Afrika

Unruhen in Tunesien zehn Jahre nach der Revolution: Jugendliche haben nichts zu verlieren

Zehn Jahre nach dem Sturz Zine el-Abidine Ben Alis erlebt Tunesien erneut heftige Proteste gegen Perspektivlosigkeit, Korruption und Polizeigewalt. Nach eigenen Aussagen haben einige der jungen Teilnehmer nächtlicher Zusammenstöße nichts mehr zu verlieren.
Unruhen in Tunesien zehn Jahre nach der Revolution: Jugendliche haben nichts zu verlierenQuelle: www.globallookpress.com © Wassim Jdidi / Imago Images/ Global Look Press

Am 14. Januar waren es genau zehn Jahre, seit die Menschen im Ursprungsland des Arabischen Frühlings, Tunesien, Präsident Zine el-Abidine Ben Ali nach 23-jähriger brutaler Herrschaft aus dem Land gejagt hatten.

Tunesien galt als Beispiel eines vergleichsweise friedlichen Machtwechsels, der nicht in einem Bürgerkrieg endete, der durch Einmischung fremder Staaten zum Dauerkrieg und Zusammenbrechen des Staates führte wie in anderen Ländern der Region. Die Bürger gewannen an Freiheiten, die in mehreren anderen arabischen Staaten noch lange nicht zum Alltag gehören, darunter Wahlen und Meinungsfreiheit.

Doch erneut kocht die Wut im Land angesichts der wirtschaftlichen Stagnation, der Auswirkungen der globalen Pandemie und einer zunehmenden Kluft zwischen den Menschen und ihrer Regierung über. Blogger, Bürgerjournalisten und Graffiti prangern die behördliche Misswirtschaft und die Polizei an. Der Ärger über zu viel Korruption und zu wenig Einkommensmöglichkeiten in der vielerorts vom Tourismussektor geprägten, ohnehin angeschlagenen und durch die COVID-19-Pandemie zusätzlich erschütterten Wirtschaft kulminiert in Zusammenstößen mit Sicherheitskräften. Die Jugendarbeitslosenquote liegt in einigen Regionen bei rund 30 Prozent. Durch die Corona-Krise gingen bis Juni mehr als 43.0000 Jobs temporär verloren – und das bei einer Einwohnerzahl von nur zwölf Millionen Menschen. 

In den schlimmsten politischen Unruhen seit Jahren marschieren seit Mitte Januar Tausende von Demonstranten durch Städte im ganzen Land und fordern Arbeitsplätze, ein Leben in Würde und ein Ende der Polizeigewalt. Nachts kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Sicherheitskräften, bis Montag gab es nach offiziellen Angaben mehr als 600 Verhaftungen, an den beiden Folgetagen noch mal 70. Laut Polizei waren die meisten von ihnen zwischen 15 und 20 Jahre alt.

Reuters zitiert einen jungen Mann, der die Perspektivlosigkeit im Land und die Antwort der Regierung in Form von Polizeigewalt beklagt. Sein einziger Wunsch sei es, Tunesien zu verlassen, um sein Glück in Europa zu suchen. Im vergangenen Jahr stiegen nach Behördenangaben die Versuche irregulärer Migration massiv an.

Omar, ein 17-Jähriger mit einer abgeschlossenen Ausbildung, arbeitete eine Zeit lang in seinem Beruf, hörte aber auf, weil er nicht bezahlt wurde. Sein Vater ist behindert, und er erklärte Reuters, dass die Familie aus Geldmangel das Frühstück ausfallen ließ. Auch Omar ging schon mehrmals zum Hafen, um ein Schiff nach Europa abzupassen, aber er wurde erwischt, geschlagen und festgenommen. Professionelle Schmuggler, die ihn ins Ausland bringen, an die sich eine wachsende Zahl von Tunesiern wende, könne er sich nicht leisten.

Seit der Revolution im Jahr 2011 haben jährlich wechselnde Regierungen mit hohen Defiziten und Forderungen nach besseren Jobs und staatlichen Dienstleistungen zu kämpfen. Allein in den letzten zwölf Monaten gab es drei Regierungen in Tunis, die derzeitige ist eine der schwächsten seit der Revolution. Sie wird von einer zerbrechlichen Koalition rivalisierender Parteien unterstützt, nachdem die Wahlen von 2019 ein tief zersplittertes Parlament hervorbrachten.

"Wenn wir nicht auf die Stimme dieser wütenden Jugendlichen hören, werden sie das ganze Parlament, die Regierung, den Präsidenten, das ganze System hinwegfegen", sagte Safi Said, ein unabhängiger Abgeordneter, am Dienstag vor dem Parlament.
Der Regierungschef und frühere Innenminister Hichem Mechichi sagte am Dienstag im Fernsehen, er verstehe die wirtschaftliche Frustration, die hinter den Unruhen stecke. Doch warnte er, der Staat werde mit aller "Macht des Gesetzes" gegen Chaos vorgehen. In mehreren Städten wurde die Armee gegen die größtenteils jugendlichen Demonstranten eingesetzt. Das tunesische Innenministerium warf den Gruppen "kriminelle Handlungen und Plünderungen" vor.

Al Jazeera zitiert Bürgerrechtsgruppen, denen zufolge mindestens 1.000 Menschen verhaftet wurden, darunter viele, die gar nicht auf die Straßen gegangen waren. Am Mittwoch protestierten tunesische Müttern, deren Kinder als Reaktion auf die Unruhen willkürlich verhaftet wurden, obwohl sie nicht beteiligt waren. Eine Mutter erklärte dem Sender, sie arbeite hart, um ihren 18-jährigen Sohn zu außerschulischen Aktivitäten anzumelden, damit er nicht wie viele andere Arbeitslose in der Nachbarschaft herumlungere, wo es Drogen und Alkohol gebe. An Protesten habe er nicht teilgenommen, sonst müsse er nun die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Dennoch nahm die Polizei ihn ohne Vorwarnung fest. Bürgerrechtsgruppen warnen, dass dieses Vorgehen noch mehr Ärger schüren wird.

Ayman, der angab, 16 Jahre alt zu sein, erklärte Reuters, er habe an den Zusammenstößen teilgenommen, weil er der Polizei schaden wollte. "Die Polizei beleidigt uns", sagte er und fügte hinzu, dass er dreimal wegen Diebstahls und Drogenbesitzes verhaftet worden sei. "Wir beleidigen sie, indem wir Steine werfen."

Derweil erfand sich Abir Moussi, eine ehemalige Funktionärin in Ben Alis Partei, als eine der populärsten Politikerinnen des Landes neu, indem sie den Niedergang staatlicher Dienstleistungen ins anprangert und in populistischer Manier gelobt, das Land zurück zu alter Größe zu führen. Das Interesse an Politik ging stark zurück, und die Teilnahme an Wahlen sank von einem Hoch von 68 Prozent bei den Parlamentswahlen 2014 auf 42 Prozent im Jahr 2019.

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