Lateinamerika

Umdenken im Agrargeschäft? Amazonas-Zerstörung ruft in Brasilien unterschiedliche Reaktionen hervor

Das Thema Umwelt nimmt zur Zeit in der Politik Brasiliens den ersten Platz ein. Anfang September tagte das Parlament in einer Sondersitzung über die Großbrände im Amazonas. Vergangene Woche widmete sich das Plenum ausschließlich den Folgen von freigesetzten Pestiziden.
Umdenken im Agrargeschäft? Amazonas-Zerstörung ruft in Brasilien unterschiedliche Reaktionen hervorQuelle: AFP

von Maria Müller

Gouverneure treffen sich auf Gesprächsrunden, Minister besuchen die Waldregion, und Präsident Jair Bolsonaro gesteht widerstrebend ein, dass etwas für die Umwelt getan werden müsse. Er möchte zumindest einige koordinierte Aktionen vorweisen. Doch anscheinend gibt es unter den Wortführern des Agrarbusiness keine einheitliche Stimme. Erste Differenzen deuten sich an.

Brasiliens Regierung musste die massiven Proteste im In- und Ausland zur Kenntnis nehmen. Diese Woche äußerte eine Gruppe von 230 Kapitalanlegern ihre Besorgnis über das Abholzen des Amazonas und die Umweltkrise. Sie forderte beteiligte Unternehmen auf, Aufsichts- und Transparenzrichtlinien zu erlassen. Deutschland und Norwegen haben bereits Gelder zum Schutz des Regenwaldes storniert. Das Thema steht bei der 74. Generalversammlung der Vereinten Nationen auf der Tagesordnung.

Stimmen aus Politik und Wissenschaft Brasiliens zeigen unterschiedliche Interessen auf

Juscelino Bezerra, Geographieprofessor an der Universität von Brasilien, meint, dass die Strategie der "harten Linie" der Regierung Bolsonaro zu ersten Differenzen in Politik und Wirtschaft geführt hat.

Laut Bezerra zeigen sich Risse im bisher geschlossenen Block des Agrarbusiness. Grund sei der mögliche Boykott brasilianischer Produkte durch europäische Staaten. Der finnische Unionspräsident Antti Rinne signalisierte diese Idee bereits. Er schlug der Europäischen Union vor, den Kauf brasilianischer Produkte vorläufig auszusetzen. Internationale Marken haben bereits eine Unterbrechung der Handelsbeziehungen mit brasilianischen Lederlieferanten angekündigt.

Nach Meinung des Wissenschaftlers kümmern sich zahlreiche brasilianische Hersteller nicht um die Umweltgesetzgebung, solange der globale Markt Ersatzlösungen anbietet. Die angedrohten Boykottmaßnahmen der europäischen Staaten würden dadurch relativiert, dass China den größten Teil der brasilianischen Rohstoffe importiere. Der asiatische Riese stelle keine hohen Anforderungen an Umweltstandards.

China ist Großabnehmer ohne Umweltanforderungen

Solange ein Großgrundbesitzer aus dem Mato-Grosso-Gebiet seine Produkte nach China verkaufen kann, interessiere er sich kaum für Umweltvorschriften. "An dem Tag, an dem China seine Einkaufspraktiken ändert, kann sich in Brasilien etwas ändern", argumentiert Bezerra.

Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Viehzucht und Ernährung gingen zwischen Januar und August dieses Jahres 32,38 Prozent der brasilianischen Exporte nach China, 17,73 Prozent in die Europäische Union und 7,36 Prozent in die Vereinigten Staaten. Die Chinesen kauften im Jahr 2018 fast 80 Prozent der brasilianischen Sojaproduktion, das wichtigste brasilianische Ausfuhrerzeugnis.

Professor Bezerra weist darauf hin, dass Bolsonaros "harte Linie" das Bemühen der brasilianischen Landwirtschaftsindustrie zunichte macht, die seit den 1990er-Jahren versuchte, ein Bild der Verantwortlichkeit und Modernität zu vermitteln. Man habe sich bemüht, das eigene Image von den Landkonflikten, Massakern an Indigenen und Kleinbauern sowie von den Verstößen gegen die Umweltgesetze reinzuwaschen.  

Umweltskandal sei durch die Konkurrenz hervorgerufen

Der Präsident der "Brasilianischen Gesellschaft für den ländlichen Raum", Marcelo Vieira, lobte indessen die Umweltentscheidungen der Regierung. Er sagte, dass der internationale Skandal um die Brände im Amazonas von "mit Brasilien konkurrierenden Ländern" lanciert würde.

"Die Bundesregierung (Brasiliens) spricht über die Einrichtung einer speziellen Einsatztruppe zur Lösung des Problems. Das ist die richtige Strategie", sagte Vieira am 23. August. "Die Diskussionen innerhalb der Ministerien und der Regierung gehen in die richtige Richtung." Er verliert kein Wort der Kritik am bisherigen Vorgehen Bolsonaros.

Umweltstandards sind eine Kostenfrage

Hingegen äußerte sich die Senatorin Kátia Abreu gegenüber der Presse, Bolsonaros Rhetorik sei "umweltfeindlich" und greife selbst regierungsfreundliche Landwirte an.

Nach ihrer Einschätzung würde man in einigen Bereichen der Landwirtschaft Vorteile im Umweltverhalten der Regierung sehen, während andere direkt vor deren negativen Auswirkungen warnen.

Manche Agrarhersteller, insbesondere solche, die nicht das gesamte Netzwerk beherrschen, sind über die Produktionskosten besorgt und fragen sich nach ihrer Gewinnspanne, falls sie die Umweltstandards einhalten würden.

Brandrodung des Regenwalds ist ein lukratives Geschäft

Abreu sagt weiter:

Diejenigen, die den Regenwald in Brand stecken, greifen nach Land und verkaufen es an Großerzeuger weiter. Die industrielle Landwirtschaft kauft das Land auf, produziert darauf, verarbeitet und vermarktet die Produktion. Darunter gibt es viele Stimmen, die Bolsonaro unterstützen. Doch Unternehmer aus anderen Bereichen, z.B. solche, die mit Düngemitteln, Pestiziden und Maschinen Geschäfte machen oder die in den weiterverarbeitenden Branchen tätig sind, sehen große Probleme. Auch die Transportfirmen der Logistik. Sie werden an die Tür (der Regierung) klopfen und Entschädigungen fordern.

Technische Diskussionen "ohne Ideologie"

Für den Abgeordneten Neri Geller im Umweltausschuss der Parlamentarischen Landwirtschaftsfront dürften ideologische Differenzen jetzt keine Rolle spielen. Die technische Diskussion könne man weder von rechts noch links noch vom Zentrum aus führen. Es gehe um nationale Souveränität und wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die stärksten Wirtschaftszweige Brasiliens seien heute die Sojabohnenproduktion, die Viehzucht und die industrialisierte Landwirtschaft, die im mittleren Westen und im Norden des Landes große Fortschritte machten.

Er räumt ein, dass es "Kommunikationsfehler" zwischen der Regierung und der Europäischen Union gegeben habe. Andererseits könne man nun sehen, dass sich die Nationalregierung in Brasília den Interessen der Bundesstaaten anpassen wolle.

Der Kongressabgeordnete reiste in den Bundesstaat Pará, um mit Gouverneuren, Ministern, Mitgliedern der Armee und Aufsichtsgremien über den Kampf gegen die Brandstiftung zu diskutieren.

Ein Katastersystem gegen Landraub

Geller war von 2014 bis 2015 unter der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff Landwirtschaftsminister. Ihm zufolge sei es notwendig, illegale Aktivitäten systematisch zu bekämpfen. Er befürwortet ein umfassendes Katastersystem für alle Bodenflächen. Damit könne man die Brandstifter und ihre Hintermänner erfassen. Die Maßnahme wird auch von Umweltminister Ricardo Salles verteidigt. Während einer Veranstaltung in São Paulo gab Salles an, dass die Besitzer großer Gebiete oft nicht registriert sind. Mit einer Grund- und Bodenordnung könne man leichter feststellen, "wer für das verantwortlich ist, was gerade passiert".

Gerade auch die anonymen Aktiengesellschaften von internationalen Kapitalanlegern, die mit einer "hohen Rendite beim Landkauf in Brasilien" spekulieren, können sich bisher der Verantwortung entziehen. Der fehlende oder lückenhafte Kataster ermöglichte bisher den Landraub. Es ist fraglich, ob diese Modernisierung in Brasilien durchgesetzt werden kann. Bolsonaro hat alle laufenden Verfahren zur Anerkennung indigener territorialer Besitztitel einfrieren lassen.

Der schnelle Profit geht über alles

Der Bundesbeauftragte Patrus Ananias aus der Arbeiterpartei greift dagegen direkt die Umweltpolitik der Regierung an. Ananias sagt, dass das Verhalten Bolsonaros in diesem Thema "eine Katastrophe" sei, weil er keine Umweltpolitik wolle. Seiner Meinung nach gebe es in den verschiedenen Bereichen der landwirtschaftlichen Produktionskette unterschiedliche Sichtweisen.

Wir haben eine stark rückständige Branche, ohne soziale und ökologische Sensibilität, ohne Zukunftsperspektiven, die nur an den unmittelbaren Gewinn denkt. In anderen Bereichen gibt es Menschen, die sensibler gegenüber der Umwelt sind, weil das Thema für die Landwirtschaft von grundlegender Bedeutung ist.

Eine strategische Diskussion ist notwendig

Nach Ansicht von Yamila Goldfarb, einer Doktorandin in Humangeographie und Professorin an der ABC-Bundesuniversität in San Andrés, ist eine strategische Diskussion unumgänglich. Die Umweltzerstörung durch die Agrarindustrie sei keine Neuigkeit. Doch heute werde sie ganz offiziell mittels der Politik des Präsidenten gefördert.  

"Aus strategischer Sicht gibt es Probleme, die einige Branchen nicht sehen können und wollen. Die brasilianische Agrarindustrie, insbesondere die Produktion von Commodities, funktionierte schon immer auf der Grundlage verheerender sozialer und ökologischer Folgen. Die Agrargrenzen wurden auch früher durch Holzeinschlag, Verbrennen, Landkonflikte und Landraub von traditionellen Gemeinden ausgeweitet", so Frau Goldfarb.

Ihrer Meinung nach sei das, was heute in Brasilien geschieht, eigentlich keine Neuigkeit. Der Unterschied zu früher bestehe in dem politischen Diskurs, der das Ganze verteidige und hochlobe.

"Jeder mit einem minimalen strategischen Verstand weiß, dass diese Rede ein Schuss ins eigene Bein ist. Um Waren exportieren zu können, müssen wir eine Reihe von Vereinbarungen zum Umweltschutz einhalten", sagt sie.

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