Die USA haben Afghanistan nicht erst kürzlich verloren, vor ihrem jetzigen Abzug von dort: Vielmehr sei dies im Rahmen ihres rücksichtslos geführten sogenannten "Krieges gegen den Terror" geschehen, mit dem sie die Taliban zu aktiveren Handlungen provozierten. Diese Ansicht gab Hamid Karzai, ehemals Präsident Afghanistans, in einem Interview mit RT preis. Nicht klar ist auch, ob dies ein Versagen oder durchaus gewollt war, wenn man bedenkt, dass sich erst während ihres Einsatzes die Terrormiliz Islamischer Staat in Afghanistan einnisten konnte. Nun sei Russlands Einsatz bei der Vermittlung innerafghanischer Verhandlungen von "grundlegender" Bedeutung beim Lösen dieses Problems.
Anfängliche Erfolge der USA beim Staatsaufbau in Afghanistan – und dann kam der "Krieg gegen den Terror"
Das afghanische Volk hieß den US-Einsatz in seinem Lande zunächst willkommen – in Solidarität mit den USA nach dem Terroranschlag auf das WTC, aber vor allem auch aus eigenen Beweggründen heraus: "Das afghanische Volk wartete auf einen solchen Moment der Befreiung [...] vom Extremismus, von der Gewalt, vom Terrorismus, vom schleichenden Einfall aus einem Nachbarland aus. Und von einer so langen Zeit des Leids." Tatsächlich, erinnert der ehemalige afghanische Präsident, hatte Afghanistan zuvor viele Länder um Hilfe gebeten:
"Zuvor hatten wir die USA angefleht – und auch Russland, wo wir gerade darüber reden, und Europa auch –, [zu uns] zu kommen und Afghanistan zu helfen, sich selbst zu befreien. [...] Selbst diejenigen Länder, die mit den Vereinigten Staaten zu vielen Problemen weltweit nicht auf einer Wellenlänge waren – wie Russland, wie China, ja, wie der Iran! – sie alle begrüßten diese Entscheidung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, nach Afghanistan zu kommen, und trugen sie mit."
Der schließlich erfolgte, US-geführte Einsatz sei denn auch konsequent von der Völkergemeinschaft begrüßt und vom UN-Sicherheitsrat "gebilligt – ja, vielmehr angeordnet" worden, erinnert Karzai weiter. Die Unterstützung der Einheimischen schließlich führte als einer der Faktoren zu "unmittelbarem Erfolg" der USA in ihrem Krieg gegen die Taliban. "Wir begannen, mit großen Hoffnungen nach vorne zu blicken", so der ehemalige afghanische Präsident. Denn kurz nach Beginn des US-geleiteten Einsatzes habe mit der Hilfe der Völkergemeinschaft zunächst auch alles funktioniert: "Afghanistan wurde ein Zuhause für alle Afghanen: Ehemalige Kommunisten, Gotteskrieger, Vertreter der Geistlichkeit, Linke, Rechte, Frauen, Stammesälteste – alle waren zusammen. [...] Was wirtschaftlichen Fortschritt anbelangt, die Bildung, Veränderungen der Gesellschaft zum Guten – hier klappte alles."
Lange sollte die Freude an diesen anfänglichen Erfolgen beim Wiederaufbau des afghanischen Staates jedoch nicht währen. Die Schuld daran sieht der ehemalige afghanische Präsident bei den USA:
"[Der Grund für] das Versagen [des Ganzen] lag im Vorgehen des US-Militärs in Afghanistan. Darin, wie sie den sogenannten Krieg gegen den Terror, oder den Terrorismus, führten."
"Sie sagten uns, dass die Verstecke [der Terroristen] außerhalb Afghanistans lägen. Doch dann begannen sie, afghanische Dörfer und Häuser zu bombardieren, wodurch unsere Menschen verletzt und getötet und unsere Häuser zerstört wurden."
Mit solchem Vorgehen hätten die USA eben auch alle Hoffnungen auf eine politische Aussöhnung zunichtegemacht, breitete Hamid Karzai aus. Als seine eigene Regierung an der Macht war, habe sein Kabinett viele ehemalige Taliban-Kämpfer begnadigt und sie so davon überzeugt, sich zu einem neuen, friedlichen Leben niederzulassen.
Doch
"dann begannen die USA plötzlich, die Häuser der Taliban anzugreifen, Dörfer anzugreifen – und sie zwangen [viele Taliban somit], aus dem Land zu fliehen. Diese Gewalt gegen das afghanische Volk im Namen des Kampfes gegen die Taliban war es, die mich dazu bewog, die Taliban als unsere Brüder zu bezeichnen. Denn sie sind unsere Landsleute, und dies ist auch ihr Land. Da lief alles schief. [Die Taliban] begannen, [als Milizkämpfer] wieder aufzutauchen – und ein Teil der Bevölkerung ging mit ihnen mit."
Jetzt, kurz vor dem vollständigen Abzug der USA aus Afghanistan, sieht Karzai den einzigen Ausweg darin, mit den Taliban zu reden. Dass seiner Ansicht nach ihre terroristische Aktivitäten nicht einfach vergessen werden dürfen, ändert an seiner Lageeinschätzung nichts. Denn Afghanistan brauche dringend eine Regierung, die die Autorität über das ganze Land habe. Wenn dies erst einmal der Fall sei, würden alle Bedrohungen, denen Afghanistan selbst und seine Nachbarländer in der Region ausgesetzt seien, "automatisch verschwinden". Hierbei kommt nach Ansicht des ehemaligen afghanischen Staatschefs gerade den Nachbarländern eine wichtige Rolle zu – schon aus deren pragmatischem Eigeninteresse: "Es wäre gut, wenn andere Staaten in der Region wie Russland, China und Iran – sowie, hoffentlich (und was sehr wichtig wäre), Pakistan – verstehen, wie gefährlich die fortgesetzte Instabilität in unserem Land ist."
Einer separaten Erwähnung würdigte Hamid Karzai in diesem Zusammenhang auch Indien, einen "weiteren guten Nachbarn unseres Landes", der ebenfalls gut daran täte, diese Tatsache anzuerkennen. In der Tat möchte man meinen, dass dies bereits geschehen ist: Investiert das Land doch bereits durchaus gutnachbarlich in Afghanistans Infrastrukturprojekte, liefert militärische Ausrüstung und bildet dessen Offiziersanwärter aus. Es ginge hierbei also allenfalls darum, die Mengen an gelieferten Rüstungsgütern auszuweiten – zumindest kam Ende Juli aus den militärischen Kreisen Indiens Information zu derartigen Wünschen der afghanischen Kollegen.
Aufkommen des IS in Afghanistan – Versagen oder Absicht der USA? "Diese Frage stellen wir uns jeden Tag"
Karzai knüpft seine Hoffnungen für die Zukunft Afghanistans nicht mehr an "ferne Supermächte" wie die USA. Immerhin stellte sich gerade beim US-Einsatz in Afghanistan erstmals die Präsenz der Terrormiliz Islamischer Staat dort ein, die nun Terroranschläge der grausamsten Art verübt, etwa gegen Mädchenschulen. Und es ist nicht klar, ob das ein pechbedingtes Versagen oder von Anfang an so gedacht war – der ehemalige Präsident hält beides für möglich:
"Diese Frage stellen wir uns jeden Tag."
Der Grundstein für die Sicherheit Zentralasiens wird am Hindukusch gelegt
Stattdessen aber müsse Kabul den Wert seiner geostrategischen Lage erkennen und sie dafür nutzen, "das Vertrauen zwischen unseren Nachbarn und den Großmächten in der Region" wie Russland, Indien und China zu fördern und sie als "Verbündete im Namen der Stabilität" zu gewinnen. Das erwähnte Eigeninteresse liegt zum Beispiel in Russlands Fall ganz klar auf der Hand: Es hat zwar keine gemeinsame Grenze mit Afghanistan. Doch bei einer weiteren Zuspitzung der Lage in Afghanistan wären zunächst dessen Nachbarländer – die ehemaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan – der Gefahr ausgesetzt, von Extremisten wie der Terrormiliz Islamischer Staat unterwandert zu werden.
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Im Anschluss daran wäre Russlands unmittelbarer Nachbar Kasachstan gefährdet – und schließlich auch südliche Regionen Russlands selbst. Nicht verwunderlich ist daher folgende Einschätzung Karzais:
"Das Kalkül Moskaus, in Afghanistan Sicherheit und Stabilität herbeizuführen, ist grundlegend, wenn man sich diesem Problem zuwendet. Sobald in Afghanistan Frieden herrscht, Stabilität herrscht, und die Regierung [wirklich] das ganze Land regiert, fallen Bedrohungen gegen Russland oder die Region, die [von Afghanistans Staatsgebiet] ausgehen, automatisch weg."
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Die aktuelle Herangehensweise Russlands an dieses Problem besteht in der Vermittlung von Verhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und der Taliban-Bewegung. Zwar sind für den afghanischen Ex-Präsidenten bestimmte Sachen, für die die Taliban stehen, schlicht nicht hinnehmbar. Vor allem sind dies ihre Bestrebungen, ganz Afghanistan gemäß ihren eigenen Vorstellungen zu beherrschen – darunter ganz prominent ihre Vorstellungen von der Rolle der Frau. "Die afghanischen Mädchen sollten die beste Bildung genießen, wie Mädchen überall sonst auch. [...] Fortschritt hängt wesentlich vom Zugang der afghanischen Mädchen und Frauen zur Bildung und zu Arbeitsplätzen", betont Karzai. "Wenn die Taliban sich weiterhin dagegen stellen, wird es dagegen Widerstand geben." Bei aller Entschlossenheit, gegen die Taliban nötigenfalls zu den Waffen zu greifen, die er seinerseits beteuert und die er im afghanischen Volk sieht, falls sie in diesen grundlegenden Fragen nicht beigeben wollen, unterstreicht der ehemalige Staatschef dennoch:
"Doch ich will, dass dieser Widerstand politisch ist und nicht militärisch."
Alternativen gebe es keine. Schließlich lief alles "schief", als den Familien der Taliban Gewalt (seitens des US-Militärs) widerfuhr. Der ehemalige Staatschef folgert:
"Die Antwort liegt nicht im Fortsetzen der Kämpfe. Die Antwort liegt darin, eine Lösung zu finden und einzubringen. Und genau das hat Russland getan."
Im Grunde sieht Hamid Karzai auf dem Wege der Verhandlungen gute Chancen für Erfolg – immerhin seien auch die Taliban, die ebenso Familien und Kinder haben wie alle Afghanen, letztlich am Frieden interessiert. Diesen Weg muss man nur noch beschreiten:
"Deswegen stellen die Handlungen, die Russland im November 2018 unternahm und im Jahr 2019 mit der Durchführung der durchaus bedeutenden innerafghanischen Gespräche fortsetzte – und die erst im März abgehaltene Sitzung einer [erweiterten] Troika in Moskau unter Teilnahme beider afghanischer Seiten, sowohl der Taliban als auch der [Islamischen] Republik [Afghanistan] – sehr wichtige Bemühungen dar."
"Und ich würde gern mittels dieses Interviews darum bitten, dass Russland diese [Funktion] weiterhin mit vollem Einsatz ausübt – und wir werden [dann] mit Sicherheit Ergebnisse haben."