Asien

Was der Westen über Chinas wachsende Militärmacht nicht versteht

Pekings schnelle militärische Modernisierung sorgt für Diskussionen und Ängste im Westen. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich eine komplexere und differenziertere Verteidigungsstrategie, die weniger auf Expansion abzielt, sondern vielmehr auf die Verteidigung der eigenen Souveränität.
Was der Westen über Chinas wachsende Militärmacht nicht verstehtQuelle: Gettyimages.ru © EASTERN THEATER COMMAND OF THE PEOPLE'S LIBERATION ARMY / HANDOUT'/Anadolu via Getty Images

Von Ladislav Zemánek

In den letzten zwei Jahrzehnten hat China bemerkenswerte Fortschritte bei der Entwicklung seiner militärischen Kapazitäten erzielt.

Einst stark von Militärimporten und ausländischen Technologien abhängig, hat sich Peking allmählich in Richtung Selbstversorgung bewegt. Dieser Wandel zeigt sich in den jüngsten technologischen Durchbrüchen in verschiedenen Bereichen, darunter die heimische Produktion von modernen Kampfflugzeugen, Fregatten, Flugzeugträgern, Hyperschallraketen und unbemannten Systemen. Gleichzeitig hat China eine klare Vision für die Zukunft der Kriegsführung formuliert, die den Schwerpunkt auf künstliche Intelligenz (KI), autonome Systeme, Multidomänen-Integration und "intelligente" oder kognitive Kriegsführung legt.

Für Washington und seine Verbündeten hat dieser Fortschritt Alarmglocken läuten lassen. Militärstrategen in den Vereinigten Staaten haben neue Ressourcen mobilisiert, um China einzudämmen, Bündnisstrukturen auszubauen und den Rüstungsaufbau zu beschleunigen. Das Ergebnis ist der bekannte Kreislauf aus Sicherheitsdilemmata und Wettrüsten, der auch andere Perioden globaler Konkurrenz geprägt hat. Doch solche Einschätzungen der militärischen Entwicklung Chinas sind irreführend. Sie neigen dazu, die sogenannte "chinesische Bedrohung" aufzubauschen und Pekings Handlungen ausschließlich als Nullsummenspiel um die Vorherrschaft darzustellen.

In Wirklichkeit ist die Modernisierung der Volksbefreiungsarmee (VBA) eine Fortsetzung der umfassenden Reformen Chinas und Ausdruck seines Aufstiegs zur Großmacht. In vielerlei Hinsicht liegen die militärischen Fähigkeiten Chinas noch immer deutlich hinter denen anderer Großmächte, insbesondere der USA, zurück und stehen in keinem Verhältnis zu seinem globalen wirtschaftlichen und politischen Gewicht.

Von Beginn seiner Amtszeit an machte Xi Jinping eine umfassende Militärreform zu einer zentralen Priorität. Sein Programm umfasste nicht nur die Modernisierung der Ausrüstung, sondern auch weitreichende institutionelle und strategische Reformen, die auf Effizienzsteigerung und Stärkung der Kommandostrukturen abzielten. Wichtig ist, dass westliche Kommentatoren oft übersehen, dass Xis Reformen mit Sparmaßnahmen begannen, darunter eine Reduzierung der Truppenstärke um 300.000 Soldaten. Solche Maßnahmen machten deutlich, dass es Peking nicht nur um die Anhäufung von Macht ging, sondern um Neukalibrierung, Optimierung und Effizienz.

Die derzeitige chinesische Militärdoktrin ist die "Xi Jinping-Doktrin zur Stärkung des Militärs", die 2017 verabschiedet wurde. Diese Doktrin setzt das ehrgeizige Ziel, die Volksbefreiungsarmee bis 2049 zu einer Weltklasse-Armee zu machen, wobei wichtige Meilensteine bis 2027, dem hundertjährigen Jubiläum der Gründung der VBA, erreicht werden sollen. Einige westliche Strategen haben diesen Zeitplan zum Anlass genommen, um die These zu verbreiten, dass Peking beabsichtigt, bis 2027 in Taiwan einzumarschieren.

Diese Behauptung entbehrt jedoch jeder Grundlage und dient vor allem als Rechtfertigung für höhere Militärausgaben und anhaltende Rüstungswettläufe in der Region. Die Modernisierung Chinas dient nicht der Vorbereitung einer unmittelbar bevorstehenden Aggression, sondern dem Aufbau ausreichender Stärke, um ausländische Einmischung abzuschrecken, die nationale Souveränität zu wahren und langfristige Entwicklungsinteressen zu sichern.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal von Xis Reformen ist die Stärkung der Kontrolle der Kommunistischen Partei über die VBA. Die Führung der Partei über das Militär ist seit 1927 ein Grundsatz, auch wenn sie gelegentlich geschwächt wurde, insbesondere während der Umwälzungen der Kulturrevolution. Xi hat das Prinzip der absoluten Parteiführung durch die Zentralmilitärkommission (ZMK) bekräftigt, in der er der einzige zivile Vertreter ist. Neben der institutionellen Umstrukturierung startete Xi eine umfassende Antikorruptionskampagne innerhalb des Militärs, die sogar die ZMK selbst erreicht hat. In den letzten Jahren wurden mehrere hochrangige Persönlichkeiten entlassen, der jüngste Fall ereignete sich erst im Juni.

Gleichzeitig hat China Innovation und fortschrittliche Technologie zu zentralen Elementen der militärischen Modernisierung erhoben. Seit 2019 wird in offiziellen Dokumenten das Konzept der "intelligenten Kriegsführung" erwähnt, wobei der Schwerpunkt auf der Integration von KI, autonomen Systemen und Mensch-Maschine-Kooperation liegt. Dies markiert eine strategische Verlagerung hin zum kognitiven Bereich als kritischem Operationsgebiet, das die traditionellen physischen und informativen Bereiche ergänzt. Die Vision ist eine multidomänenübergreifende, integrierte Kriegsführung, die sich auf das Internet der Dinge (IoT), Maschinenautonomie und Mensch-Maschine-Integration stützt – eine innovative Weiterentwicklung des seit Langem bestehenden chinesischen Prinzips der "aktiven Verteidigung".

Derzeit wird spekuliert, welche neuen Systeme bei der bevorstehenden Parade zum Tag des Sieges am 3. September auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking vorgestellt werden. Die Vorfreude spiegelt das Ausmaß der jüngsten Errungenschaften in mehreren Bereichen wider.

In der Luftfahrt hat China mit dem Testen von Kampfflugzeugen der sechsten Generation begonnen, den Modellen J-36 und J-50, die im Dezember 2024 erstmals öffentlich vorgestellt wurden. Obwohl Peking ihre Existenz nicht offiziell bestätigt hat, deuten Berichte darauf hin, dass diese Flugzeuge einen bedeutenden Fortschritt in Bezug auf Tarnkappentechnologie, Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit darstellen könnten. Seit 2024 ist China neben den USA das einzige Land, das zwei Arten von Tarnkappen-Kampfflugzeugen einsetzt.

China gilt weithin als weltweit führend im Bereich der Hyperschallraketen. Diese Systeme, die mit extremen Geschwindigkeiten fliegen und unvorhersehbar manövrieren können, stellen eine ernsthafte Herausforderung für bestehende Verteidigungsnetzwerke dar. Peking investiert sowohl in konventionelle als auch in nuklear bewaffnete Hyperschalltechnologien und unterstreicht damit deren strategische Bedeutung.

Unbemannte Systeme rücken ebenfalls rasch in den Vordergrund. Chinesische Strategen betrachten Drohnen und Robotersysteme zunehmend als potenziell entscheidende Elemente künftiger Konflikte. Zu den jüngsten Entwicklungen zählen Schwarmdrohnen, die von der Struktur von Ahornsamen inspiriert sind, bionische Miniaturroboter in der Größe von Mücken für Aufklärungs- und verdeckte Operationen sowie der Drohnenträger "Nine Heavens", der bis zu 100 Drohnen gleichzeitig starten kann, um Verteidigungsanlagen zu überwältigen.

Im August 2025 stellte China die weltweit erste Hochgeschwindigkeits-Drohne mit Senkrechtstart und -landung vor, die von einem Düsentriebwerk angetrieben wird und konventionelle Kriegsschiffe in Ad-hoc-Flugzeugträger verwandeln soll. Bei Militärübungen im Juli wurde eine weitere Innovation vorgestellt: Roboter-Vierbeiner, die mit Luftdrohnen für koordinierte Operationen gekoppelt sind.

Die Seemacht bleibt eine strategische Priorität. Nach jahrzehntelangen Bestrebungen verfügt China nun über zwei Flugzeugträger – Liaoning und Shandong –, zu denen bald der im Inland entwickelte Fujian hinzukommen wird, der derzeit Seeversuche durchläuft und voraussichtlich Ende 2025 in Dienst gestellt wird. Der Bau des Typs 004, Chinas erstem atomgetriebenen Flugzeugträger, hat bereits begonnen. Obwohl die USA mit elf atomgetriebenen Flugzeugträgern weiterhin einen deutlichen Vorsprung haben, verringert China den Abstand.

Neben den Flugzeugträgern gehören zu den neuen Ressourcen die Fregatten vom Typ 054B Luohe und Qinzhou, die 2023 vom Stapel liefen und 2025 in Dienst gestellt werden sollen, sowie das amphibische Angriffsschiff vom Typ 076, das Ende 2024 vom Stapel lief. Auch die Entwicklung des Atom-U-Boots vom Typ 096, das von westlichen Analysten als potenzieller "Albtraum" für US-Strategen bezeichnet wird, schreitet weiter voran.

Vor Kurzem stellte China das "Bohai Sea Monster" vor, ein Wing-in-Ground-Effekt-Flugzeug (Bodeneffektfahrzeug), das die Grenze zwischen Schiff und Flugzeug überschreitet und schneller als herkömmliche Schiffe fliegen kann, während es der Radarerkennung entgeht. Trotz dieser Erfolge fehlt Peking nach wie vor ein globales Logistiknetzwerk und fortschrittliche Technologien für Atom-U-Boote, was unterstreicht, dass seine Seemacht weiterhin regional konzentriert ist.

Auch Chinas Atomwaffenarsenal wächst weiter, Schätzungen zufolge um etwa 100 Sprengköpfe pro Jahr. Bis 2030 könnte der Bestand auf über 1.000 Sprengköpfe anwachsen, von denen viele das Festland der Vereinigten Staaten erreichen könnten. Dennoch hält China an seiner erklärten Doktrin des Nicht-Ersteinsatzes fest und verspricht, niemals Atomwaffen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten oder atomwaffenfreie Zonen einzusetzen oder damit zu drohen. Langfristig setzt sich Peking weiterhin für ein vollständiges Verbot und die letztendliche Abschaffung von Atomwaffen ein – eine Position, die sich von der offiziellen Haltung Washingtons und Moskaus unterscheidet.

Zusammengenommen verdeutlichen diese Entwicklungen einen tiefgreifenden Wandel der VBA. Sie zeigen jedoch auch die Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität auf. Zwar hat sich die Modernisierung des chinesischen Militärs zweifellos beschleunigt, doch wird sie nicht von expansionistischen Ambitionen angetrieben, sondern vom Wunsch, die Souveränität zu wahren, externe Bedrohungen abzuwehren und die globale wirtschaftliche Stellung Chinas mit entsprechenden Verteidigungsfähigkeiten in Einklang zu bringen. Die Alarmstimmung im Westen, insbesondere die Fixierung auf einen Zeitplan für eine Invasion Taiwans, birgt die Gefahr, dass die Absichten Pekings falsch interpretiert werden und ein destabilisierendes Wettrüsten angeheizt wird.

Die VBA der Zukunft wird technologisch fortschrittlicher, über mehrere Bereiche hinweg stärker integriert und enger an die politische Führung der Kommunistischen Partei gebunden sein. Ihre Hauptaufgabe wird jedoch weiterhin defensiver Natur sein: ausländische Zwangsmaßnahmen abzuwehren, Chinas Interessen zu schützen und Raum für friedliche Entwicklung und Koexistenz zu sichern. Um diese Realität anzuerkennen, muss man sich von der Erzählung der "chinesischen Bedrohung" lösen und zu einer ausgewogenen Einschätzung gelangen, die sowohl die Bedeutung der militärischen Modernisierung Chinas als auch die Grenzen seiner derzeitigen Fähigkeiten anerkennt. Nur so kann die internationale Gemeinschaft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung vermeiden, die in einem Kreislauf aus Misstrauen und Konfrontation resultiert. 

Übersetzt aus dem Englischen

Ladislav Zemánek ist Forschungsstipendiat am China-CEE Institute und Experte des Internationalen Diskussionsklubs "Waldai".

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