Keine Antwort auf soziale Probleme: Rechte Regierungen in Südamerika verlieren Rückhalt
Nach der Niederlage an den Wahlurnen stellt sich Chiles Präsident Sebastián Piñera mit zerknirschter Miene vor die Kameras. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung hat seine rechte Regierung vor rund einer Woche eine schallende Ohrfeige kassiert – und der 71 Jahre alte Milliardär räumt direkt freimütig ein, dass er und sein Team nicht die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen der Menschen parat hatten. "Bei diesen Wahlen haben uns die Bürger eine klare Botschaft überbracht. Wir haben nicht ausreichend auf ihre Forderungen und Wünsche gehört", sagt der Staatschef. "Es ist unsere Pflicht, aufmerksam und demütig zuzuhören."
Die Pleite der Piñera-Regierung steht symbolisch für eine Entwicklung in mehreren Ländern der Region. Denn angesichts sozialer Verwerfungen durch die Corona-Krise könnte jetzt wieder die Stunde der Linken schlagen. Ähnlich wie Piñera stehen derzeit auch die rechten Staatschefs Iván Duque in Kolumbien und Jair Bolsonaro in Brasilien heftig in der Kritik. Angesichts der COVID-19-Pandemie müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, keine Antworten auf die sozialen Härten infolge der Krise zu liefern und die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen nicht zu verstehen.
Südamerika sucht seit Langem nach einer politischen Mitte, das Pendel schlägt immer wieder in die Extreme aus. In den späten 2000er Jahren dominierte die Linke: Sie brachte mit Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador charismatische Männer hervor, die dank hoher Rohstoffpreise und einer boomenden Weltwirtschaft viele Wohltaten verteilen und zahlreichen Menschen in der Region tatsächlich einen Aufstieg in die Mittelschicht ermöglichen konnten. Doch auch die linken Caudillos waren nicht vor autoritären Tendenzen und Korruption gefeit, die Stimmung schlug um, und konservative Staatenlenker übernahmen.
Nun also wieder alles auf links? Das Ergebnis von Piñeras konservativer Koalition am vergangenen Wochenende jedenfalls war das schlechteste seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie im Jahr 1990. Bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung werden nun vor allem unabhängige und linke Delegierte das Sagen haben.
Mit der neuen Verfassung – die alte stammt noch aus der Zeit nach dem brutalen Putsch gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende und der darauf folgenden jahrzehntelangen Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973–1990) – will die Opposition auch das neoliberale Wirtschaftssystem beseitigen. Zwar verfügt das Land über eine der stärksten Volkswirtschaften der Region, aber der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Kritiker der Konservativen wollen in die neue Verfassung nun das Grundrecht auf Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung und Trinkwasser aufnehmen und die Anerkennung der indigenen Völker festschreiben.
Erkämpft haben das Referendum über die neue Verfassung Aktivisten und Studenten, die Ende 2019 wochenlang gegen die Regierung auf die Straße gingen. Die Proteste waren von einer Erhöhung der Fahrscheinpreise für die U-Bahn ausgelöst worden, doch schnell ging es um das große Ganze: eine Abkehr vom extrem zurechtgestutzten Staat hin zu mehr öffentlicher Daseinsvorsorge.
Auch in Kolumbien musste sich die konservative Regierung zuletzt dem Druck der Straße beugen. Nach heftigen Protesten kassierte Präsident Duque erst eine umstrittene Steuerreform, einige Wochen später dann eine geplante Gesundheitsreform. Letztere hätte eine weitere Privatisierung des Gesundheitssystems bedeutet und vor allem die Mittel- und Unterschicht belastet.
Obwohl die Demonstranten einige ihrer Forderungen durchgesetzt haben, dauern die zum Teil gewalttätigen Proteste weiter an. Mindestens 42 Menschen kamen nach Angaben der nationalen Ombudsstelle während der Proteste ums Leben. Die Polizei geht teilweise mit großer Härte gegen die Demonstranten vor, viele Opfer gehen offenbar auf das Konto der Spezialeinheit ESMAD.
Nun demonstrieren Gewerkschafter, Indigene und Studenten für grundlegende Reformen in dem südamerikanischen Land. Viele Kolumbianer sind enttäuscht, dass trotz des Abkommens mit der linken Guerillaorganisation FARC vor fast fünf Jahren die Friedensdividende weiter auf sich warten lässt. In vielen Teilen des Landes terrorisieren noch immer bewaffnete Gruppen die Bevölkerung, auf dem Land und in den Slums am Rande der Großstädte herrscht bittere Armut, unter den Eliten blüht die Korruption.
In Brasilien stemmt sich unterdessen der ultrarechte Präsident Bolsonaro mit aller Kraft gegen die raue Brise, die seinen Amtskollegen gerade entgegenschlägt. Inmitten der COVID-19-Pandemie kommt seine Regierung nach der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha nur noch auf eine Zustimmung von 24 Prozent. Das ist der schlechteste Wert seit Beginn von Bolsonaros Amtszeit am 1. Januar 2019.
Also reist der Hauptmann der Reserve unermüdlich durch das riesige Land, weiht Brücken ein, besucht Motorrad-Rallyes und trifft sich mit Politikern und Unternehmern. In der Hauptstadt Brasília wird es unterdessen ungemütlich für den Staatschef: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss prüft derzeit die Leistungsbilanz von Bolsonaro in der Pandemie. Das Zeugnis könnte fatal ausfallen: Bolsonaro hat das Virus immer wieder verharmlost, sich gegen weitreichende Beschränkungen gewehrt und bei der Beschaffung von Impfstoff geschlampt. Nun ist Brasilien mit mehr als 440 .000 COVID-19-Toten eines der am stärksten betroffenen Länder der Welt. Nachdem Bolsonaro in der Pandemie zuerst die Armen für sich entdeckt hatte, kürzte er die Sozialhilfe wieder. Jetzt sind Armut und Hunger mit voller Wucht zurück.
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(rt/dpa)
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