Asien

Südkorea: Gelingt der Ausbruch aus dem US-Vasallentum?

Über Jahrzehnte galt der kleine asiatische Staat Südkorea als treuer Vasall der USA. Doch in letzter Zeit sind plötzlich neue Töne in den Beziehungen zwischen Seoul und Washington wahrzunehmen. Die südkoreanische Diplomatie flirtet mit China. Steht ein Paradigmenwandel bevor?
Südkorea: Gelingt der Ausbruch aus dem US-Vasallentum?Quelle: Reuters © Courtesy Ken Scar/U.S. Army

von Hasan Posdnjakow

Der Konflikt zwischen den USA und China, den Washington angestoßen hat, um seinen Status als Welthegemon zu bewahren, stellt sich für Südkorea zugleich als Chance und als Gefahr dar. Wenn Seoul die Widersprüche zwischen beiden Großmächten geschickt ausnutzt, könnte es sich von der Bevormundung durch Washington befreien. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass Südkorea unter die Räder gerät: Wenn Elefanten Tango tanzen, müssen sich Mäuse in Acht nehmen. China hat gegenüber den USA allerdings den Vorteil, dass es für Peking schon ausreichend ist, dass sich Seoul nicht aktiv gegen die Volksrepublik stellt. Die USA dagegen erwarten genau dies: eine aktive Parteinahme Seouls gegen Peking. Zwei Faktoren komplizieren das Beziehungsdreieck Südkorea-USA-China weiter: Nordkorea und (was wiederum mit Nordkorea zusammenhängt) die in Südkorea stationierten US-Militäreinheiten.

Ein Zeichen dafür, dass sich Südkorea zunehmend aus dem Orbit der USA entfernt, kam in der letzten Woche. Das gemeinsame Kommuniqué zum Abschluss des 52. Sicherheitskonsultationstreffens zwischen den USA und Südkorea, das in Washington stattfand, enthielt das erste Mal seit 12 Jahren keinen Verweis auf die Absicht der USA, ihre Truppenstärke in Südkorea aufrechtzuerhalten. Anschließend sagte das Pentagon überraschenderweise die ursprünglich im Anschluss an die Konferenz geplante gemeinsame Pressekonferenz ab, ohne Gründe zu nennen. Jedoch wurde spekuliert, dass die Absage auf Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Seiten zurückzuführen sei, einschließlich des von Südkorea beabsichtigten Transfers der Kommandohoheit über das südkoreanische Militär im Kriegsfall, welches derzeit noch bei den USA liegt.

Wenige Tage zuvor hatte der südkoreanische Botschafter in den USA, Lee Soo-hyuck, gegenüber dem Ausschuss für Außenpolitik des südkoreanischen Parlamentes eine brisante Erklärung abgegeben:

Nur weil Korea vor 70 Jahren die USA gewählt hat, bedeutet es nicht, dass es die USA für die nächsten 70 Jahre wählen muss.

Im selben Atemzug sagte er, dass Südkorea seine Beziehungen zu China verbessern müsse. Im Juni hatte er erklärt, dass Seoul jetzt in der Lage sei, selbst zwischen den USA und China "auszuwählen". Ein anderes Land könne Südkorea in dieser Angelegenheit nichts vorschreiben. Angesichts der Tatsache, dass Lee für die Beziehungen seines Landes zu den USA verantwortlich ist, ist die Tragweite seiner Äußerungen nicht zu unterschätzen.

Südkorea zeigt sich auch nicht willig, sich an der von den USA gegen China allmählich aufgebauten Allianz im Pazifik zu beteiligen. Ende September äußerte sich die südkoreanische Außenministerin Kang Kyeong-hwa sehr deutlich diesbezüglich. Es sei keine gute Idee, andere Länder auszuschließen. Kang äußerte sich gegen den Gedanken, dass Südkorea zwischen den USA und China zu wählen habe – wie es viele in Washington von Seoul erwarten. Stattdessen müsse Südkorea mit anderen mittleren Mächten zusammenarbeiten, um ihre gemeinsamen Interessen zu realisieren.

Auch mehren sich Stimmen aus dem südkoreanischen Militär, das eigentlich strikt nach dem US-Vorbild gerichtet ist, die sich für mehr Autonomie aussprechen. So forderte der südkoreanische Generalstabschef Won In-choul vor Kurzem die Rückgabe der operationalen Kontrolle über das südkoreanische Militär im Kriegsfall (OPCON) von den USA.

Während die Autonomiebestrebungen Seouls sich einerseits in objektiven wirtschaftlichen Vorgängen ergründen, die sich mit dem Aufstieg Chinas zusammenfassen lassen, trägt das negative Verhalten der USA nicht gerade dazu bei, diese Entwicklung zu verlangsamen. Im Gegensatz: Washington agiert gegenüber Seoul, wie auch gegenüber seinen anderen Verbündeten, zunehmend aggressiv und aufdringlich. Schon kurz nach seinem Amtsantritt drängte etwa US-Präsident Donald Trump darauf, dass das Freihandelsabkommen zwischen Südkorea und den USA nachverhandelt wird. Trump bezeichnete das Abkommen als "furchtbaren Deal". Ihm gelang es, Seoul Änderungen aufzudrängen, die für die USA vorteilhaft waren.

Der US-Präsident kritisierte auch den Betrag, den Südkorea für die Stationierung der fast 30.000 US-Soldaten zahlt, als zu gering. Er drohte, die US-Truppen zurückzuziehen, sollte Seoul nicht jährlich fünf Milliarden Dollar an die USA zahlen. Das ist circa das Fünffache des Betrages, den Südkorea im Jahr 2019 als Einmalzahlung entrichtete.

Washington spielt zudem eine negative Rolle bei den Bemühungen um eine Lösung des Koreakonflikts. Während sich die derzeitige südkoreanische Regierung auf die Fahnen geschrieben hat, die Beziehungen zu Pjöngjang zu stabilisieren, agiert Trump in dieser Hinsicht unvorhersehbar: Mal beschimpft er Kim auf Twitter, mal lobt er ihn. Berichten zufolge wurden mehrere südkoreanische diplomatische Initiativen Richtung Nordkorea auf Betreiben Washingtons sabotiert. Offenbar wollen die USA eine von ihnen losgelöste Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Koreas vermeiden, da das ihre Rolle auf der koreanischen Halbinsel infrage stellen würde. Das wiederum steht im Widerspruch zu den Drohungen Trumps, sein Militär aus Südkorea abzuziehen.

Während sich Südkorea allmählich von den USA zu emanzipieren scheint, versucht Seoul gegenüber China, was Chinas Kerninteressen angeht, sich diplomatisch zumindest neutral zu verhalten und auf anderen Gebieten die Beziehungen zu intensivieren. So weigerte sich im letzten Jahr Seoul etwa, sich den (überwiegend westlichen) Staaten anzuschließen, die China wegen der Vorfälle in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong verurteilten.

Vor wenigen Tagen erklärte der südkoreanische Botschafter in China, Jang Ha-sung, gegenüber einem parlamentarischen Ausschuss, dass seine Mission der chinesischen Seite weiterhin sich dafür einsetzen werde, einen frühzeitigen Besuch von Chinas Präsident Xi Jinping in Seoul zu ermöglichen. Auch in anderen diplomatischen Fragen herrscht eine Frühlingsstimmung. So pries der südkoreanische Vereinigungsminister Lee In-young Chinas Rolle bei der Wiederaufnahme von innerkoreanischen Gesprächen als "konstruktiv". Lee tätigte diese Bemerkung während eines Treffens mit dem chinesischen Botschafter in Südkorea.

Mittlerweile bestehen zwischen China und Südkorea auch auf militärischer Ebene Kontakte – trotz der Tatsache, dass chinesische Freiwillige sich am Koreakrieg auf der Seite Nordkoreas beteiligt hatten. So telefonierten etwa am Mittwoch die Verteidigungsminister beider Länder, wie die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap meldete. Während des Telefonats besprachen sie die Sicherheitslage auf der koreanischen Seite. Zudem versprachen sie, ihren Austausch und ihre Kooperation fortzuführen. Der chinesische Minister Wei Fenghe bedankte sich bei seinem südkoreanischen Kollegen Suh Wook dafür, dass Seoul die Rückgabe der sterblichen Überreste einiger chinesischer Freiwilliger in Südkorea an Peking ermöglicht hatte. Mit diesem symbolischen Schritt hatte Seoul seinen guten Willen gegenüber Peking demonstriert. Wei lud Suh ein, China zu besuchen. Die Initiative für das Gespräch sei von der chinesischen Seite ausgegangen.

Das Gebiet, auf dem die Beziehungen zwischen China und Südkorea schon am weitesten gedeihen, ist die Wirtschaft. Schon jetzt ist China der größte Handelspartner Südkoreas: sowohl als größtes Exportziel als auch als Quelle von Importen. Im letzten Jahr erzielte der Umfang des bilateralen Handels über 284 Milliarden US-Dollar, wie die chinesische Zeitung Global Times berichtete. Die chinesischen Importe nach Südkorea bezifferten sich auf fast 111 Milliarden US-Dollar, während Südkorea Waren nach China im Wert über 173 Milliarden Dollar exportierte. Seoul investierte in China in über 2.100 Projekte – ein zwölfprozentiger Anstieg gegenüber dem Vorjahr (2018).

Trotz aller Widersprüche zwischen Seoul und Washington ist ein baldiger Abbruch der Allianz zwischen beiden Staaten nicht in Sicht. Südkorea befindet sich in einer Region mit zum Teil sehr gefährlichen geopolitischen Diskrepanzen. Es befindet sich offiziell immer noch im Krieg mit Nordkorea, auch wenn seit den 1950er-Jahren ein Waffenstillstand herrscht. Seine Beziehungen zum anderen westlich-orientierten Staat in der näheren Umgebung, Japan, sind auch von Konflikten geplagt, die teils aktuelle wirtschaftliche Ursachen haben, teils historische.

Auch zu China hat Südkorea durchaus ein ambivalentes Verhältnis. In der koreanischen Geschichte fungiert China zwar als kulturelles Vorbild, da sowohl der Buddhismus als auch der über Jahrhunderte sehr einflussreiche Neokonfuzianismus über China nach Südkorea kamen, und Südkorea war auch fest im chinesischen imperialen System eingebunden und zahlte regelmäßige Tribute an China. Andererseits gab es auch immer wieder militärische Konflikte zwischen den Nachbarn. Mehrmals versuchten chinesische Herrscher, koreanische Gebiete zu erobern. Aus südkoreanischer Perspektive dürfte das letzte Beispiel einer derartigen militärischen Gefährdung seitens China die Beteiligung chinesischer Freiwilliger auf der Seite Nordkoreas sein (diese traten allerdings in den Krieg ein, als südkoreanische und US-Truppen kurz vor der chinesischen Grenze standen). Derzeit bietet China Südkorea keine Sicherheitsgarantie, so wie es die USA tun, an.

Angesichts dieser vielfältigen Widersprüche und Komplikationen, die für Südkorea zum Teil sehr gefährlich sind, ist ein abrupter Wechsel, ein fundamentaler Wandel der südkoreanischen Außenpolitik nicht zu erwarten. Wahrscheinlicher ist ein allmählicher, inkrementeller Anstieg der südkoreanischen Autonomie, der einen Balanceakt zwischen China und den USA umfasst, also ein allmählicher Wechsel vom US-Alliierten zum de facto neutralen Staat. Analysten halten es ohnehin schon jetzt für unwahrscheinlich, dass sich Südkorea für einen möglichen US-Militärschlag gegen China instrumentalisieren lassen wird. Mit dieser Entwicklung kann China durchaus leben: Es ist nicht auf der Suche nach einer Militärallianz, wie die USA sie mit der NATO nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ins Leben gerufen hatten. Das ist ein Kernelement chinesischer Diplomatie: Keine gegen Drittstaaten gerichtete Militärbündnisse eingehen. Die USA dagegen sind für ihre Machtprojektion in Asien auf Südkorea angewiesen, zumindest würde sie einen enormen Rückschlag erleiden, sollte Südkorea aus ihrem Orbit entgleiten (man denke etwa an das in Südkorea stationierte US-Raketenabwehrsystem THAAD, welches sich gegen potenzielle nordkoreanische, aber auch chinesische Raketenschläge richtet). Die derzeitig zu beobachtende Aggressivität Washingtons, das von objektiven weltpolitischen und –wirtschaftlichen Tendenzen dazu verdammt ist, seine Rolle als Hegemon einzubüßen, ist vielleicht auch gerade auf diese Hilflosigkeit zurückzuführen.

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