Nahost

Iranischer Politikwissenschaftler Mousavi: Die Stunde des Iran hat gerade erst begonnen

Welche Auswirkungen hat die Ermordung von Generalmajor Qassem Soleimani auf die iranische Politik und für die Menschen? Wird Teheran nun nach Atomwaffen streben? Diese und weitere Fragen stellte RT dem iranischen Politikwissenschaftler Dr. Seyed Alireza Mousavi.
Iranischer Politikwissenschaftler Mousavi: Die Stunde des Iran hat gerade erst begonnenQuelle: AFP © Atta Kenare

Die Ermordung von Generalmajor Qassem Soleimani hat im Iran für sehr viele Emotionen gesorgt. Millionen Menschen begleiteten die Trauerprozession in verschiedenen Städten. Was bedeutet der Tod Soleimanis für die Menschen im Iran? Und was bedeutet er für die Regierung in Teheran? 

Ich bin Politikwissenschaftler, und einer meiner Schwerpunkte ist Politische Theologie. Deswegen versuche ich, Ihnen aus dieser Perspektive eine differenzierte Antwort zu geben, damit Sie verstehen können, warum die Ermordung des Generalmajors für die Iraner so dramatisch und wichtig war. In den letzten Tagen haben Sie sicher beobachtet, wie viele Millionen Iraner an dem Trauerzug des Generalsmajors teilgenommen haben. Der Südirak und vor allem die Stadt Kerbela ist in der Erinnerung der Iraner ein verlorenes Land. Kerbela liegt am Euphrat, wo Altpersien in der Phase seines Untergangs im Jahre 638 mit der Eroberungspolitik der Araber und der Ausdehnung des Islam konfrontiert wurde. Und insofern erweckt dieses Gebiet bei den Iranern unbewusst immer das Gefühl des Verlusts.

Dieses Gefühl verstärkte sich in den nächsten Jahrzehnten im Kontext der islamischen Geschichte. Denn in der Schlacht von Kerbela, die sich im Jahre 680 im Irak ereignete, wurde der Prophetenenkel Imam Hussein getötet. Mit dieser Schlacht war die schiitische Hoffnung, ihren dritten Imam anstelle von Yazid I. als Oberhaupt der islamischen Gemeinde einzusetzen, gescheitert. Die Schlacht von Kerbela steigerte sich somit nachträglich zu einem schiitisch-iranischen Mythos.

Nun, Soleimani war der Architekt der Achse des Widerstands und maßgeblich an der Verhinderung von westlichen Regime-Change-Plänen in Syrien und anderen Ländern der Region beteiligt. Vor allem seine Präsenz und Schlüsselrolle im Irak, wo er einen Kollaps des irakischen Staates und die Bildung des selbst ernannten Islamischen Staates an der Grenze zum Iran verhindert hatte, rief die Erinnerung an das verlorene Land bei den Iranern wieder wach. Immer wenn der iranische Einfluss im Irak auf dem Spiel stand, war Soleimani persönlich vor Ort. Generalmajor Soleimani war für die Iraner der Zurückgewinner der zivilisatorischen und kulturellen Grenzen des Iran und gleichzeitig der Beschützer der heiligen schiitischen Pilgerstätten im Irak vor den sunnitischen Fanatikern (IS). Die Ermordung Soleimanis wurde insofern zu einem neuen nationalen Narrativ im Iran und in der schiitischen Community im Nahen Osten hochstilisiert, die in den nächsten Jahren die Außenpolitik des Iran prägen wird.

Kritiker im Westen sagen, dass noch vor wenigen Wochen die Proteste im Iran in weiten Teilen der Bevölkerung auf Unterstützung stießen und dass es deswegen kaum vorstellbar ist, dass sie jetzt plötzlich hinter der Regierung stehen. Wie schätzen Sie solche Äußerungen ein?

Das Problem besteht darin, dass die sogenannten westlichen Kritiker so wenig mit dem politischen System im Iran vertraut sind. Die Rechtsordnung der Islamischen Republik Iran ist weder eine pluralistische Demokratie in europäischer Gestalt noch eine Autokratie, wie die Kritiker und Journalisten in Deutschland denken. Im politischen System des Iran gibt es mehrere Machtpole, die sich gegenseitig ausbalancieren, wobei jedes Machtzentrum genug Macht hat, um nicht ausgeschaltet zu werden. Die iranische Regierung, die traditionell dem liberalen Lager zugehört – mit Ausnahme Ahmadinedschads, der sich selbst auch der Elite der iranischen Konservativen nicht zugehörig fühlte –, entschied damals über die Benzinpreiserhöhung und deren Umsetzung in einem falschen Moment und verursachte damit die Proteste.

Die Protestler haben im Grunde gegen Rohanis Regierung protestiert, während die Iranische Revolutionsgarde und das Parlament die Entscheidung der Regierung für kritisch hielten. Unter diesen Umständen traf Ajatollah Chamenei als Vertreter der Souveränität und einer der Machtpole des politischen Systems eine politische Maßnahme und unterstützte die Entscheidung der Regierung zur Umsetzung des neuen Gesetzes, um damit die Spaltung des Landes zu verhindern. Also gab es keinen Protest gegen die iranische Staatsordnung, sondern einen Protest gegen die Regierung. Dabei soll nicht die Rolle der ausländischen Akteure in der Region unterschlagen werden, die die Proteste in eine gewaltsamen Richtung entwickeln wollten.

Welche Auswirkungen wird der Tod Soleimanis auf die sogenannte Achse des Widerstands haben? Sehen Sie diese geschwächt, oder wird sie gestärkt aus dieser Krise hervorgehen? 

Die Ermordung Soleimanis stärkt sicher die Achse des Widerstands. Dafür gibt es einen Grund: Der Westen und vor allem die Amerikaner hatten mit der irakischen Regierung seit dem Aufstieg der IS-Islamisten zusammengearbeitet, wobei sie die Iraker als einen Partner in der Region gesehen hatten. Nach dem US-Anschlag hat das irakische Parlament beschlossen, dass ausländische Soldaten dort nicht mehr willkommen sind. Das ist sicher ein großer Erfolg für die Achse des Widerstands, der dem Blut des iranischen Generals zu verdanken ist. Durch die Ermordung Soleimanis wurde bereits den Grundstein für den Abzug der US-Truppen aus dem Nahen Osten gelegt.

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Dem Iran wird vorgeworfen, Terror zu "exportieren". Dabei wird insbesondere die Unterstützung für die Hisbollah im Libanon als Grund genannt. Wie bewerten Sie solche Vorwürfe, und welche Rolle spielt diese Achse des Widerstands im Iran?

Hinter der Erklärung der Hisbollah zur Terrororganisation stecken eher politische Gründe und Machtkalkül. Die Hisbollah ist gegen die Präsenz der Amerikaner und deren westlichen Regime-Change-Apparat in der Region. Sie hat einen großen Beitrag zum Kampf gegen den IS geleistet, womit sie die Flüchtlingsströme nach Europa entschärft und den Kollaps des syrischen Staates verhindert hat. Der Iran ist im Grunde der Architekt des schiitischen Halbmonds in der Region.

Ich bin der Meinung, dass der Iran in der Phase der Wiederherstellung seiner zivilisatorischen und kulturelleren Zone in der Region nach 2.500 Jahren seit der Gründung des Altpersischen Reichs durch Kyros ist. Dies geht seit Jahren mit der Schwächung des Westens, vor allem der USA, und dem Aufstieg neuer Akteure wie Russland und der Türkei in der Region einher. Dabei handelt es sich bei meiner Analyse gar nicht um die politischen Ambitionen der Islamischen Republik Iran. Dieser Staat ist nur der Träger dieser neuen Umwälzung von Machtverhältnissen in der Region.

Welche Konsequenzen wird Ihrer Meinung nach die Führung um Ajatollah Chamenei aus dem Anschlag auf einen so hochrangigen General ziehen? Wird es eine Änderung der Politik zur Folge haben, und wenn ja, wie könnte diese aussehen?

Der Iran bleibt in der Region – also im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen – weiterhin politisch, kulturell und wirtschaftlich aktiv, die Ermordung Soleimanis ändert nichts daran. Denn Soleimani war in der Revolutionsgarde nicht der Einzige, der die Beziehungen zu den schiitischen Gruppen in der Region knüpfte, anders, als westliche Medien es darstellen. Ganz im Gegenteil: Der Struktur der Garde ist es zu verdanken, dass zwischen der Revolutionsgarde und schiitischen Milizen im Irak und im Libanon ein enges Verhältnis besteht. Die Beziehungen, die viele dieser Gruppierungen zusammenschweißen, sind Generationen alt und gründen auf gemeinsamer Geschichte und Kultur. General Soleimani hatte keine Sonderstellung. Der Iran und seine Bevölkerung blicken in der Region auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück, und die lässt sich mit Attentaten und Drohnenangriffen nicht ausmerzen. Und das weiß auch die Führung um Ajatollah Chamenei, dass die Stunde des Iran, gerade nach der Ermordung des iranischen Generals durch einen fremden Akteur, in der Region gekommen ist.

Was bedeutet das Hissen der blutroten Fahne über der Kuppel der heiligen Dschamkarān-Moschee in Qom? Wie stehen die Menschen im Iran dazu?

In der schiitischen Tradition symbolisiert die rote Fahne das ungerechte Vergießen von Blut. Ihre Verwendung geht zurück auf die Zeit des Imam Hossein, des dritten Imams der Schiiten, der 680 n. Chr. zusammen mit Dutzenden seiner Anhänger in der Schlacht von Kerbela enthauptet wurde. Die Fahne zeigt die Absicht der schiitischen Muslime, ihren getöteten Anführer zu rächen. Mit den iranischen Raketenangriffen auf zwei von US-Soldaten genutzten Militärstützpunkte am Mittwoch wurde diese Rache ausgeübt.

Die deutsche Regierung hat sich hinter die USA gestellt, die Tötung Soleimanis indirekt gebilligt und den iranischen Vergeltungsschlag scharf verurteilt. Wie wird das im Iran bewertet, und was bedeutet es für die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran?

Das hat die Iraner nicht gewundert, weil die Iraner schon wissen, dass die Staatsräson der BRD Israels Sicherheit ist.

Wird der Iran nun nach Atomwaffen streben, um sich besser schützen zu können?

Der geistige Führer des Iran Ajatollah Chamenei hat längst eine Fatwa (mündlich 2003 und offiziell 2010/Anm. der Redaktion) abgegeben, der zufolge der Islam den Bau von Massenvernichtungswaffen, also Atombomben, verbietet. Im Kontext der schiitischen Theologie kann man sich einer Fatwa (Rechtsgutachten) nicht einfach aus politischem Kalkül widersetzen. Abgesehen davon beruht der iranische Machtapparat in der Region vielmehr auf kulturellen Faktoren als auf Waffen. General Soleimani war nicht deshalb ein einflussreicher Mann in Syrien und im Irak, weil er und seine Milizen militärisch gut ausgerüstet waren, sondern weil er mit der schiitischen Bevölkerung der Region ein gemeinsames kulturelles Narrativ mitgestaltet hatte. Das ist der entscheidende Punkt, den die Amerikaner wegen ihres Hochmuts bewusst ignorieren. 

Dr. Seyed Alireza Mousavi ist Politikwissenschaftler und promovierte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. 

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