Trotz Nichteinhaltung des Friedensabkommens: Frische EU-Millionen für Kolumbien
von Maria Müller
Die Friedensvereinbarungen in dem südamerikanischen Land wurden von den beiden beteiligten Regierungen bisher nur zu einem geringen Prozentsatz erfüllt. Doch sie bescherten den Präsidenten Juan Manuel Santos und Iván Duque viele Millionen an internationaler Finanzhilfe.
Die europäische Friedensförderung umfasst ein Gesamtpaket im Wert von fast 600 Millionen Euro. Daraus wurden Mittel des EU-Treuhandfonds für Kolumbien (Zuschüsse in Höhe von rund 95 Millionen Euro) und des Instruments für Stabilität und Frieden (28 Millionen Euro) zur Unterstützung des Krisenbewältigungsplans der kolumbianischen Regierung übergeben. Zusätzlich noch Darlehen der Europäischen Investitionsbank (400 Millionen Euro) und Mittel für die "laufende Zusammenarbeit" (67 Millionen Euro) kombiniert. Auch der UNO-Entwicklungsfonds steuerte fast fünf Millionen bei.
Wo sind die Gelder aus Europa und der UNO geblieben? Ohne die Details in jedem Fall überprüfen zu können – das ist die Aufgabe des Europäischen Rechnungshofes und des Europaparlaments –, besteht ein nicht zu leugnender Widerspruch zwischen dem hohen Defizit bei den staatlichen Friedensfinanzen und den beeindruckenden Summen, die bisher nach Kolumbien flossen. Vor allem die seit Erhalt der internationalen Gelder hoch aufgestockten Militärausgaben des Landes geben zu denken.
Am 18. Juni urteilte Marta Lucía Ramírez, die Vizepräsidentin Kolumbiens, gegenüber der spanischen Presseagentur EFE über den Ex-Präsidenten ihres Landes:
Juan Manual Santos hat mehr Geld in Werbekampagnen für den Friedensvertrag investiert als in die Umsetzung der Vereinbarungen. Er hinterließ uns ein unterfinanziertes Friedensprogramm.
Kolumbien investiert in Aufrüstung anstatt in den Frieden
Doch nicht nur das. Bereits im Staatshaushalt 2018 steigerte Santos als Beitrag zum Frieden die Militärausgaben um acht Prozent auf rund 10,7 Milliarden Dollar und reduzierte die Sozialausgaben um 16 Prozent. Was die heutige Vizepräsidentin Ramírez verschweigt, legt der Haushaltsbericht 2019 offen: Nicht nur Santos, sondern auch die neue Regierung unter Iván Duque hat den Friedensprozess finanziell kaltgestellt. Es gibt wenig Geld für die vereinbarten Wirtschafts- und Agrarprojekte zur sozialen Umgestaltung der vernachlässigten Regionen des Landes, geschweige denn für Entschädigungszahlungen an die acht Millionen registrierten Opfer.
Im April 2019 analysierte Diego Fernando Carrero, Wirtschaftsprofessor an der Universität in Bogotá, den Staatshaushalt 2018/2019 und die "skandalöse Unterfinanzierung" der Friedensvereinbarungen:
Der Friedensvertrag von 2016 sieht einen 15-jährigen Finanzrahmen vor. Die von Santos dafür veranschlagte Summe ist geringer als die Verteidigungs- und Sicherheitskosten von 3 Jahren und 9 Monaten.
In Wirklichkeit müsste sie dreimal höher sein, wie der kolumbianische Rechnungshof und die Bank of America berechneten. Der Bericht der Finanzprüfer verdeutlicht zudem, dass das Rahmenprojekt für die Entwicklung der Konfliktgebiete stark gekürzt wurde, obwohl ein Teil der internationalen Hilfsgelder direkt in die Staatskasse floss. Begründung: "Zur Stärkung der kolumbianischen Institutionen".
Die höchsten Militärausgaben pro Kopf in Lateinamerika
Offenbar genießen auch die Streitkräfte diese institutionelle Stärkung. Denn gleichzeitig veranschlagte Präsident Santos für den Militärhaushalt 2018 satte 10,7 Milliarden Dollar, und Präsident Duque nun 11,2 Milliarden im Jahr 2019. Das ist das höchste Militärbudget Lateinamerikas im Verhältnis zur Bevölkerungszahl.
Im Vergleich dazu die Militärausgaben der Region zwischen den Jahren 2018 und 2019:
Brasilien: 26,7 Milliarden US-Dollar, 330.000 Soldaten, Bevölkerungszahl: 209,3 Millionen
Kolumbien: 11,2 Milliarden US-Dollar, 265.000 Soldaten und 150.000 Polizisten, Bevölkerungszahl: 49 Millionen
Mexiko: 7 Milliarden US-Dollar, 270.000 Soldaten, Bevölkerungszahl: 129 Millionen
Venezuela: 4 Milliarden US-Dollar, 115.000 Soldaten, Bevölkerungszahl: 32 Millionen
Europa-Gelder als Finanzausgleich für Kolumbien
Wie bekannt, rüstet Kolumbien seit dem Abschluss des Friedensvertrages vor allem im Bereich der Kriegswaffen auf. Doch Luftabwehrgeschütze, Kampfhubschrauber, Panzer, panzerbrechende Raketen oder ferngesteuerte Bomben dienen nicht dazu, im Dschungel agierende Paramilitärs oder Drogenmafias zu bekämpfen.
Objektiv bilden die Millionen aus dem Treuhand- und Friedensfonds für Kolumbien einen Finanzausgleich für den kolumbianischen Staatshaushalt. Sie ermöglichen der Regierung, ihre eigenen Verpflichtungen finanziell einzuschränken und enorme Mittel in die großformatige Aufrüstung mit konventionellen Kriegswaffen umzulenken. Die überwiegend mit internationalen Geldern bezahlten Friedensmaßnahmen erwecken dann den Anschein, dass es mit den Abmachungen in Kolumbien vorangeht.
Bericht des Aktionskomitees der Europäischen Union und weitere Millionen für Kolumbien
Ungeachtet dieser extrem auffälligen Wirtschaftsdaten präsentierte das Aktionskomitee der Europäischen Union für Kolumbien am 24. Juni einen Bericht über seine bisherigen Aktivitäten in der zweieinhalbjährigen Phase nach Konfliktende. Man betont darin die erfolgreiche Umsetzung der Friedensvereinbarungen und beurteilt die dortigen Entwicklungen insgesamt als "sehr positiv".
Auf der Webseite des Komitees findet man einen ästhetisch aufgemachten, bunten Online-Prospekt, in dem die vom Friedensfonds finanzierten 20 Projekte benannt, lokalisiert und nach ihren Zielsetzungen thematisch aufgelistet sind. Doch es fehlen wichtige Informationen, wie beispielsweise die bisherigen Kosten jedes Projekts, seine Teilnehmerzahl, Berichte von Nutznießern und benachbarten Augenzeugen, der Stand der Umsetzungsarbeiten, eine Fotodokumentation der Projekte usw.
Die professionell geschönten Sätze des Berichts wirken wie Nachrichten aus einem anderen Land. Sie sind für den Leser kaum überprüfbar, doch sie ebnen den Weg dafür, dass alles so weitergeht wie bisher.
Das Komitee informiert über 70 Millionen Euro, die in wirtschaftliche, kulturelle und Fortbildungsmaßnahmen investiert wurden. Weitere 50 Millionen stehen für Agrarprojekte bereit, mit denen man 7.800 Kleinbauern in den am meisten betroffenen Konfliktgegenden unterstützen will. Des Weiteren fließen 20 Millionen direkt in die kolumbianische Staatskasse "zur Unterstützung der Regierungspolitik" für die Wiedereingliederung in das zivile Leben. Die Botschafterin des Komitees in Kolumbien, Patricia Llombart, verkündete auf der Konferenz in Brüssel, dass man gegen Jahresende weitere 100 Millionen Euro investieren werde. Sie schätze den Prozess des Nachkonfliktes in Kolumbien optimistisch ein.
Weitere Gelder an Erfüllung der Friedenspflichten binden
Angesichts der Konzentration der Staatsfinanzen im militärischen Bereich – im völligen Gegensatz zur politischen Kultur eines Friedensprozesses – müssten weitere Gelder aus Europa an die strikte Erfüllung der Friedensverpflichtungen geknüpft werden.
Das ist bisher nicht oder nur völlig unzureichend geschehen, sonst sähe es dort heute anders aus. Die Situation in Kolumbien verdichtet sich immer mehr in Richtung des wiederauflebenden internen Krieges, tägliche Schreckensnachrichten bestätigen das. Die dafür verantwortliche kolumbianische Regierung sollte so lange mit dem Einfrieren weiterer internationaler Mittel rechnen müssen, bis sie ihre Verpflichtungen erfüllt.
Die heutige politische Partei "Alternative Revolutionäre Kraft" (FARC), die aus der früheren Kriegspartei entstand, richtete vor einer Woche einen Appell, fast ein Hilferuf, an die kolumbianische Regierung und an die internationale Öffentlichkeit. Denn in Kolumbien werden fast täglich Friedensaktivisten, Ex-Guerilleros, Sprecher von indigenen Völkern oder von Umweltbewegungen ermordet. Sie haben sich darauf eingelassen, ihre Rechte aus dem Friedensvertrag einzufordern, und bezahlen nun ihren Mut mit dem Leben.
767 Morde seit Abschluss des Friedenspaktes – täglich neue Opfer
"Die politische Gewalt hat das Leben von 133 früheren FARC-Mitgliedern und 34 ihrer Familienangehörigen ausgelöscht. Elf weitere Personen wurden entführt", heißt es in dem offenen Brief der FARC-Partei.
Zusätzlich zu diesen Opfern wurden 600 Landsleute wegen ihrer Führungsrolle in ihren Gemeinden ermordet. Diese systematischen Morde sind eine klare Verletzung der Abmachungen, mit denen der Konflikt beendet und ein stabiler und dauerhafter Frieden geschaffen werden sollte. Staat und Regierung stehen dafür in der Verantwortung. Sie sind verfassungsgemäß verpflichtet, das Leben und die Sicherheit aller Kolumbianer zu garantieren", erklärt das Schreiben.
Die Partei der Entwaffneten kritisiert, dass Präsident Iván Duque die vereinbarten Maßnahmen zu ihrem Schutz nicht verwirklicht. "Ganz im Gegenteil, der kolumbianische Präsident will jetzt seinen 'Sicherheitsplan Oportuna' durchführen, der die Friedensvereinbarungen faktisch außer Kraft setzt", so der Brief.
Die Unterzeichner bitten die Garantiestaaten des Friedensabkommens Kuba und Norwegen um Hilfe, sowie die Vereinten Nationen und den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Nur geringfügige Erfüllung der staatlichen Verpflichtungen
Der Sicherheitsrat der UNO hat im April dieses Jahres einstimmig festgestellt, dass sich der kolumbianische Friedensprozess in der Krise befindet. Der Staat hat die Verpflichtungen aus den Vereinbarungen bislang nur zu 25 Prozent erfüllt. Damals gab Präsident Duque im Gespräch mit Jean Arnault, dem Chef der UNO-Mission in Kolumbien, offen zu:
"Wir teilen die Besorgnis, dass viele dieser Wirtschaftsprojekte, mit denen über 10.000 Personen wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden müssten, nicht mehr als 100 Personen umfassen." (Zur Erinnerung: Die FARC-Armee bestand aus 12.000 Mitgliedern.)
Um den extremen Kontrast zwischen der Wahrnehmung des Aktionskomitees des europäischen Friedensfonds und der schmerzlichen Realität in Kolumbien zum Ausdruck zu bringen, seien dazu im Folgenden einige Fakten genannt.
Die Regierung unter Iván Duque hat die unter Präsident Santos begonnenen Friedensverhandlungen mit der ELN-Guerilla nicht fortgesetzt. Heute ist sie erneut "Kriegsgegner" in einer Neuauflage der vorherigen Ära.
Mehrere hundert entwaffnete FARC-Mitglieder sind wieder untergetaucht – als Folge davon, dass die Regierung die Vereinbarungen zur Wiedereingliederung nicht oder kaum erfüllte. Vor allem die straflose, serienweise Ermordung der Entwaffneten wirkt entsprechend. Heute gehören Meldungen über bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen FARC-Dissidenten oder ELN-Guerillas und Paramilitärs sowie Aktionen der offiziellen Armee gegen Zivilpersonen schon wieder zum kolumbianischen Alltag.
Dort, wo die wenigen Programme zum Ersatz der Cocapflanzungen verwirklicht werden, dringen Paramilitärs in die Dörfer ein und terrorisieren die Bewohner. Neuere Berichte zeigen, dass die Praxis der Landvertreibung wieder zunimmt. Hunderte von Bauernfamilien müssen erneut ihre Gebiete verlassen. Laut UNO-ACNUR-Berichten aus dem Jahr 2018 zählt Kolumbien über 7 Millionen Binnenflüchtlinge – mehr als im Syrienkrieg. Die EU will sie mit fünf Millionen Dollar unterstützen. Doch die Agrarmultis, die sich ihr Land einverleiben, werden nicht hinterfragt.
Laut Berichten der Opfer geschehen viele Verbrechen durch Paramilitärs unter den Augen der örtlichen Militärs. Nach jüngsten Berichten sind die Streitkräfte selbst dabei, zu den kriminellen Praktiken aus den Zeiten vor dem Friedenspakt zurückzukehren. Ein heimlich aufgenommener Videofilm zeigt das Foltertrainig von Soldaten in einer Armeeeinheit. Verdächtige Denunzianten werden verfolgt und bedroht.
Die New York Times berichtete im Mai von internen Anweisungen des Oberbefehlshabers der kolumbianischen Armee, General Nicacio Martínez, die Zahl der "getöteten Feinde" zu verdoppeln. Unter der gleichen Parole wurden in den 80er-Jahren über 10.000 Zivilisten, darunter Minderjährige und Behinderte, von Militärs ermordet – und fälschlicherweise als Guerillas ausgegeben. Diese Fälle der sogenannten "falsos positivos" sind seit einem Jahr ausführlich dokumentiert.
Heute beherrschen Paramilitärs die ländlichen Zonen des Landes und damit die Transportwege für den Drogenexport. Die weltweit größte Kokainmenge kommt wieder aus Kolumbien. Es ist nicht glaubhaft, dass das soldatenstärkste und teuerste Militär Lateinamerikas (im Vergleich zur Bevölkerungszahl) nicht dazu in der Lage sein soll, das eigene Territorium unter staatliche Kontrolle zu bringen.
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