppich gekehrt wird.
Aber Melnyk erinnert in seinem Artikel nicht nur an die derzeit in Deutschland "vergessenen" Germanisierungspläne der Nazis, auf der Krim das neue "Reich der Goten" zu errichten. Er geht auf die Zeiten des deutschen "Kolonialismus" zurück, als das ausgehende Kaiserreich die Halbinsel im Zuge der "Operation Faustschlag" im Jahre 1918 für einige Monate besetzte. In Berlin habe man mit dem Gedanken gespielt, auf der Krim und in der südlichen Schwarzmeerregion der heutigen Ukraine einen eigenen Staat der deutschen Kolonisten zu errichten.
"Ausgerechnet die Krim spielte in dieser vorbelasteten kolonialistischen Geschichte eine tragische Rolle, doch dessen ist man sich in der deutschen Öffentlichkeit heute kaum noch bewusst."
Auch hier gibt Melnyk dem deutschen Staat eine zusätzliche Schuld, diesmal an Scheitern der "Ukrainischen Volksrepublik", des kurzzeitigen Staatsgebildes der Umwälzungsjahre 1917/1918. "Das Scheitern dieser widersprüchlichen Krim-Politik Deutschlands 1918 hatte fatale Folgen für die Unabhängigkeit der Ukraine und für die Krim, die vom aggressiven bolschewistischen Russland in den nächsten Jahren zerschlagen wurden."
Der ukrainische Botschafter, der während seiner sechsjährigen Dienstzeit schon mehrmals deutsche Spitzenpolitiker persönlich attackiert hatte – zu erinnern sei an die Bezeichnung des Kohl-Beraters Horst Teltschik als "Hampelmann Putins" oder die Zurechtweisung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier –, bekam allerdings diesmal von den übrigen deutschen Medien keine Bühne.
"Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrej Melnyk, forderte in der Berliner Zeitung einen internationalen Prozess, um die Krim wieder an die Ukraine anzugliedern", schrieb die dpa in einer vergleichsweise neutral verfassten Kurzmeldung, die nur von wenigen Medien übernommen wurde.
Deutschland meldete sich dennoch zur Krim-Frage – in einer gemeinsamen Erklärung der G7-Staaten am 18. März:
"Wir, die G7-Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Kanadas, Italiens, Japans, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika sowie die Hohe Vertreterin der Europäischen Union, sind uns einig in unserer Verurteilung der fortgesetzten Aktionen Russlands, die Souveränität, territoriale Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine zu untergraben."
Die Kritik an Russland wurde hier allgemein gehalten und unterschied sich kaum noch von allen anderen Erklärungen der westlichen Staaten aus den letzten sieben Jahren. Die Krim-Plattform fand dennoch eine Erwähnung:
"Wir begrüßen grundsätzlich die Initiative der Ukraine zur Einrichtung einer Internationalen Krim-Plattform, um die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um die Krim zu konsolidieren."
Selenskij bewertete diesen Passus als "Geste der Konsolidierung der internationalen Gemeinschaft zur Etablierung der Krim-Plattform".
It’s a true gesture of friendship to support our initiative to establish an International Crimean Platform to consolidate the international community’s efforts on Crimea and to stop Russian aggression. 🇺🇦 moves towards peace @G7AmbReformUAhttps://t.co/AKkadNmjbg
— Володимир Зеленський (@ZelenskyyUa) March 18, 2021
Der ukrainische Oppositionspolitiker und bekannte Experte für internationale Politik Oleg Woloschin kommt zu einem anderen Schluss. "Der Teufel steckt ja bekanntlich im Detail", schrieb er auf seinem Facebook-Account im Hinblick auf die Formulierung "Wir unterstützen grundsätzlich":
"Das bedeutet keineswegs, dass sie bereit sind, sich an diesem Projekt auf einer ernsthaften politischen Ebene zu beteiligen. Mit anderen Worten: Nach meinen Informationen werden weder Macron noch Merkel oder gar deren Außenminister am 23. August in Kiew sein."
Die Reaktion Russlands auf die Initiative Kiews war vorhersehbar: Das russische Außenministerium verurteilte diese als "Angriff auf die russische territoriale Integrität". Die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa ging in einem Kommentar zum Artikel des ukrainischen Botschafters etwas ausführlicher darauf ein.
"Er hätte seine deutschen Freunde daran erinnern sollen, dass Nazi-Deutschland die Krim besetzt hat, die Teil Russlands/der UdSSR war, und wenn jemand dafür jemandem etwas schuldig sein soll, dann ist es Moskau, nicht Kiew", schrieb sie auf Facebook und fügte hinzu:
"Da Berlin schon nicht zum ersten Mal solche historischen Anspielungen des ukrainischen Botschafters erduldet, könnte es dann auch uns erlaubt sein? Wir werden uns das merken."
"Wenn man über die aktuelle moralische Verantwortung Berlins gegenüber Kiew spricht, sollte man sich lieber auf die (deutsche) Unterstützung des verfassungsfeindlichen Putsches in der Ukraine, die Nichterfüllung der Verpflichtungen aus den Minsker Vereinbarungen durch die ukrainische Führung und die Verletzung der Meinungsfreiheit beziehen", schloss die russische Diplomatin.
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