Mutierter Erreger: Wie gefährlich ist die neue Coronavirus-Variante wirklich?
Irland bestätigte am Freitag das Auftreten eines neuen und hochinfektiösen Coronavirus-Stammes. Auch im Libanon und in Japan meldeten die Behörden die ersten Infektionsfälle, die auf diese Variante zurückzuführen sind. In Kontinentaleuropa bestätigten Deutschland und Dänemark Anfang der Woche das Auftreten des mutierten Coronavirus, ebenso wie die Niederlande und Italien.
Über den neuen Stamm, der den einprägsamen Namen "SARS-CoV-2 VOC 202012/01" trägt, ist noch wenig bekannt. Und obwohl er sicherlich ein Problem darstellt, scheint er nicht die apokalyptischen Konsequenzen zu haben, die manche Medien ihm zuschreiben.
Woher kommt die neue Virusvariante?
Es wird angenommen, dass der neue Stamm aus Großbritannien stammt und dort erstmals im September entdeckt wurde. Er verbreitete sich schnell. Testdaten aus britischen Labors zeigen, dass er in bestimmten Gebieten inzwischen mehr als zwei Drittel aller Fälle von COVID-19 ausmacht, wie folgende Grafik veranschaulicht (Anteil der neuen Variante an der Gesamtzahl in Orange eingezeichnet):
MK LHL testing data showing increasing prevalence of H69/V70 variant in positive test data - which is detected incidentally by the commonly used 3-gene PCR test. pic.twitter.com/1U0pVR9Bhs
— Tony Cox (@The_Soup_Dragon) December 19, 2020
Die rasante Ausbreitung der neuen Virusvariante veranlasste den britischen Premierminister Boris Johnson, in weiten Teilen des Landes erneut strenge Beschränkungen zu verhängen und damit Millionen von Londonern und anderen Menschen im Südosten des Landes das Weihnachtsfest zu verwehren.
Mehr als 50 Länder haben daraufhin Reisen nach und aus Großbritannien verboten. Da Virologen für die kommenden Tage jedoch mit einem Anstieg der Entdeckungen in weiteren Ländern rechnen, hat die EU ihre Mitglieder aufgefordert, ihre Reisebeschränkungen für Großbritannien aufzuheben.
Was ist neu an der mutierten Variante?
Der Hauptfaktor, der den neuen Stamm von seinem Vorgänger unterscheidet, ist seine Ansteckungsfähigkeit. Obwohl es schwierig ist, genau festzulegen, wie viel übertragbarer der neue Stamm ist, hat Premierminister Johnson wiederholt behauptet, dass er 70 Prozent infektiöser ist als der bisherige Stamm. Johnson beruft sich dabei offenbar auf Ärzte des Imperial College London und die regierungseigene New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group (NERVTAG).
Nachdem die britische Regierung diese Zahlen in Umlauf gebracht hatte, überschlugen sich die Medien. The Sun beschrieb den neuen Stamm als "Alptraum vor Weihnachten", während Metro ihn als "Mutanten-COVID" bezeichnete. Selbst die ansonsten eher zurückhaltende Financial Times schrieb, dass Wissenschaftler "alarmiert" seien über die Ausbreitung des "COVID-Mutanten".
Allerdings sind die Beweise für eine erhöhte Übertragbarkeit immer noch spärlich, und einige Ärzte sind der Ansicht, dass es überhaupt keinen Beweis dafür gebe, dass sich der neue Stamm schneller ausbreitet. "Wir haben keine Beweise gesehen, die diese Behauptung stützen", sagte etwa der Professor für Mikrobiologie Hugh Pennington diese Woche gegenüber der Scottish Sun. Andere Experten sagten, darunter der deutsche Virologe Christian Drosten, es gebe noch nicht genug Daten, um zu bestimmen, ob der neue Stamm tatsächlich infektiöser ist.
Zudem wurden zu der neuen Variante einige spezifische Aussagen gemacht, zum Beispiel, dass er sich leichter zwischen Kindern überträgt. Professor Neil Ferguson von NERVTAG stellte diese Behauptung Anfang dieser Woche auf, fügte aber hinzu, dass "mehr Forschung zu diesem Thema betrieben werden müsste, bevor irgendwelche Schlussfolgerungen gezogen werden sollten."
Welche Gefahr geht von der neuen Variante aus?
Oberflächlich betrachtet mag der Gedanke an ein mutiertes Coronavirus alarmierend sein. Allerdings war die vor diesem neuen Stamm vorherrschende Coronavirus-Variante selbst eine Mutation des ursprünglichen Erregers, der vor einem Jahr im chinesischen Wuhan auftauchte. Als das Virus im Februar Europa erreichte, mutierte es zu einem Stamm mit der Bezeichnung "D614G", der dann zum weltweit dominierenden Stamm wurde. Ein weiterer Stamm, A222V, brach kurz darauf in Spanien aus und macht nun bis zu sieben Prozent der Fälle in Europa aus.
Als "D614G" auftauchte, warnten Wissenschaftler, dass er neunmal so ansteckend sein könnte wie der Wuhan-Stamm. Zum Glück hat sich diese Warnung nie bewahrheitet.
Alle Viren mutieren und werden dabei meist milder. Der Notfallkoordinator der Weltgesundheitsorganisation, Michael Ryan, sagte diese Woche bei einem virtuellen Briefing, dass solche Mutationen "ein normaler Teil der Virus-Evolution sind."
Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass die neue Variante tödlicher ist als die bisherige. In Großbritannien wurden beispielsweise am Donnerstag knapp über 39.000 neue Infektionsfälle gemeldet, mehr als fünfmal so viele wie am schlimmsten Tag der ersten Welle im April. Allerdings wurden auch 574 Todesfälle registriert, etwa halb so viele wie an mehreren Tagen im April.
Schützen Impfstoffe vor dem mutierten Coronavirus?
Momentan herrscht Konsens unter den Experten, dass die derzeit eingesetzten Impfstoffe auch gegen die neue Variante des Coronavirus wirken. Wenn das Virus jedoch weiter mutiert, besteht die Gefahr, dass es lernt, sich den drei derzeit im Westen verfügbaren Impfstoffen zu entziehen. Das Grippevirus mutiert so regelmäßig, dass jedes Jahr neue Grippeimpfstoffe auf den Markt kommen, um den neuesten Anpassungen des Virus zu begegnen.
Bisher ist das Coronavirus noch nicht so schnell mutiert, dass man sich Sorgen um die Wirksamkeit der Impfstoffe machen müsste. Die Arzneimittelhersteller Pfizer und Moderna testen derzeit ihre Vakzine gegen den neuen Stamm. Die deutsche Firma Biontech, die zusammen mit Pfizer einen Impfstoff entwickelt hat, sagte diese Woche, dass eine neue Formel des Impfstoffes innerhalb von sechs Wochen entwickelt werden könnte, falls es nötig sei.
Allerdings könnte das Virus theoretisch weiter mutieren und den Impfstoffentwicklern einen Schritt voraus sein. "Dieses Virus hat potenziell den Fluchtweg vor dem Impfstoff eingeschlagen, es hat die ersten paar Schritte in diese Richtung unternommen", sagte der Professor der Cambridge Universität, Ravi Gupta, gegenüber BBC. "Wenn er zu weiteren Mutationen kommt, dann fängt man an, sich Sorgen zu machen."
Derzeit testen Wissenschaftler in Großbritannien einen experimentellen Antikörper-Cocktail, der laut ihnen verhindern könnte, dass jemand an COVID-19 erkrankt, der dem Coronavirus ausgesetzt ist. Die von den Krankenhäusern des University College London und der britisch-schwedischen Pharmafirma AstraZeneca entwickelte Behandlung verspricht, jedem eine sofortige Immunität zu verleihen, der dem Erreger ausgesetzt ist. Bei Impfstoffen hingegen kann es bis zu einem Monat dauern, um eine vollständige Immunität zu erreichen.
Übersetzung aus dem Englischen. Im Original erschienen auf RT.
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