Syrien ist gefallen ‒ Russland steht vor schwierigen Entscheidungen
Von Irina Alksnis
Der rasche Kollaps in Syrien löste zwei der hitzigsten Debatten aus: erstens, warum er geschah, und zweitens, wie Russland und Iran (der dort weitaus umfangreichere und ernsthaftere Interessen hat) eine solche Entwicklung überhaupt zulassen konnten. Sofort meldeten sich viele "Experten" zu Wort, die sich angeblich gut mit den örtlichen Gegebenheiten auskennen. Aber es gab noch mehr "Spezialisten", die die Fehler Moskaus anprangerten. Russland habe es ihrer Meinung nach versäumt, die katastrophale Entwicklung der Ereignisse zu verhindern und seinen wichtigsten Verbündeten in der Region zu retten, und habe infolgedessen eine schwere geopolitische Niederlage erlitten. All seine Bemühungen, die aufgewendeten Ressourcen und die in Syrien gefallenen russischen Soldaten seien umsonst gewesen.
Die Diskussion über die Gründe, warum die Ereignisse so verlaufen sind, überlassen wir denjenigen, die die Realitäten des Nahen Ostens wirklich verstehen. Doch über das zweite Thema — die Motivation für Moskaus Vorgehen — ließe sich trefflich diskutieren, da sie viel universeller ist und auf jede außenpolitische Richtung projiziert werden kann.
Vor allem muss man verstehen, dass die Zeiten der russischen Außenpolitik, in denen Entscheidungen auf der Grundlage ideologischer oder sentimentaler Erwägungen getroffen wurden, für immer vorbei sind. Russland handelt ausschließlich pragmatisch und orientiert sich nur an seinen eigenen Prioritäten. Es ist dazu bereit, seinen Partnern und Verbündeten auf einer für beide Seiten vorteilhaften Basis und genau im Rahmen seiner Eigeninteressen Hilfsleistungen und Unterstützung zukommen zu lassen. Unser Land übernimmt nicht mehr die Verantwortung für das Schicksal anderer.
Im Jahr 2015 kam Russland Syrien auf Ersuchen der legitimen syrischen Staatsführung zu Hilfe. Mit dieser Operation half Moskau nicht nur einem befreundeten Land, sondern löste auch mehrere — für sich selbst — wichtige Aufgaben.
Die vielleicht wichtigste vollzogene Aufgabe ist die Zerschlagung des "Islamischen Staats" (IS bzw. ISIS) unter aktiver Beteiligung Russlands. Für uns bestand die Hauptgefahr dieser Terrorbewegung darin, dass sie nach der Machtübernahme im Nahen Osten und Verstärkung ihrer Schlagkraft zwangsläufig nach Zentralasien vorgedrungen wäre — und dann sehr schnell unsere Grenzen erreicht hätte. Und das wäre etwa zur gleichen Zeit geschehen, als der Westen die Ukraine für einen Krieg mit Russland vorbereitete — dann hätten wir sehr schwere Kriege gegen Terroreinheiten an zwei Fronten gleichzeitig führen müssen.
Die Syrien-Operation verschaffte Russland eine qualitativ neue Einflussebene in der wichtigsten Weltregion und machte es dort zu einem der Hauptakteure. Trotz ihres begrenzten Militärformats vermittelte sie unseren Streitkräften einzigartige Militärerfahrungen, was in den heutigen Zeiten schlichtweg von größtem Wert ist. Außerdem wurden durch die russische Hilfestellung für Syrien im Jahr 2015 die westlichen Absichten — dieses Land beziehungsweise sein Territorium, vor allem im Energiesektor, für antirussische Machenschaften zu nutzen — zunichtegemacht.
Die Aufzählung der von Russland aus der Operation in Syrien gezogenen Pluspunkte ließe sich endlos fortsetzen, aber es stellt sich die berechtigte Frage: Wie wäre es möglich gewesen, Syrien fallen zu lassen und all diese Vorteile zu verlieren?
Überhaupt nicht. Die meisten der von Russland erzielten Vorteile sind unerschütterlich: Das Risiko eines Terrorkrieges an unseren südlichen Grenzen wurde beseitigt (zumindest für die absehbare Zukunft), die Militärerfahrung ist erhalten geblieben. Dank der Syrien-Operation konnte Russland dem Westen einen Vorsprung von fast einem Jahrzehnt vorenthalten, in dem sich die Welt radikal veränderte — und der Westen ist heute nicht mehr derselbe wie im Jahr 2015.
Jetzt stellt sich vor allem die Frage, was mit unseren Militärstützpunkten in Latakia und unserem geopolitischen Einfluss im Nahen Osten geschehen wird. Nun, das Leben wird es zeigen. Aber es gibt Grund zu der Annahme, dass die Kritiker und Pseudo-Patrioten wieder einmal sehr enttäuscht sein werden, denn Moskau findet einen Ausweg zur Schadensminimierung, und bald werden die westlichen Medien mit dem Finger auf Putins absolute Hinterlist zeigen und sagen, er habe die Situation wieder einmal zu Russlands Gunsten gewendet.
Doch egal, wie man es dreht und wendet, die Lage in Syrien ist nicht nur schlecht, sondern — ehrlich gesagt — katastrophal. Es besteht kein Zweifel, dass die verantwortlichen Strukturen vor einer umfangreichen und komplexen Aufgabe stehen. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn diese Aufgabe nicht nur von Russland, sondern von all unseren Partnern erfüllt würde.
Die wichtigste Schlussfolgerung liegt jedoch auf der Hand: Jedes Land ist für sein eigenes Schicksal verantwortlich und büßt für seine eigenen Entscheidungen und Handlungen selbst.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 8. Dezember 2024 zuerst bei RIA Nowosti erschienen.
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