Nahost

Analyse: Die Wahlen im Libanon und die möglichen Folgen

Die Parlamentswahlen im Libanon sind am Sonntagabend ohne Zwischenfälle zu Ende gegangen. Mehr als 3,7 Millionen Wahlberechtigte waren registriert, darunter 82.000 im Ausland lebende Libanesen. Wie geht es nun nach den Wahlen im Libanon weiter?
Analyse: Die Wahlen im Libanon und die möglichen Folgen© Aziz Taher

von Karin Leukefeld, Beirut

Um einen der 128 Sitze im Parlament zu erringen, waren 583 Kandidaten angetreten, darunter 86 Frauen. 77 Listen standen in den 15 Wahlbezirken landesweit zur Wahl. Ein neues Verhältniswahlrecht sollte die Rechte von kleinen Parteien und Minderheiten stärken, sorgte aber auch für Verzögerungen im Wahlablauf und bei der Auszählung. Letztlich aber führte es dazu, dass "den Parteien ihr tatsächliches gesellschaftliches Gewicht verliehen" wurde, wie ein libanesischer Beobachter es ausdrückte.

Als pünktlich um 19.00 Uhr am Sonntagabend die Türen der 6.793 Wahlzentren in den 15 Wahldistrikten Libanons schließen sollten, hatten noch nicht alle Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Das Innenministerium ordnete daraufhin an, dass alle, die sich noch in oder vor den Wahlzentren befänden, ihr Wahlrecht wahrnehmen sollten. Zwei Stunden später als ursprünglich geplant wurde dann offiziell mit der Auszählung der Stimmen begonnen.

Bis zum Nachmittag hatten in den beiden Bezirken von Beirut (I, II) knapp 25 Prozent gewählt. Politiker zeigten sich besorgt über die geringe Wahlbeteiligung und appellierten an die Bevölkerung, wählen zu gehen. Präsident Michel Aoun erklärte, wer einen politischen "Wandel will, muss sein Wahlrecht wahrnehmen".

Als Grund für die späte Stimmabgabe nannten Gesprächspartner die Zusage verschiedener Kandidaten und Parteien, die Stimmabgabe mit US-Dollar vergüten zu wollen. Stimmen, für die am Morgen 200 US-Dollar gezahlt wurden, erreichten am Mittag bereits einen Preis von 300 US-Dollar. Bis zur Schließung der Wahllokale wurde ein Ansteigen der Prämie erwartet, daher würden viele mit der Stimmabgabe warten. Bis zu 1.000 US-Dollar und mehr soll in den Wahlbezirken Zahle und in der Bekaa-Ebene für eine Stimme geboten worden sein. Die Autorin konnte das nicht überprüfen. Von etlichen Wählern allerdings erfuhr sie, dass Hisbollah und Amal ihren Anhängern Coupons für jeweils 20 Liter Benzin zugesagt hatten.

Das neue Verhältniswahlrecht hatte es auch Organisationen der Zivilgesellschaft ermöglicht, Kandidaten und Kandidatinnen aufzustellen. Vor allem Frauen machten davon Gebrauch und wurden dabei teilweise von der Kommunistischen Partei des Libanon unterstützt. Eine Quote, die den Frauen 30 Prozent der 128 Parlamentssitze sichern sollte, hatte im Vorfeld der Wahlen keine parlamentarische Mehrheit gefunden.

Dagegen gilt weiterhin die von der französischen Mandatsmacht 1926 eingeführte Quote, wonach 50 Prozent der Parlamentssitze Christen und 50 Prozent sunnitischen und schiitischen Muslimen vorbehalten sind. Die prozentuale Aufteilung unter den Religionsgruppen im Libanon dürfte aber fast 100 Jahre später eine andere Realität darstellen. In jedem Fall stellen die Muslime im Libanon gegenüber den Christen eine deutliche Mehrheit dar. Um das komplizierte Machtgefüge des Zedernstaates nicht zu erschüttern, soll das aber weiter nicht offiziell anerkannt werden.

Die letzte Volkszählung, die Auskunft über die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung Auskunft gab, fand 1932 statt. Das Taif-Abkommen, mit dem 1989 der Bürgerkrieg (1975-1990) beendet wurde, bestätigte die konfessionelle Machtverteilung. Zwar sieht ein Paragraph des Abkommens vor, dass eine Trennung von Religion und Politik und ein säkularer Staat erreicht werden soll. Die Umsetzung lässt aber weiter auf sich warten.

Bei den ausgehängten Wahlregistern war hinter dem Namen der Wahlberechtigten, den Namen von Vater und Mutter und dem Geburtsdatum auch jeweils die Religionszugehörigkeit vermerkt. Auch die Kandidaten wurden konfessionell als Sunniten, Schiiten, Maroniten, Armenier, Griechisch-Orthodoxe, Protestanten, Drusen und so weiter eingeordnet. Im Wahlbezirk Baabda, in Haret Hreik, einem der südlichen Vororte von Beirut (Dakhye) war ein Wahlzentrum für Muslime, ein zweites für Christen eingerichtet. Hier wählten Männer und Frauen jeweils gemeinsam, wenn auch in unterschiedlichen Räumen.

In den Beiruter Bezirken I und II hingegen waren die meisten Wahlzentren für Männer und Frauen in getrennten Schulen untergebracht. In den Vormittagsstunden waren nur wenige Männer in den Wahlzentren anzutreffen, während die Wahlzentren für die Frauen fast überlaufen waren. "Wir warten hier auf unsere Frauen", erklärte ein älterer Mann, der in einer Gruppe von Männern vor einem Wahlzentrum für Frauen wartete. Er werde anschließend wählen gehen, sagte er und fügte schmunzelnd hinzu: "Ladies first".

Nach ersten inoffiziellen Auszählungen war am Montagmorgen klar, dass die Hisbollah und ihre Verbündeten als klare Sieger aus den Wahlen hervorgegangen sind und bis zu 60 Sitze im neuen Parlament einnehmen werden. Großer Verlierer ist Saad Hariri, dessen Zukunftspartei ein Drittel ihrer Sitze verloren hat und im neuen Parlament nur noch mit voraussichtlich 21 Abgeordneten vertreten sein wird. Während das frühere Mehrheitswahlrecht nach dem Motto "Der Sieger bekommt alles" Hariri eine sichere Mehrheit lieferte, sorgt das neue Verhältniswahlrecht dafür, dass alle Parteien nach ihrem tatsächlichen gesellschaftlichen Gewicht bewertet werden.

Selbst in Beirut war es Hariri nicht gelungen, seine bisher festen Anhänger zu mobilisieren. Beobachter führten das schwache Abschneiden Hariris darauf zurück, dass seine Anhänger von ihm und seiner Politik zutiefst enttäuscht waren. Zudem war offenbar die finanzielle Unterstützung Hariris aus Saudi-Arabien ausgeblieben. Riad hatte diesmal Samir Geagea und dessen extrem rechtsgerichtete Partei "Libanesische Kräfte" (LF) unterstützt. Die LF könnte mit 12 Abgeordneten im neuen Parlament vertreten sein. Für eine Überraschung sorgte die Marada-Bewegung von Suleiman Frangieh Junior, die mit ihren Verbündeten bis zu neun Abgeordnete im neuen Parlament haben könnte. Die Partei gilt als säkular und steht im Konflikt in Syrien hinter der Regierung von Präsident Baschar al-Assad.

Trotz einer entsprechenden Ankündigung lag bis zum Montagabend noch kein offizielles Wahlergebnis vor. Der noch amtierende Innenminister Nouhad Maschnouk machte dafür das neue Wahlgesetz und das komplizierte Auszählungsverfahren verantwortlich. Politische Führer wandten sich dennoch im Laufe des Montagnachmittags an die Öffentlichkeit. Saad Hariri räumte die Niederlage ein und rief dazu auf, bald eine neue Regierung zu bilden. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah erklärte über den Nachrichtensender Al Manar, der der Hisbollah nahesteht, die Wahlen seien ein Sieg für alle Libanesen, die an der Wahl teilgenommen hätten.

Eine starke Präsenz (von Hisbollah, Amal und Verbündeten) im neuen Parlament sei aus zwei Gründen wichtig, so Nasrallah. Einerseits müsse die Existenz des Widerstandes (Hisbollah) gesichert und geschützt werden, andererseits könne nur ein starker parlamentarischer Block die Umsetzung des Wahlprogramms gewährleisten.

Nasrallah appellierte an die Einheit der Libanesen und erklärte, es gebe weder Lehrer noch Schüler, sondern nur Schüler der gleichen Schule der Nation (Libanon). "Um jeden Konflikt im Land zu vermeiden, müssen wir alle konfessionellen, regionalen und aufrührerischen Reden vermeiden, wie wir sie vor den Wahlen gehört haben", so Nasrallah. Obwohl es unterschiedliche Meinungen bei verschiedenen Themen gebe, "können wir nicht so tun, als gäbe es den anderen nicht. Wir müssen Raum für Verständigung lassen."

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