Nahost

Interview: Mit Stand-Up-Comedy gegen die israelische Besatzung im Westjordanland

Dschenin im Westjordanland beheimatet das Fragments Theater und den ersten Comedy Club. RT Deutsch sprach mit dem künstlerischen Direktor über Herausforderungen, Hoffnungen und Träume. Der Gründer des ursprünglichen Freedom Theaters wurde ermordet.
Interview: Mit Stand-Up-Comedy gegen die israelische Besatzung im WestjordanlandQuelle: Reuters © Mohamad Torokman

Die Stadt Dschenin im Westjordanland gilt als besonders arm. Die Arbeitslosenquote liegt bei 80 Prozent. Viele der Gebäude sind zerstört. Im Flüchtingscamp von Dschenin verwirklichte der jüdisch-arabische Aktivst, Schauspieler und Regisseur, Juliano Mer-Khamis 2006 das Freedom Theater. Ursprünglich stammte die Idee hierzu von seiner jüdischen Mutter, nachdem diese im Zuge der ersten Intifada ein Theater für die traumatisierten Jugendlichen gründete. Sein Vater war Führer der kommunistischen Partei Israels. Im Jahr 2011 wurde Mer-Khamis vor den Augen seines Sohnes von maskierten Männern in Dschenin ermordet. Hamas und Fatah schieben sich hierfür gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Der Palästinenser Mustafa Staiti führt die Idee von Mer-Khamis fort und gründete ein Jahr nach dessen Ermordung Ganz im Sinne der Idee vom Mer-Khamis das "Fragments Theater".

RT Deutsch: Bitte stellen Sie sich unseren Lesern vor.

Mustafa Staiti: Mein Name ist Mustafa Staiti, ich bin 32 Jahre alt und lebe in meiner Geburtsstadt Dschenin. Heute bin ich künstlerischer Leiter des Freedom Theater. Damit haben wir 2012 begonnen. Nachdem Juliano ermordet wurde, mussten wir irgendwie weitermachen. Also beschlossen wir unser eigenes Theater zu eröffnen. Dies gab uns die Möglichkeit frei zu sein und von hier auszubrechen. Wir wollten damit weitermachen. Und jetzt haben wir das Fragment Theater, was in der Stadt Dschenin ist. Vorher war es im Flüchtlingscamp. Aber jetzt sind wir viel freier in unseren Aktivitäten was die Probleme der Gesellschaft anbelangt. Aber natürlich haben wir so viele andere Hindernisse.

Mustafa Staiti sitzt in einem traditionell palästinensischen Gewand in der bunt gekachelten Küche seines Hauses und raucht. Die Internetverbindung in Dschenin führt zu mehreren Unterbrechungen, die er mit "Dritte-Welt-Probleme" kommentiert. Sein Haus bezeichnet er als komfortabel und betont immer wieder, dass seine Familie nebenan wohne. Ein Privileg, das er bei einer Flucht vermissen würde. 

RT Deutsch: Zum Theater gehört auch ein Comedy Club. Stand-Up-Comedy in Dschenin? Ein Widerspruch oder vielleicht der beste Ort dafür?

Mustafa Staiti: Das ist der erste Comedy Club im Westjordanland. Am Anfang waren wir besorgt, ob dies auch in einer arabischen Version funktioniert oder nicht. Wir wollten es erst für die Menschen machen, die die Comedy machen. Comedy funktioniert gut bei den Leuten, die sie machen, es bereichert sie, und sie können mit ihrem Leben weitermachen, wie auch die Zuschauer. Wir schaffen eine andere Atmosphäre in der Stadt und das macht viele Menschen glücklich. Andere sind besorgt, stören uns aber bislang nicht.

RT Deutsch: Wie ist das Leben in Dschenin? Was sind die Hauptprobleme?

Mustafa Staiti: Also, Dschenin – ich weiß nicht, ob Sie eine Vorstellung davon haben – ist eine der schwierigsten Städte im Westjordanland mit schlimmer Geschichte, wenn es um Gewalt und Intifadas geht, besonders die zweite Intifada. Die Menschen zählen auch zu den Konservativsten, dies ist auch der politischen Lage geschuldet. Unsere Städte werden zerstört.

Die Menschen sind viel konservativer, was die Religion und die Traditionen anbelangt, als ein Mittel zum Schutz, und das schafft Probleme in der Gemeinschaft. Wir haben hier keine (jüdischen) Siedlungen, aber wir sind eingesperrt. Die meisten Menschen aus Dschenin können nicht in israelisches Gebiet, auch wenn sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Die israelische Armee hasst diese Stadt.

Die wirtschaftliche Lage ist eine der schlimmsten im Westjordanland, weil Dschenin weit weg vom Hauptwirtschaftszentrum Ramallah ist, und es hat nicht die gleichen Möglichkeiten wie Nablus in der Wirtschaft, in der Industrie, in Sachen Kapital. Die meisten Menschen aus Dschenin sind Bauern, oder sie arbeiten im Baugewerbe oder für die Regierung, also beispielsweise in den Schulen, der Verwaltung oder bei der palästinensischen Polizei.

Viele kommen von Israel aus nach Dschenin, um Billigprodukte einzukaufen. Das bringt ein bisschen Geld in die Region, was die Stadt am Leben hält. Aber sobald die Grenze geschlossen wird, gibt es Probleme. Bei den Produkten handelt es sich um Plastikgeschirr, Gemüse, Essen. Wir haben Platz für Landwirtschaft, aber haben ein Wasserproblem wegen der israelischen Praxis, das Wasser abzuzweigen. Wir in Dschenin gelten als "Bad Boys" des Westjordanlands, kann man sagen.

RT Deutsch: Das Symbol Ihres Theaters ist eine geteilte Maske, bestehend aus einem lachenden und einem traurigen Gesicht. Ist dies eine Metapher für das Leben der Palästinenser?

Mustafa Staiti: Ja, total. Das traurige Gesicht ist viel größer, und das ist das Problem. Wir haben so viele Probleme, wir wissen nicht, wo wir anfangen sollen. Die jetzige Generation ist ganz anders als die von vor 20 Jahren. Ich wurde in den 80ern geboren, und wir hatten kein Internet, keine Computer. Heute haben wir durch das Internet Zugang zur Außenwelt, sind aber physisch abgeschirmt und müssen einen Weg finden. 

RT Deutsch: Ist die Kunst ein Retter in der Not? Was ist der Inhalt der Darbietungen?

Mustafa Staiti: Wir beziehen Menschen von hier mit ein, und wir haben die Kraft unserer Historie, unserer Charaktere, unserer Beziehungen. Wir agieren nicht aus der Schwäche heraus, damit wir stark bleiben. Also sind uns Menschen egal, die versuchen, uns zu schaden. Alle Fenster sind offen. Wir haben keine versteckte Agenda. Wir haben aber die Werkzeuge, uns zu befreien. Wir versuchen immer, den Hintergrundgedanken zu erklären, nicht zu emotional und zu direkt bezüglich der eigenen Geschichte zu sein. Alles ist politisch. Wenn man vor der Politik wegrennt, rennt man nur vor sich selbst weg. Wir sind nicht hier, um die Wahrheit zu verschweigen. Wir sind aber auch nicht hier, um den Weg zu beschreiten, den die Palästinenser in den letzten 60 Jahren gegangen sind.

Unsere Geschichten sind hier und klar. Wir müssen einen intelligenten Weg finden. Erstens haben die Palästinenser genug von der Politik gehört, zweitens hat die internationale Gemeinschaft durch die Gehirnwäsche aller möglichen Medien genug gehört.

Einige der Auftritte behandeln politische Aspekte, manche interne Konflikte. Jeder weiß, dass wir eine Regierung haben, die auf eine bestimmte Art agiert, weil sie nicht ihre Macht verlieren will. Auch wissen wir, dass es so viele versteckte Agendas gibt von anderen Leuten, die versuchen zu kontrollieren oder versuchen, Chaos anzurichten. Das wollen wir keinesfalls, und besonders nicht meine Generation, die die erste und die zweite Intifada durchlebt hat. Ich will nicht, dass meine Neffen die gleichen Erfahrungen machen, die ich gemacht habe.

RT Deutsch: Welche Botschaft wollen Sie den Zuschauern vermitteln?

Mustafa Staiti: Wir bringen keine professionellen Schauspieler mehr auf die Bühne wie zu Beginn des Theaterprojekts. Wir versuchen, das Theater als eine Art Therapie zur Selbstbestimmung zu nutzen, mit Kindern, die schon Talent im Rappen oder Tanzen mitbringen. Sie haben keine Ahnung von Theater. Wir geben ihnen Training. Wir sprachen mit ihnen über die Schule und fanden heraus – naja, wir kennen das von uns selbst –, wir haben furchtbare Schulen. Die Probleme beginnen, wenn nicht schon zu Hause, spätestens in der Schule. Die Schulen haben die Kriegsprobleme ergänzt. Es ist wichtig, über die Erziehungsprobleme im Nahen Osten, in der Dritten Welt, in Palästina zu sprechen. Als wir begannen, ihre Geschichten aufzuschreiben, schrieben sie über ihre Lehrer, und wir fanden heraus, dass jeder der Lehrer zu einer bestimmten politischen Gruppe gehörte. Also Lehrer, die islamistische Extremisten oder links orientiert sind. Also geht es um die Erziehung und Ideologien, die durch das Sytem kontrolliert werden. Diese Geschichten verstanden auch unsere Zuschauer in Marokko. Es ging in dem Stück letztlich um einen Neuzugang an der Schule und wie das Kind gegen die Kontrolle des Systems für das eigene Recht kämpft.

RT Deutsch: Öffnet das Theater die Tore zur Welt mit internationaler Kooperation?

Mustafa Staiti: Ich möchte hier nicht zynisch erscheinen. Wir wussten über unsere Macht Bescheid. Viele Menschen sind daran interessiert, Teil der palästinensischen Sache zu werden. Aber die Punkt ist, wir müssen wissen, wie wir diese nutzen können. Wir hatten Besuch von Larry Charles. (Der New Yorker Regisseur und Autor begann seine Karriere als Stand-Up-Komiker. Er führte Regie bei "Borat" und "Der Diktator" mit Sascha Baron Cohen.)

Wir hatten keine Ahnung, dass dies passieren würde. Wir begannen mit dem Comedy Club, und vier Jahre später hatten wir Besuch von Larry Charles. Er hat in den 80ern und 90ern Komödien gemacht, die ich als Kind gesehen habe. Er ist ein Idol für mich. Also, als wir anfingen, wir selbst zu sein, erhielten wir Unterstützung, und wir verdienen Unterstützung. Es ist unser Recht. Wir betteln nicht. Erst zeigten wir uns gegenüber und dann anderen gegenüber, dass wir gut in dem sind, was wir tun. Geld ist wichtig, Unterstützung ist wichtig, (...) aber wir sind in der Lage, diese Arbeit zu machen, ohne dass uns irgendjemand unterstützt. Wir drängen nicht so sehr auf Unterstützung, wir wollen uns langsam verbessern. Wir arbeiten so, dass wir und die Gemeinschaft sich verbessern. Es gibt mehr und mehr Freiheit, und in den letzten fünf Jahren ist so viel passiert. Wir können sagen, wir sind Teil der Veränderung.

RT Deutsch: Was hat sich verändert? Wo gibt es Veränderungen in Dschenin? 

Mustafa Staiti: Wir haben heute Cafés, in denen sich Jungs und Mädchen treffen können. Heute geht das. Vor fünf Jahren gab es das nicht. Das war inakzeptabel. Heute können wir Theater auf der Straße spielen. Die Leute, denen das gefällt, bleiben und sehen zu, die anderen gehen weiter. Der Mehrheit gefällt dies.

RT Deutsch: In einem Video über das Freedom Theater mit Juliano heißt es, dass viele Kinder an einer posttraumatischen Störung litten. Ist dies auch ein Weg, um Probleme zu überwinden?

Mustafa Staiti: Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass jeder – wirklich jeder – an posttraumatischen Störungen leidet. Aber manche Leute können damit besser umgehen als andere. Viele Kinder leiden jeden Tag darunter, es sei denn, sie haben die Kunst oder etwas, das sie vom alltäglichen Leben ablenkt.

RT Deutsch: In einem Video des Freedom Theater sah ich, dass es einfacher ist, Darsteller als Zuschauer zu finden. Ist das korrekt?

Mustafa Staiti: Ich kreiere eine neue Gemeinschaft, die hilft und kontrolliert. Man kann sagen, dass man mit dem Theater auch eine Gemeinschaft gründet, die gesund genug und kontrolliert genug ist, um Theater als etwas Alltägliches und eine normale Routine zu sehen. Das ist nicht einfach für uns. Erst formt man die Darsteller, diese bringen dann ihre Zuschauer mit. Dies dauert Jahre des Ausprobierens, bis man endlich eine feste Zuschauerriege hat.

RT Deutsch: Ist es schwierig für Sie, zu reisen?

Mustafa Staiti: Es ist schwierig und frustrierend, und ich habe gerade festgestellt, dass ich eine Phobie vor Visas entwickelt habe. Es ist absurd. Heute habe ich Leute, die die Anträge für mich stellen, aber ich muss zu Interviews und Terminen. In 90 Prozent der Fälle bekomme ich das Visum nicht. Die schicken mich nach Jordanien, und dann gerate ich an der Grenze in Schwierigkeiten wegen unsinniger Sachen. Über die jahrelangen Versuche habe ich (psychische) Probleme bekommen.

RT Deutsch: Wie sehen Sie die Zukunft Dschenins? Sind sie optimistisch?

Mustafa Staiti: Es ist schwer, optimistisch zu sein, ich bin realistisch. Und solche Menschen sind weit weg vom Optimismus. Aber ja, ich bin optimistisch, denn sonst wäre ich nicht hier, sondern wäre jetzt vielleicht in Deutschland.

RT Deutsch: Hatten oder haben Sie die Möglichkeit, wegzugehen?

Mustafa Staiti: Sicher. Ich könnte jetzt weg, es wäre nicht ganz so einfach, aber ich könnte weg. Aber dann verliere ich das Hauptanliegen meiner Existenz, denke ich. Vielleicht liege ich da falsch, ich weiß es nicht. Ich habe ein Bein hier und ein Bein außerhalb. Aber derzeit – in diesem Jahr – ist das Bein hier vor Ort stärker. Ich weiß, dass dunkle Tage hinter uns liegen. Ich kann den Stress spüren, der hier in der Luft liegt, aber ich kann nicht vor meinen Verpflichtungen fliehen. Aber ich will keine Minute verlieren. Ich bin hier glücklicher als anderswo. Meine Familie ist nebenan.

RT Deutsch: Wir bedanken uns für das Interview.

Das Interview führte RT-Deutsch-Redakteurin Olga Banach. 

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