Israels Angst vor der Bildung für Palästinenser
Von Tom J. Wellbrock
Einst sang Reinhard Mey:
"Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm:
'Halt Du sie dumm, ich halt sie arm.'"
Was Reinhard Mey meinte, sieht man an vielen Stellen, zum Beispiel am Zustand des deutschen Bildungssystems, das zu einem Instrument verkommen ist, um statt eigenständiger Bürger willfährige Dummköpfe zu erziehen. Ähnliches soll nach dem Willen Israels künftig auch im Gazastreifen passieren. Die Attacken auf das UNRWA belegen das.
Angriff durch Bildung
Schon im Jahr 1949, als das Hilfswerk UNRWA gegründet wurde, war klar, dass die durch die Gründung Israels vertriebenen Palästinenser dringend diese Hilfe benötigen werden. Zuvor wurde bereits 1948 der Sonderfonds United Nations Relief for Palestine Refugees (UNRPR: Hilfe der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge) gegründet, ein Jahr später folgte wegen Notwendigkeit die Gründung des UNRWA. Zu dessen Kernaufgaben gehörten und gehören:
- Fürsorge und Sozialdienste
- Ausbildung
- Medizinische Versorgung
- Lagerinfrastruktur und -verbesserung
- Kleinkredite
- Schutz
- Humanitäre Hilfe (darunter Lebensmittelversorgung)
Selbst die deutsche Wikipedia, die sich ohne Problembewusstsein auf die aktuellen Vorwürfe gegen das UNRWA gestürzt und diese – ebenso wie die meisten anderen westlichen Medien – ungeprüft übernommen hat, schreibt zu der Aufgabe von Bildung und Ausbildung unter Federführung des UNRWA:
"UNRWA betreibt eines der größten Schulsysteme im Nahen Osten. Jeden Tag erhalten ca. 500.000 Kinder ihre Schulbildung in einer der knapp 700 UNRWA-Schulen in der Region, deren Lehrplan jenem der staatlichen Schulen angeglichen wurde. In einem UNRWA-Schulgebäude sind oft zwei Schulen untergebracht, der Unterricht findet dann in zwei Schichten statt. Durch acht UNRWA-Zentren in der Region fördert UNRWA auch technische und handwerkliche Ausbildung (TVET – Technical Vocational Education and Training) für ungefähr 7200 Palästina-Flüchtlinge.
Mit der Zeit haben sich die UNRWA-Schulen einen Ruf für hohe schulische Leistungen und niedrige Abbrecherquoten bei gleichbleibender Geschlechterparität seit den 1960er-Jahren verdient. UNRWA-Schulen übertreffen öffentliche Schulen kontinuierlich um eine Spanne, die mehr als einem zusätzlichen Schuljahr entspricht, heißt es in einem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2014.
Nach der Hauptschule können palästinensische Kinder die Oberstufe einer öffentlichen Mittelschule besuchen und sich um ein UNRWA-Stipendium für eine Hochschule bewerben. Oder sie können versuchen, einen der etwa 5.600 Studienplätze in einer der acht Berufsschulen bzw. Lehrerbildungsanstalten des Hilfswerks zu bekommen. Viele Absolventen dieser Schulen fanden Posten in den Golfstaaten und in anderen arabischen Ländern."
Zum palästinensischen Bildungssystem sagte Noga Arbel, eine Forscherin beim israelischen Thinktank Kohelet Policy Forum:
"Das palästinensische Bildungssystem ist die größte Sicherheitsbedrohung für Israel, UNRWA ist der Kern des Problems. Wenn wir zulassen, dass das Problem des palästinensischen Exodus weiter bestehen bleibt, wird die Bedrohung nur noch größer."
Der Thinktank Kohelet Policy Forum (KPF) setzt sich auch vehement für die stark kritisierte israelische Justizreform ein und bezeichnet sich selbst als eine vom israelischen Staat unabhängige Denkfabrik, die sich ausschließlich über private Spenden finanziere. Über die anonymen Spender ist wenig bekannt, aber die größten Einnahmen belaufen sich auf mehrere Millionen Dollar, die über eine amerikanische gemeinnützige Organisation namens "American Friends of Kohelet Policy Forum" gespendet wurden.
Die vermeintliche Unabhängigkeit des KPF hinderte die Denkfabrik nicht daran, an Strategiepapieren mitzuarbeiten, die die geplante israelische Justizreform aus dem Jahr 2023 beförderten. Sie setzte sich mit Themen wie der staatlichen Kontrolle bei der Ernennung von Richtern auseinander und arbeitete mit daran, richterliche Überprüfungen von Gesetzen und Regierungsentscheidungen durch die sogenannte "Überschreibungsklausel" stark einzuschränken.
Nach Arbels Äußerungen zur angeblichen Gefahr durch palästinensische Bildung fuhr sie fort:
"Es wird unmöglich sein, den Krieg zu gewinnen, wenn wir die UNRWA nicht zerstören, und diese Zerstörung muss sofort beginnen."
Da das UNRWA nicht nur für ausgezeichnete Bildung unter den Palästinensern sorgt, was im Falle einer Zwei-Staaten-Lösung ein Größtmaß an Autonomie sichern könnte, sondern darüber hinaus eine seit 1949 gewachsene Organisation ist, die heute mit ca. 300.000 (meist palästinensischen) Angestellten an vielen "Baustellen" arbeitet, ist sie als Hilfswerk faktisch unverzichtbar und nicht ohne Weiteres austauschbar, wie nun in Israel und zahlreichen westlichen Ländern kolportiert wird.
Das UNRWA versorgt mittlerweile 5,7 Millionen palästinensische Flüchtlinge sowie deren Nachfahren, die neben dem Gazastreifen teils auch in Ost-Jerusalem, im Westjordanland, im Libanon, in Syrien und Jordanien leben. Als Flüchtlinge gelten nicht nur die 1948/1949 vertriebenen Palästinenser, sondern auch deren Nachfahren, weshalb sich deren Zahl von anfangs einer halben Million inzwischen auf die genannten 5,7 Millionen registrierte Flüchtlinge erhöht hat. Durch das Bildungs- und Ausbildungsprogramm des UNRWA wurden bis heute zahlreiche Fachkräfte und Lehrpersonal qualifiziert, die wichtige staatliche Aufgaben im Falle eines eigenen Staates übernehmen könnten.
Keine Zwei-Staaten-Lösung!
Nach dem 7. Oktober 2023 wurde aus dem ohnehin schon offenen Geheimnis eine Gewissheit: Israel will unter keinen Umständen einen autarken palästinensischen Staat zulassen. Zahlreiche Äußerungen israelischer Politiker – nicht zuletzt auch vom Premierminister Netanjahu – lassen daran keinen Zweifel.
Neben dem durch Israel verübten Völkermord ist der Plan erkennbar, mit fadenscheinigen Argumenten das UNRWA zu eliminieren. Das ist ein weiterer Beleg für das Vorhaben Israels, Palästina zu zerstören und vollständig einzunehmen. Fadenscheinig deshalb, weil es keinerlei Beweise für die angeblichen Verbindungen zur Hamas oder gar eigenen "terroristischen Aktivitäten" von UNRWA-Mitarbeitern gibt. Die Meldung entstand durch die Behauptung eines "anonymen israelischen Beamten", und der wurde nicht einmal nach Belegen für seine Aussage befragt.
Für die "gewissenhaften" Medien in Deutschland ist all das aber noch längst kein Grund, vielleicht an solchen "Informationen" zumindest gewisse Zweifel zu hegen und zu verbreiten. Es ist eben alles eine Frage der Bildung.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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