Lateinamerika

Lateinamerika entwickelt sich zum Zentrum der Corona-Pandemie – Brennpunkte sind Brasilien und Chile

Die Corona-Pandemie begann in Lateinamerika im Vergleich zu den USA, Europa und Asien etwas zeitverzögert. Bis Mitte April hielten sich die Fallziffern in den meisten Ländern des Kontinents in einem relativ niedrigen Bereich. Doch seit Anfang Mai steigen die Zahlen dramatisch.
Lateinamerika entwickelt sich zum Zentrum der Corona-Pandemie – Brennpunkte sind Brasilien und ChileQuelle: Reuters © BRUNO KELLY

von Maria Müller

Im Mai und Juni spitzte sich die Lage in Lateinamerika zu, ohne dass ein Abschwächen sichtbar wäre. Lateinamerika wird inzwischen zum Epizentrum der Pandemie erklärt. Es gibt über vier Millionen Corona-Infizierte, davon rund ein Drittel in Brasilien. Die Pandemie hat unübersehbar offengelegt, dass das System der extremen sozialen Ungleichheit, für die Lateinamerika exemplarisch steht, wie ein Bumerang nun auch die privilegierten Schichten bedroht.

Die Corona-Pandemie in den Elendsvierteln

Was zahlreiche Experten vorausgesagt hatten, trat auch ein: Die Corona-Pandemie gelangte von den wohlhabenden Wohngegenden der Großstädte in die "Villas Miserias", die ausgedehnten Slums in den Randzonen. Dort leben Millionen Menschen auf engstem Raum zusammen. Selbst wenn sie zu Hause blieben, um die Quarantänebestimmungen einzuhalten, wäre dies kaum ein Schutz. Die hygienischen Bedingungen sind oft prekär oder auch gar nicht vorhanden. Manchmal herrscht sogar Wassermangel. Schutzmasken gelangen kaum in diese Gebiete, die wenigen Gesundheitsposten und Krankenhäuser in Reichweite sind schlechter ausgerüstet, es gibt weit weniger Ärzte, das Personal ist der Ansteckungsgefahr verstärkt ausgesetzt.

Die Bewohner der Armenviertel müssen ihr tägliches Überleben mit Gelegenheitsjobs in den Straßen der Innenstädte organisieren, was ihre Ansteckungsgefahr erhöht, aber auch die Viren transportiert.

Ausreichende soziale Hilfsgelder für diesen Teil der Bürger, der in manchen Staaten ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, wurden häufig zu spät beschlossen und sind vielerorts unzureichend, mehr als politisches Feigenblatt denn als reale Maßnahme gegen die Pandemie begriffen. Je nach politischer Couleur der Regierung gibt es jedoch auch Zusatzleistungen zu einer bereits vorhandenen Sozialhilfe.

Wie bekämpft man Corona in Armutszonen?

Unter diesen Bedingungen greifen bisherige Strategien zur Kontrolle der Krankheit weit weniger. Virusinfizierte und deren Kontakte möglichst zu isolieren ist weit schwieriger. Manche Bewohner forderten deshalb, die Fälle aus den Vierteln in sichere Quarantäneorte zu verlegen, um weitere örtliche Ansteckungen zu vermeiden. Oder sie zumindest mit Lebensmitteln und Medikamenten an der Haustür zu versorgen. Man erhielt wenige oder späte Antworten. 

Verstärkte Test-Maßnahmen in den Slums, um Angesteckte auszumachen und zu betreuen, werden in einigen Ländern durchgeführt, wie z. B. in Argentinien oder in Venezuela, doch andernorts wie in Brasilien bleiben sie weitgehend aus. 

Allerorts Proteste des medizinischen Personals

In nahezu allen Staaten des Kontinents kam es im April und Mai zu Arbeitsverweigerungen, Streiks und Protesten wegen mangelnder technischer Mittel, Schutzmaßnahmen und Lohnforderungen. Die Pandemie legte jahrelange Missstände in den Gesundheitssystemen offen, die schon seit langem zu Unruhen geführt hatten. Derartige Probleme werden stets nur im Fall Venezuelas international kritisiert. Unverständlich ist, dass die Verantwortlichen in dieser Situation Lohnabzüge durchführen, anstatt das Personal mit Extrazahlungen für den Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit zu belohnen. 

Insgesamt stößt die medizinische Betreuung an ihre Grenzen. Sie sei noch nicht zusammengebrochen, wird behauptet. Doch das ist eine vor Ort jeweils unterschiedliche Realität.

Regierungen manipulieren die Statistik

Angesichts der bedrohlichen Situation begannen Regierungen mehrerer Staaten damit, die Statistiken zu manipulieren. Dies führte zu heftigen internen Auseinandersetzungen oder gar zum Rücktritt von Gesundheitsministern – wie in Chile, Brasilien und Ecuador.

Volksküchen retten Hunderttausende

In Ländern mit einer starken Tradition der solidarischen Nachbarschaftshilfe, vor allem beim Organisieren von Volksküchen, konnte die Versorgung der sozial Schwächeren bislang aufgefangen werden. Kommunale Zuschüsse (Argentinien), Gewerkschaftskassen oder Spenden reicher Fußballstars sowie Naturalien von Landwirtschaftskooperativen ermöglichten es, Tausende von Lebensmittelrationen zu verteilen. In Uruguay, Argentinien und Paraguay wurde insgesamt fast eine Million Menschen auf diese Weise versorgt. Auch in Peru und Chile breiten sich die Volksküchen aus.

Die Regierungen entkamen auf diese Weise der Verantwortung für eine Hungerkatastrophe ihrer Bürger, um deren Ernährung unter der Quarantäne sie sich überwiegend nicht – oder viel zu spät – kümmerten. Niemand wirft ihnen heute eine "humanitäre Krise" vor – das gilt nur für Venezuela.

Brasilien: Präsident manipuliert Pandemie-Zahlen

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro verharmloste den Charakter und das Ausmaß der Virusseuche und polemisierte gegen die Quarantäne in mehreren brasilianischen Bundesstaaten.

Heute steht das riesige Land mit seiner unkontrollierten Ausbreitung der Pandemie in Lateinamerika an erster Stelle. Weltweit kommt es direkt hinter den Vereinigten Staaten. Die Zahl der offiziell registrierten Infektionsfälle beträgt 955.377, die der Todesopfer 46.510, bei einem 210-Millionen-Einwohner-Land.

Bolsonaro kritisiert die statistische Methode der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Er will nur noch die täglichen Daten von Neuinfektionen und Verstorbenen veröffentlichen. Das Oberste Gericht Brasiliens verfügte, dass auch die laufenden Gesamtzahlen transparent sein müssen.

Der dritte Gesundheitsminister Bolsonaros, Eduardo Pazuello, ein General der Streitkräfte, stellt sich gegen das Urteil. Seitdem publizieren die größten Presseorgane nun eine eigene Statistik aufgrund der Daten der regionalen Gesundheitssekretariate.  

Nach seinem Besuch bei Donald Trump befahl Bolsonaro der brasilianischen Armee, Millionen von Chloroquin-Tabletten in ihren Laboren herzustellen, um das Malariamedikament gegen die Corona-Pandemie einzusetzen. Das Mittel kann jedoch zu ernsten Nebenwirkungen führen, weswegen sich sein zweiter Gesundheitsminister weigerte, es als Allheilmittel gegen die Pandemie zu empfehlen. Auch er musste zurücktreten.

Vor allem in den brasilianischen Slums, den "Favelas", fordert das Virus weit mehr Opfer unter jüngeren Menschen als andernorts. Dort starben rund 31 Prozent der Infizierten bereits im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Neben den typischen Problemen der prekären Wohnbereiche, der kaum vorhandenen ärztlichen Versorgung und der informellen Arbeitssuche spielt auch der schlechte Gesundheitszustand der jüngeren Generationen in den Slums mit eine Rolle.

Julio Croda, der frühere Direktor der Abteilung für ansteckende Krankheiten im brasilianischen Gesundheitsministerium, sagte:

Schon junge Menschen leiden an Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes und sind deshalb verwundbarer.

Das ist nicht zuletzt eine Folge der Ernährung mit überzuckerten Billig-Nahrungsmitteln, die in ganz Lateinamerika um sich greift.  

Die Gouverneure und Bürgermeister von São Paulo, Rio de Janeiro und Porto Alegre versuchen seit Anfang Juni einen schrittweisen Ausstieg aus der Quarantäne. Doch Porto Alegre musste bereits die Notbremse ziehen, weil sich die Krankenhäuser schnell wieder füllten.

Es kann zu einem zweiten Höhepunkt der Seuche kommen. Wenn sich das in São Paulo abzeichnet, müssen wir einen Schritt zurückgehen”, so Carlos Carvalho vom dortigen Corona-Koordinierungszentrum.

In Brasilien ist noch kein Ende der Pandemie abzusehen.

Chile: Frühe Lockerung und späte soziale Hilfe 

Chile gehört heute mit einer dramatischen Entwicklung der Corona-Pandemie zu den am stärksten betroffenen Staaten. Das Land wies anfänglich die niedrigsten Infektionen des Kontinents auf. Doch im Mai stiegen die Daten in Folge einer verfrühten Öffnung der Quarantäne sprunghaft an. Die Ansteckungen betragen jetzt offiziell 220.628 Fälle, die Todesopfer sind umstritten und könnten über 5.000 erreichen.

Die Hauptstadt Santiago ist mit sieben der 18 Millionen Einwohner des Landes das Hauptzentrum der Pandemie. Die hohen Infektionswerte stammen heute vor allem aus den Randgebieten der Metropole. Denn auch in Chile, wie in den meisten Nachbarländern, breitete sich die Pandemie von den sozial besser gestellten Wohnbereichen auf die "Villas Miserias" der Millionenstadt aus.

Chiles Regierung unter Präsident Sebastián Piñera praktizierte die Strategie der "dynamischen Quarantäne", wonach nur für einzelne gefährdete Städte oder Stadtteile Einschränkungen verordnet wurden. Der Rest des Landes samt seiner Wirtschaftstätigkeit blieb der normalen Routine überlassen. Doch vor allem in der Hauptstadt vervielfachte sich die Pandemie in einem unerwarteten Ausmaß und umfasst heute 80 Prozent der Erkrankungen.

Die Hälfte der Chilenen lebt inzwischen in absoluter Quarantäne. Die Aussichten sind schlecht, man rechnet mit einer weiteren Zuspitzung. Die Krankenhäuser vor allem in Santiago arbeiten am Rande ihrer Kapazitäten, trotz der Investitionen in Betten und Atmungsgeräte.

Mitte April kündigte Präsident Piñera den allmählichen Ausstieg aus den Quarantänemaßnahmen an, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Die Menschen vernachlässigten daraufhin die Vorsichtsmaßnahmen. Anfang Mai verdoppelten sich die Ansteckungsdaten.

Seitdem verhängt die Regierung eine vollständige Quarantäne über die Millionenstadt, im Juni kamen Valparaíso und Viña del Mar hinzu sowie drei weitere Kommunen. Bis jetzt soll das Ganze bis Ende September andauern.

Es besteht die Gefahr, dass der Erreger in die dicht besiedelten sozialen Randgebiete gelangt", warnten Experten der chilenischen Ärztekammer vor dieser Öffnung.

Genau das geschah dann auch.

Regierungsvertreter kritisierten, die Schutz- und Sicherheitsregeln seien nur von rund 30 Prozent der Chilenen befolgt worden. Hintergrund ist die bekannte Notwendigkeit der Menschen des informellen Sektors, ihre Wohnungen zu verlassen, um sich zu ernähren.

Angesichts der Katastrophe unterschrieb Piñera in später Einsicht Anfang Juni das Gesetz für ein Noteinkommen, das 5,6 Millionen Menschen dazu verhelfen soll, zu Hause zu bleiben.

Am 13. Juni trat der Gesundheitsminister Jaime Mañalich inmitten heftiger Diskussionen über seine statistischen Methoden zurück. Sie wurden mehrfach verändert, und damit auch deren Ergebnisse. Man zählte die Toten zu den Genesenen, da sie "niemanden mehr anstecken können", die Infizierten wurden nur registriert, wenn sie Symptome aufwiesen, die Verstorbenen galten nur als Corona-Opfer, wenn sie anstatt zu Hause in einem Krankenhaus starben und positiv getestet waren.

Kurz davor hatte das chilenische "Zentrum für journalistische Forschungen" aufgedeckt, dass das Ministerium mit doppelten Zahlen arbeitet. Die einen für die Chilenen, die anderen für die Weltgesundheitsorganisation. Während man im Lande von 2.870 Toten sprach, informierte man New York von mehr als 5.000 Corona-Opfern. 

Der Gesundheitsminister musste seinen Posten räumen. Nachfolger ist Enrique Paris, zuvor Präsident der Ärztekammer, die die Regierung stark kritisiert hatte. Er fand schnell 31.420 Fälle von Corona-Infizierten heraus, die bislang nicht mitgezählt wurden.

Während die Quarantäne für mindestens drei Monate verlängert wird, bleibt auch die landesweite nächtliche Ausgangssperre von zehn Uhr abends bis fünf Uhr morgens aufrechterhalten, ebenso wie der nationale Ausnahmezustand und die dazugehörigen Notstandsgesetze.

Damit kann die Regierung die Bewegungs- und Transportfreiheit einschränken, Besitz beschlagnahmen, das Recht auf Eigentum begrenzen und überhaupt alle Verwaltungsmaßnahmen einführen, die nötig sein könnten, damit die "Normalität bald wieder hergestellt werden kann". Verstöße können mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden.

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