Asien

Japan in der Kritik: War Ghosns Flucht der einzige Ausweg?  

Nach seiner spektakulären Flucht aus Japan kritisierte der der Veruntreuung bezichtigte Ex-Renault- und Nissan-Chef Carlos Ghosn die japanische Justiz als "System, das die grundlegendsten Prinzipien der Menschheit verletzt". Doch wie viel Substanz hat seine Kritik?
Japan in der Kritik: War Ghosns Flucht der einzige Ausweg?   © Mohamed Azakir

von Marko Klaić

Niemand konnte sich der Berichterstattung über Carlos Ghosns Verhaftung entziehen. Der einst hoch angesehene Geschäftsführer der Allianz Renault-Nissan-Mitsubishi fand sich auf den Fernsehern eines jeden japanischen Haushalts wieder. Selbst in Shinjuku, vor dem ikonischen Studio-Alta-Flatscreen der Superlative, reckten die Menschen ihre Köpfe empor, um die neuesten Entwicklungen im Fall Ghosn zu verfolgen, ehe sie mit ihrer gewohnten Routine fortfuhren. In altbekannter Manier, voller Dramaturgie und Polemik, stellten die großen Medienkonzerne Ghosn mit filmischen Mitteln als Verbrecher dar, was bei verurteilten Mördern wie Shoko Asahara – dem Führer der Ōmu-Shinrikyō-Sekte, der aufgrund seiner Beteiligung an den Giftgasanschlägen auf die Tokioter U-Bahn 1995 erst 2018 hingerichtet wurde – normalerweise gang und gäbe ist.

Die Medien hatten anscheinend bereits ein Urteil über Ghosn gefällt und übertrugen dieses durch eine subjektive Berichterstattung auf die Bevölkerung. Er ist schuldig. Er muss schuldig sein! Als Ausländer hatte er auf dem Rücken japanischer Automobilhersteller Wohlstand und Ansehen erlangt, nur um anschließend Millionen an Firmengeldern in die eigene Tasche zu wirtschaften. Ein Lump, ein Verbrecher ist er! Wirksam war diese Berichterstattung durchaus, sogar so sehr, dass das vorherrschende Narrativ weder eine Stellungnahme Ghosns benötigte noch der Verfahrensausgang abgewartet wurde. Ob Ghosn sich einer Straftat schuldig gemacht hat, sei erst einmal dahingestellt. In Anbetracht der aktuellen Beweislage und ohne baldige Aufnahme des Gerichtsverfahrens in Sicht sollen zunächst die Haftbedingungen während Ghosns langwieriger Untersuchungshaft im Kontext der japanischen Justiz in den Fokus rücken.

"Ich habe seit dem 19. November 2018 keinen Moment der Freiheit erlebt", sagte dieser bei der ersten Pressekonferenz im Libanon nach seiner Flucht aus Tokio. "Zum ersten Mal seit Beginn dieses Albtraums kann ich mich verteidigen, frei sprechen und Ihre Fragen beantworten", fuhr Ghosn fort. "Es war sehr leicht, auf mich einzuschlagen, während ich im Gefängnis war. Es war sehr, sehr einfach, mich so zu beschreiben, wie ich beschrieben wurde. Leider nicht nur in Japan." Der in Ungnade gefallene ehemalige Geschäftsführer nutzte die Anwesenheit von Vertretern der Presse nicht, um sich als Opfer darzustellen. Stattdessen wollte er ein System ins internationale Rampenlicht stellen, das in Japan unter dem Begriff Hitojichi Shihō (auf Deutsch: Geiseljustiz) bekannt ist. Rechtsstaatliche Normen kennt diese Form der Justiz nicht. International stieß sie immer wieder auf Kritik. Was dieses System auszeichnet und was Ghosn am eigenen Leib erfuhr, zeigte dieser der Weltöffentlichkeit in seiner rund einstündigen Rede auf.

Die japanische Justiz rühmt sich nunmehr seit Jahrzehnten einer Verurteilungsrate von rund 99 Prozent. Verurteilte gab es immer, jedoch traf es recht häufig jene, die sich keiner Straftat schuldig gemacht hatten. Die gängige Strafrechtspraktik der Geiseljustiz sieht eine Inhaftierung von Verdächtigen vor, deren Haftaufenthalt meist beliebig lang ausgedehnt wird, um ein Geständnis des Inhaftierten zu erwirken. Dass die Strafprozessordnung lediglich eine Inhaftierung von maximal 23 Tagen für Verdächtige vorsieht, wird in der Praxis häufig nicht beachtet. Die Untersuchungshaft zeichnet sich durch stundenlange Verhöre auf täglicher Basis aus, die in Abwesenheit von Anwälten durchgeführt werden. Das Aussageverweigerungsrecht wird außer Acht gelassen. Drohungen und Einschüchterungen sind gängige Praxis.

Die Beratung durch Anwälte während der Untersuchungshaft ist zeitlich drastisch begrenzt. Kontakt zu Familienangehörigen und Freunden wird Insassen untersagt. Verdächtige werden permanent überwacht, ob in der eigenen Zelle, bei Toilettengängen oder der Essensaufnahme. Das Recht auf Kaution zur vorübergehenden Freilassung wird so gut wie immer abgelehnt, da befürchtet wird, dass der mutmaßliche Täter Beweise vernichten könnte. Bessere Chancen, auf Kaution freigelassen zu werden, haben nur jene Insassen, die bereits ein Geständnis abgelegt haben. Ghosn wurde nach 108 Tagen in Untersuchungshaft auf Kaution freigelassen, nur um einen Monat später – einer neuen Straftat bezichtigt – erneut in Haft genommen zu werden. Auch dies gilt in Japan als Routine, um Verdächtige von der Öffentlichkeit zu isolieren. Durchaus kann man sich, solch willkürlichen Rechtsnormen ausgesetzt, als Geisel der japanischen Justiz verstehen.

"Ich stehe nicht über dem Gesetz", versicherte Ghosn der Presse. Er floh nach eigenen Angaben lediglich vor einer Justiz, die ihm alle Rechte verweigert hatte und keine Aussicht auf einen fairen Prozess bot. Seine Flucht verstand er als einzigen Ausweg. Die Geiseljustiz verstößt nicht nur gegen die in der japanischen Verfassung formulierten Rechte, sondern auch gegen internationale Rechtsstandards, zu denen auch die Unschuldsvermutung zählt. Des Weiteren kann die Verweigerung der Freilassung von Verdächtigen, die auf ihrer Unschuld bestehen, gegen das Folterverbot verstoßen. Dass die Flucht Ghosns rechtswidrig war, ist dem ehemaligen Firmenchef durchaus bewusst. Doch sieht er die vorherrschenden Zustände der japanischen Justiz als legitime Rechtfertigung für seine Flucht.

Ghosn wurde am 19. November 2018 bei seiner Wiedereinreise von japanischen Behörden inhaftiert und der Veruntreuung sowie anderer Vergehen bezichtigt. Nach seiner Flucht in den Libanon hofft der ehemalige Firmenchef Renaults und Nissans auf einen fairen Prozess. Derzeit bereitet er dort seine Verteidigung vor.

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