Wie brasilianische Militärs Jair Bolsonaro zum Präsidentschaftskandidaten aufbauten
von Mario Schenk
Bereits im Jahr 2014 beschlossen ranghohe Offiziere, einen eigenen Kandidaten ins Rennen um den Posten als Staatsoberhaupt zu schicken. Nach anfänglichen Zweifeln entschieden sich die Generäle für den früheren Hauptmann Bolsonaro. Teile der Streitkräfte halten sich für die beste Interessenvertretung der brasilianischen Nation. Insbesondere "strategische Bereiche", wie die Erdölförderung und Stromerzeugung, stehen unter ihrem "Schutz". 33 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur scheinen die Militärs in Brasilien nun wieder das erste und letzte Wort zu haben.
Militärs im Hintergrund gehen an die Öffentlichkeit
Wie die argentinische Zeitung Ámbito Financiero Anfang Oktober berichtete, planen Offiziere des brasilianischen Militärs seit Längerem, wieder die Rolle eines Protagonisten in der Gesellschaft einzunehmen. Ziel sei es, eine Art "neue Demokratie" anzustoßen, die durch das aktuelle System verhindert werde. Ihre Grundanschauungen seien der politische Konservatismus, der ökonomische Liberalismus, eine aktive Rolle der Militärs im politischen Geschehen und die Mission, die politische Linke mit der Wurzel auszureißen. Die Zeitung beruft sich dabei auf einen ranghohen Offizier der Streitkräfte, der seit Jahren aktiv an einem "minutiösen Prozess des politischen Aufbaus" beteiligt sei. Dieser Prozess habe mit dem Sieg Bolsonaros im ersten Wahlgang seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden, so der Armeeangehörige, der anonym bleiben wollte.
Wohl aufbauend auf den jüngsten Erfahrungen, dass Bolsonaros offene Verherrlichung der Militärdiktatur (1964-1985) keine Stimmenverluste, sondern eher -gewinne brachte, sind die Militärs im Hintergrund zunehmend ins Licht der Öffentlichkeit getreten. Mitte Oktober verriet der Vier-Sterne-General Augusto Heleno gegenüber dem Magazin Época, dass sich eine Gruppe von Generälen der Reserve seit Langem mehrmals in der Woche treffe, um Tischvorlagen für eine Regierung unter Bolsonaro zu erarbeiten. "Wir arbeiten zu Themen, die zukünftig von möglichen Ministerien priorisiert werden sollen", so der General. Heleno spricht von mindestens sechs Ressorts, die an Militärs gehen werden. "Verteidigung und Sicherheit ist mein Part", kommentierte Heleno den Stand der Postenvergabe. Natürlich sehe man sich aktuell nur in beratender Funktion. "Ein Regierungsprogramm gibt es erst, wenn es Minister gibt. Im offiziellen Programm sind die Vorhaben festgehalten. Das kann während der vier Jahre Regierung erweitert, analysiert und vertieft werden" so der General. Über alles Weitere entscheide Bolsonaro. Zudem folge man "im Wahlkampf dem Hinweis, eine detaillierte Darstellung der Vorhaben zu vermeiden, um Polemiken zu ersparen". Der General erklärt die wahren Absichten also schlichtweg zur Black Box.
Die Suche nach einem Kandidaten
Die Suche nach einem Kandidaten, der die Interessen der Streitkräfte im Kongress verteidige, habe bereits im Jahr 2014 begonnen, heißt es in der argentinischen Zeitung weiter. Auslöser dafür waren die Massenproteste von 2013, die das politische System nachhaltig erschütterten. Zeitgleich wurden die Ausmaße der Korruption um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras deutlich. Politiker fast aller Parteien waren involviert. Innerhalb eines Jahres verwandelten sich die sozial motivierten Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen und die schlechte Finanzierung des Bildungs- und Gesundheitssystem vermittels der Medien in Demonstrationen der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem parlamentarischen System und stürzten es in eine tiefe Legitimitätskrise. Besonders geschädigt ging die Linke im Allgemeinen und die PT im Besondern aus dem Skandal hervor.
Die linksgerichtete Regierungschefin Dilma Rousseff erlitt 2016 ein sehr zweifelhaftes, aber zweifelsfrei politisch motiviertes Amtsenthebungsverfahren des mehrheitlich rechts-konservativ geprägten Parlamentes. Die Vorwürfe "falscher Amtsführung" waren zwar nicht haltbar; die eines massiven Stimmenkaufs unter Parlamentsabgeordneten, um ihre Abwahl zu sichern, hingegen schon.
Der Historiker Vladimir Safatle, der zu den Kontinuitäten der Militärdiktatur bis in die heutige Gesellschaft forscht, spricht von einer "brutalen Frustration und Desidentifikation der Bevölkerung mit dem politischen System". Nur die Rechte bot wohlfeile Antworten, und zwar in Form von Radikalisierung und Abwendung vom bisherigen institutionellen Rahmen. Die Militärs schienen das am besten erkannt zu haben.
"Angesichts dieser Situation [der Massenproteste] entschieden wir, also eine Gruppe von Militärangehörigen höherer Ränge, dem Kommando der Streitkräfte den Abgeordneten [Bolsonaro] vorzustellen. Wir hatten dabei bereits die Wahlen in diesem Jahr vor Augen. Ein Jahr zuvor hatte die Armee analysiert, dass es eine weitere Polarisierung geben werde, und dass Bolsonaro in der Lage sein würde, es mit der PT aufzunehmen", wird die anonyme Quelle in Ámbito Financiero zitiert. "Die Geschichte Brasiliens hatte bis dahin gezeigt, dass sich ihre Elite niemals um die Nation scherte und nur an sich selbst dachte. Uns war klar, dass sich die Zentrumsparteien niemals zusammenschließen würden, um die Linke zu bekämpfen. So ist es passiert. Wir hatten recht, als wir auf Bolsonaro setzten".
Zu Beginn gab es noch erhebliche Zweifel am Charakter des früheren Fallschirmspringers. Laut einem Dossier aus dem Jahr 1990 wurde Bolsonaro während seiner aktiven Zeit beim Militär mehrmals disziplinarisch bestraft. In dem Dossier sind Beobachtungen von Vorgesetzten und eines Kameraden vermerkt, mit denen er als "intrigant" und "feige" charakterisiert wird. Dennoch, "die Art, wie er für die Streitkräfte eintrat, ließ unsere Wertschätzung ihm gegenüber wachsen", so der Offizier weiter. In der Folge führten die Militärs mit dem bis dahin bedeutungslosen Abgeordneten einige Gespräche. "Er akzeptierte unsere Vorschläge und änderte einige seiner Ansichten. Zum Beispiel ging er vom Wirtschaftsnationalismus zum Liberalismus über. Was man im Wahlkampf sah, war bereits Ergebnis des Dialogs mit der Armee". Zudem brachte er "Ordnung in sein Privatleben". Die Heirat mit seiner dritten Frau ging laut Quelle auf den Druck der Militärs zurück. Nicht Bolsonaro ist der Macher, für den er sich ausgibt. Die Militärs hinter ihm zogen die Fäden.
Der Einfluss der Militärs auf die Politik Bolsonaros
Der Einfluss der Streitkräfte auf die Ausrichtung der Politik Bolsonaros trat im Wahlkampf mehrmals offen durch Richtungsentscheidungen oder Drohungen gegen das politische System zu Tage. Bolsonaros Vize ist der pensionierte Armeegeneral Antônio Hamilton Mourão. Dieser drohte Anfang September mit einem Putsch des Präsidenten "von innen" unter Zuhilfenahme der Streitkräfte, also einem Staatsstreich von höchster Stelle. In einem Interview für den TV-Sender Globo betonte Mourão, dass "seine Kameraden im Oberkommando der Streitkräfte" der Ansicht seien, dass eine "Militärintervention angebracht ist, sollte die Justiz das politische Problem nicht lösen." Gemeint waren das politisch-juristische Hin und Her um die Verhaftung und die mögliche Kandidatur von Luiz Inácio Lula da Silva, des bis dahin aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten.
In einem Vortrag vor Polizeischülern im Juli legte Eduardo Bolsonaro, ältester Sohn des "Hauptmanns" und meist gewählter Abgeordneter, mit Drohungen gegen die Justiz nach. Angesprochen auf die Möglichkeit, das Oberste Bundesgericht (STF) könne die Kandidatur Bolsonaros aufgrund illegaler Wahlkampfspenden verhindern, zeigte sich der Junior siegessicher. "Wenn man das STF schließen will, schickt man zwei Soldaten. Man braucht nicht einmal einen Jeep. […] Wer ist denn das STF? Wenn du einen Richter festnimmst, denkst du, da gibt es eine Demonstration dagegen, für den Richter?" Und tatsächlich blieb die öffentliche Entrüstung auf einige hohe Funktionsträger und Linke beschränkt.
Manipulation des Wahlkampfes
Den Sieg überlassen die Militärs indes nicht gern einem demokratischen Entscheidungsprozess der Bevölkerung. Allem Anschein nach haben sie manipulierend in den Wahlkampf eingegriffen. Wie Amerika21 erfahren hat, stecken Teile des Militärs hinter dem WhatsApp-Skandal, der den Wahlkampf in der vergangenen Woche erschüttert hat. Nachforschungen der Zeitung Folha de São Paulo hatten ergeben, dass private Firmen Messengerdienste wie WhatsApp damit beauftragten, Fake News über den linksgerichteten Kandidaten zu verbreiten. In Zuge dessen nahm die Bundesstaatsanwaltschaft Ermittlungen auf, und das Oberste Wahlgericht ordnete die Löschung von 146.000 Posts an, die bereits eine Reichweite von mehr 20 Millionen Lesern gehabt haben sollen. Die Praxis war zweifellos illegal, weil Wahlkampfunterstützung durch die Privatwirtschaft mittlerweile verboten ist und Fake News zur Verzerrung des Meinungsbildungsprozesses beitragen. Fast die Hälfte der Brasilianer soll sich hauptsächlich über WhatsApp "informieren".
Offen war bisher, woher die Adressdaten der Zielpersonen stammten. Gegenüber Amerika21 berichtete ein brasilianischer Politikwissenschaftler, der aus Gründen persönlicher Sicherheit anonym bleiben will, dass die Datensätze vom Militär bereitgestellt wurden. Diese Insider-Information stamme von drei verschiedenen Quellen in den Reihen des Militärs, die mit der Parteinahme der Generalität für Bolsonaro unzufrieden seien.
Bolsonaro hat indes klargestellt, etwas anderes als einen Sieg gar nicht zu akzeptieren. Am Freitag vor der ersten Wahlrunde warnte er im Fernsehinterview, einen Wahlsieg anderer nicht hinzunehmen. "Wenn ich die aktuelle Lage betrachte, akzeptiere ich kein Wahlergebnis außer meiner Wahl", so der Ex-Soldat im Interview beim Sender Bandeirantes. Der PT unterstellte er, für den Fall ihrer absehbaren Niederlage einen Plan B zu haben und Wahlbetrug begehen zu wollen. Im selben Atemzug drohte der Kandidat mit einem möglichen Eingreifen der Militärs. "Die militärischen Institutionen würden keine Initiative ergreifen. Doch bei einem ersten Fehler, den die PT begehen würde, könnte es zu einem Einschreiten der Streitkräfte kommen", so Bolsonaro.
Militärs in Ämtern
Äußerungen dieser Art verdeutlichen, mit welcher Sicherheit Bolsonaro und Co. davon ausgehen konnten, den Rückhalt der Streitkräfte zu haben. Allerdings mittlerweile auch den der Bevölkerung. Mit jeder Drohung gegen Linke und das Establishment wuchs der Zuspruch für den Rechtsextremen sowie für jene, die auf seiner Erfolgswelle schwimmen. Bei den Landtags- und Kongresswahlen am 7. Oktober sind landesweit 79 Militärs in Parlamente und politische Ämter gewählt worden. In den Nationalkongress schafften es 22. Im Vergleich zur Wahl 2014 hat sich die Anzahl von Armeeangehörigen in Parlamenten damit vervierfacht. In den drei Bundesstaaten Rio de Janeiro, Rondônia und Santa Catarina haben Ex-Soldaten gute Aussichten, in der Stichwahl am 28. Oktober den Gouverneursposten zu gewinnen.
So oder so gelangen immer mehr Militärs in politische Entscheidungspositionen. Das Team um Bolsonaro setzt sich zur Hälfte aus pensionierten und beurlaubten Angehörigen der Streitkräfte zusammen. Im Finanz- und handelspolitischen Flügel finden sich Investmentbanker wieder, die vor allem die Privatisierung der staatlichen Anteile von immerhin noch 147 Betrieben predigen. Bei strategischen Sektoren, wie der Energiegewinnung und -versorgung oder der Luftfahrttechnik, soll jedoch die Kontrolle des Staates beibehalten werden – auch auf Drängen der Militärs. Am Donnerstag wurde bekannt, dass unter Bolsonaro ein Offizier die Petrobras leiten wird. Das Team sei sich einig, dass nur ein Militär den notwendigen Eindruck von "Seriosität" für den Vorstandsposten des von Korruption betroffenen Unternehmens vermitteln könne.
Ein Leser der Folha de São Paulo kommentierte jüngst einen Artikel: "Wer Bolsonaro wählt, sucht im Grunde Sicherheit, das Ende von Korruption, Nationalismus, und ganz besonders Anti-Petismus. Bolsonarismo ist nicht mit Neoliberalismus zu vergleichen. Da gab es andere Kandidaten. [Der] General [sic!] macht keinen Ausverkauf des Landes." Im Grunde hat er recht. Doch ist der Bolsonarismo eine Konstruktion der Militärs. Und die verstecken ihre Absichten bisher noch in der Black Box.
Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst auf dem Informationsportal amerika21.de Nachrichten und Analysen zu Lateinamerika erschienen.
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