Der irakische Geistliche Al-Sadr ist nicht nur Königsmacher im Irak – er ist der König
Eine Analyse von Scott Ritter
Für viele außenstehenden Beobachter der jüngsten nationalen Wahlen im Irak sind die Ergebnisse aus zwei Gründen enttäuschend. Denn erstens gingen nur 41 Prozent der 22 Millionen Wahlberechtigten zur Wahl. Und zweitens gewann die Partei von Muqtada al-Sadr 73 der 329 Parlamentssitze, die Partei von Premierminister Nuri al-Maliki kam auf 41 Sitze, und die Demokratische Partei Kurdistans, unter der Führung von Masud Barzani, erlangte 32 Sitze.
Muqtada al-Sadr hatte die Unterstützung des Großayatollah Ali as-Sistani, der in den Tagen vor den Wahlen ein religiöses Edikt – eine Fatwa – erließ. Darin wurden die irakischen Gläubigen aufgefordert, einen ehrlichen Kandidaten zu wählen, der in der Lage ist, die dringend benötigten Veränderungen im Irak voranzutreiben und die systemische Korruption zu bekämpfen, von der die irakische Innenpolitik, seit Saddams Sturz, verseucht wird. Die Wahlergebnisse scheinen eindeutig zu sein – die meisten irakischen Wähler, die ihre Stimme abgegeben haben, sind der Meinung, dass Muqtada al-Sadr der Kandidat ist, von dem as-Sistani sprach.
In den kommenden Wochen ist der irakische Präsident Barham Salih aufgefordert, auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Wahlen eine Regierung zu bilden. Al-Sadr wird zwar höchstwahrscheinlich nicht zum neuen Premierminister des Irak erkoren werden, aber eines ist sicher: Die von ihm kontrollierte politische Partei wird bestimmen, wer den Irak führen soll.
Muqtada al-Sadr war korrupten irakischen Politikern, amerikanischen Besatzern und den iranisch geführten politischen Einflüsterern schon immer ein Dorn im Auge, seit die US-geführte Koalition 2003 die Regierung des irakischen Präsidenten Saddam Hussein absetzte. Am besten beschrieben als irakischer Nationalist, stellt sich Al-Sadr gegen die US-Besatzung und die Dominanz der pro-iranischen irakischen Schiiten. Diese waren unter Saddam aus dem Irak geflohen, hatten im Iran Zuflucht gesucht, und kehrten nach seinem Sturz in den Irak zurück.
Die "Aufstockung" (engl. Surge) der amerikanischen Kampfkraft in den Jahren 2006 bis 2007, wurde von al-Sadr offen herausgefordert, der darauf bestand, dass der Irak von Irakern regiert wird, die frei von äußerem Einfluss sind. Nach Ansicht von al-Sadr, war eines der Hindernisse dafür Premierminister Nuri al-Maliki, den er als wenig mehr als einen amerikanischen Handlanger betrachtete. Die Mahdi-Armee von al-Sadr führte 2004 und 2006 eine gewaltsamen Kampf gegen die amerikanischen Besatzungskräfte und die irakische Armee. Ein Waffenstillstand, der durch die US-"Aufstockung" zustande kam, führte schließlich zur teilweisen Auflösung der Mahdi-Armee.
Im Jahr 2008 brach jedoch erneut ein offener Konflikt aus, als Premierminister Maliki seinen Truppen befahl, die Überreste der Mahdi-Armee aufzuspüren und zu zerschlagen. Die Kämpfe zwischen den irakischen Streitkräften und der Mahdi-Armee, erweiterten in der Folge die bestehende Kluft zwischen Maliki und al-Sadr – und veranlassten Letzteren dazu, seine Haltung gegenüber der Politik im Irak zu ändern. Al-Sadr wandte sich vom militanten Kampf ab und erlangte bei Wahlen eine breite Legitimität, während er weiterhin die von den USA geführte Besatzung verurteilte sowie die Regierung von Nuri al-Maliki kritisierte, die Al-Sadr als verlängerter Arm der Besatzer bezeichnete. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich die Wandlung von al-Sadr zum gereiften politischen Führer zum ersten Mal.
Al-Sadr hatte verstanden, dass seine politische Überlebensfähigkeit nur außerhalb des bestehenden Systems gedeihen konnte. Er zog sich in den Iran zurück, wo er ein intensives Religionsstudium an einem schiitischen Seminar, einer Hawza, in der heiligen Stadt Ghom begann. Gebunden an sein Religionsstudium im Iran, nahm Al-Sadr nicht direkt an den Wahlen im März 2010 teil. Aber seine Nationale Irakische Allianz gewann 70 Sitze, was sie zu einer entscheidenden Kraft bei der Bildung der Koalitionsregierung machte, die auf die von Nuri al-Maliki folgte. Das Ziel von Al-Sadr war es jedoch nicht, lediglich den Ausgang der irakischen Nationalwahlen zu beeinflussen. Indem er sich auf sein Religionsstudium konzentrierte, brachte sich al-Sadr in Stellung, um etwas weitaus Größeres zu werden als bloß Premierminister oder Präsident – er sollte die Nachfolge des alternden Ayatollah Ali as-Sistani antreten, als ranghöchste schiitische religiöse Autorität – und das nicht nur im Irak, sondern in der ganzen schiitische Welt.
Al-Sadr verstand die Bedeutung der Religion im Irak, insbesondere unter den Schiiten, die etwa 60 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Im Irak passiert nichts Bedeutsames, ohne die Unterstützung und den Segen von Ayatollah Ali as-Sistani. Dieser favorisiert seit langem religiöse Autoritäten, die hinter den Kulissen einen Politikansatz verfolgen, der als "Quietismus" (Aufgabe des Ich zu Gunsten von Gott und ein Leben in Gleichmut) bezeichnet werden kann. Dieser Ansatz unterscheidet sich stark von der Welāyat-e Faqih-Philosophie (Statthalterschaft der Rechtsgelehrten) des Obersten Führers des Iran, Ayatollah Ali Chamenei – ein Konzept, das as-Sistani vehement ablehnt.
Im Iran studierte al-Sadr bei Ayatollah Kazem al-Haeri, einem im Irak geborenen Geistlichen, der ein Anhänger des Onkels von al-Sadr, Ayatollah Mohammed Baqir al-Sadr war. Nach der Hinrichtung des Vaters von al-Sadr, Ayatollah Mohammed Sadiq al-Sadr im Jahr 1999 durch Saddam, wurde al-Haeri zum spiritueller Führer von Muqtada al-Sadr. Eine Rolle, die er beibehielt, als al-Sadr für seine Religionsstudien in den Iran reiste. Al-Haeri lehrte ihn die Philosophie von Ayatollah Baqir al-Sadr, die Welāyat al-Ummah, die "Herrschaft des Volkes". Baqir al-Sadr, hatte mit der Erforschung dieser "Herrschaft des Volkes“ als theologisch-politische Ideologie begonnen, konnte diese aber vor seiner Hinrichtung durch Saddam nicht mehr abschließen.
Das Grundkonstrukt der politischen Theorie von Baqir al-Sadr ist klar: Die Legitimität einer islamischen Regierung kommt vom Volk, nicht vom Kleriker. Eine islamische Regierung repräsentiert die Verschmelzung der Menschen, die Gottes Treuhänder auf Erden sind, mit den Propheten, die Gottes Zeugen sind. Die Erblinie derjenigen, die Gottes Wort bezeugen, verläuft im schiitischen Glauben vom Propheten Mohammed über zu den Imamen, die als direkte Nachfolger des Propheten angesehen werden, und dann weiter zu den Maradschi, den religiösen Autoritäten. Baqir al-Sadr war ein glühender Anhänger der direkten demokratischen Wahlen einer Regierung durch das Volk und sah die Rolle der Maradschi darauf beschränkt, Abweichungen von religiösen Doktrinen zu verhindern, mit denen die muslimische Ideologie bedroht werden könnte.
Muqtada al-Sadr verstand die Bedeutung von Legitimität, wenn es darum geht, sich als religiöse Autorität zu positionieren, mit der er Ali as-Sistani herausfordern konnte. Er blieb in Ghom und vertiefte sich in sein Studium, während die Fragen der Regierungsführung, nach den Wahlen von 2010, von seinen "Gewährsleuten" ausgearbeitet wurden. Die Mission von al-Sadr war es zunächst, die Arbeit seines Onkels zu beenden, indem er die Rolle der Maradschi definierte, bei der Überwachung der religiösen Prinzipien in einer vom Volk gewählten Regierung. Im Jahr 2011 schloss al-Sadr sein formales Studium bei Ayatollah al-Haeri ab und verlegte sein Hauptquartier in die irakische Stadt Nadschaf. Dort begann er mit der entscheidenden Aufgabe, zusammen mit Anhängern seine eigenen Maradschi zu bilden, die sich den Prinzipien von Welāyat al-Ummah oder der "Herrschaft des Volkes", verschrieben haben.
Muqtada al-Sadr hat gezeigt, dass er ein einzigartiger irakischer Führer ist, der sich weder den Amerikanern noch den Iranern verpflichtet sieht. Sein Populismus, einst von den Vereinigten Staaten verspottet, stellt nun die beste Grundlage für den Irak dar, wenn das Land aus dem Schatten des Einflusses durch die Vereinigten Staaten und des Iran heraustreten soll. Der Sieg von Al-Sadr bei den Wahlen im Oktober 2021 spiegelt die Erfolge seiner Anhänger bei den Wahlen im März 2010 wider. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Ereignissen besteht aber darin, dass al-Sadr 2010 nicht die religiöse Autorität hatte, um sich vom Feld der um die Macht wetteifernden Politiker zu abzusetzen.
Heute allerdings steht al-Sadr als eine religiöse Autorität da, dessen Einfluss stetig wächst, und dessen Botschaft der "Herrschaft des Volkes" bei Millionen irakischer Schiiten und ihrem derzeitigen obersten Führer Ayatollah as-Sistani Anklang findet. Al-Sadr hat Jahre der persönlichen Prüfungen und Strapazen durchleben müssen und ist in die Schuhe hineingewachsen, die er sich nach der US-geführten Invasion und der Besetzung des Irak im Jahr 2003 angezogen hatte. Er hat sich zu einer Mischung aus politischem und spirituellem Führer entwickelt, der den Lehren seines Vaters treu geblieben ist. Trotz der Bemühungen, ihn zum Schweigen zu bringen, hat sich Muqtada al-Sadr zur wichtigsten politischen Figur in der modernen irakischen Geschichte entwickelt. Al-Sadr ist nicht nur Königsmacher – er ist der König.
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Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991-1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Twitter unter @RealScottRitter folgen.
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