Der 9. Mai im heutigen Kiew - Tag der Verwirrung
Von Igor Semenko aus Kiew
Doch schon im zweiten Jahr in Folge scheint es kurz vor diesem Datum so zu sein, dass die Heldenstadt Kiew auch beim Licht ihrer Ewigen Flamme im plötzlich aufkommenden Nebel nicht erkennen kann, was genau sie feiern oder nicht feiern soll. Mancher Kiewer wird von den Neuerungen im historischen Gedächtnis in Verwirrung gebracht.
Im vorigen Jahr ist der Tag des Sieges in Kiew zum ersten Mal im Vergleich zur gewöhnlichen Praxis trübe geworden. Die Kiewer Behörden, ebenso wie die meisten Lokalbehörden in der Ukraine, haben die feierlichen Maßnahmen abgesagt. Sogar eine Militärparade wurde in der ukrainischen Hauptstadt aufgehoben. Der offizielle Grund: Die große Wahrscheinlichkeit von Provokationen und Terrorakten.
Aber diesmal hat die Ideologie ein gewichtiges Wort mitgesprochen. Seit die Kiewer Regierung einen Kreuzzug gegen die sowjetische Geschichte der Ukraine verkündete, sollte der 9. Mai, als wahrscheinlich das wichtigste Symbol der sowjetischen Epoche, ihr Hauptziel werden. Und wenn der Tag des Sieges in einem Land, das so viele Leben für ihn gegeben hat, nicht auszustreichen ist, kann man ihn mindestens in zwei Teile teilen, verschieben und umbenennen.
Am 24. März 2015 wurde nach dem Erlass des Präsidenten der Ukraine Petro Poroschenko der 8. Mai zum "Tag des Gedenkens und der Versöhnung" erklärt. Die symbolische Mohnblume des englischsprachigen Raums zur Erinnerung an den Krieg, ist ein Symbol des für die Ukraine neuen Gedenktages geworden. Eine stilisierte und von der Parole "1939-1945. Wir denken daran. Wir werden siegen" begleitete Mohnblume wurde als Ersatz für das Sankt-Georgs-Band konzipiert, das in den letzten Jahren ein unveränderliches Symbol des 9. Mai auch in der Ukraine war, aber sich heutzutage nur noch mit den sogenannten prorussischen Kräften assoziiert.
Das Sankt-Georgs-Band ist aber nicht das einzige Attribut, das ersetzt werden muss. Der ganze Hintergrund, das Fundament soll neu entstehen, auch die Helden und Feinde. Daran arbeiten alle staatlichen Institutionen mit großem Fleiß. Diese wollen den Ukrainern neue Bräuche und Sitten aufpfropfen. Dazu gehören eine neue Mythologie, ein neues Pantheon.
Am 6. Mai hat das staatliche Institut für nationales Gedenken der Ukraine ein im Auftrag der Regierung geschriebenes Buch "Die Ukraine im Zweiten Weltkrieg" vorgelegt. Ein Vertreter dieser Organisation, die 2006 aus Initiative vom damaligen Präsident der Ukraine Wiktor Juschtschenko gegründet wurde, Maksim Majorow betonte unter anderem, dass obgleich viele Ukrainer in verschiedenen alliierten Armeen gekämpft hätten, gäbe es nur eine Armee, die ihren Krieg unter der ukrainischen Flagge führte. Es war die UPA (die Ukrainische Aufständische Armee).
Das besagte Institut hat zudem zahlreiche Druckerzeugnisse und Videomaterialien vorbereitet, in denen die Kämpfer der UPA, die für ihre Kollaboration mit Nazi-Deutschland und der Teilnahme am Holocaust und Terror gegen Zivilisten in der Westukraine und in Polen berüchtigt ist, auf eine Reihe mit den Soldaten der Alliierten gestellt werden.
Auch die "neue Ukraine" feiert den 9. Mai, doch im Rahmen neuer Gesetzgebungen anders. Das Datum wird wie folgt umschrieben: "Der Tag des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg". Ein Terminus "Großer Vaterländischer Krieg" wird von der Gesetzgebung ausgenommen. Außerdem ist die Sowjetsymbolik verboten.
Wie soll der gemeine Ukrainer nun durchblicken können, welche Form des Gedenkens nun gewählt werden soll?! Betriebsanweisung für die Feiertage "Morgen am 8. Mai gesellen wir uns zum ersten Mal in ukrainischer Geschichte zu europäischer Tradition des Ehrens von denen, die während des Zweiten Weltkrieges verstorben sind", twitterte Poroschenko am vergangenen Donnerstag.
Nicht alle Kiewer teilen jedoch die Freude dieser Neueinführung mit dem ukrainischen Präsidenten.
Ljubow Owtscharuk, eine 94-jährige Rentnerin, erzählt davon, wie sie bei der Enttrümmerung von Kiew geholfen hatte und dass ihr jüngster Bruder mit 15 Jahren der Armee als Freiwilliger beigetreten sei, obwohl er über sein tatsächliches Alter lügen musste. Sie wird traurig, wenn sie die Vergangenheit beschreibt, aber die Gegenwart mache sie noch trauriger.
"Man nennt den Tag des Sieges unter uns: 'Eine Feier, bei der die Tränen in den Augen stehen'", sagt sie. "Und jetzt sind diese Tränen vor Scham, weil ich mir nie vorstellen könnte, dass man in meiner Stadt versucht, diesen heiligen Tag, dank dem wir noch am Leben und nicht versklavt sind, zu demütigen".
Vor ein paar Tagen hat man Ljubow Sergeewna auf der Straße eine Broschüre gegeben, in der die Vorschriften bezüglich der kommenden Tage minutiös aufgelistet wurden.
"Da wurde geschrieben, dass obwohl wir auch am 9. Mai feiern dürfen, wäre es richtiger dieses einen Tag eher zu tun, weil der 9. Mai nur ein Nachhall der Sowjetunion ist", empört sich die Rentnerin. "Ich habe dieses Blättchen sofort weggeworfen!"
"Die gleiche Situation finden wir auch auf Facebook wieder", lacht ihre Enkelin Marina (27). Die Arbeit der modernen Ideologen belustigt sie. "Die zahlreichen Beiträge in sozialen Netzwerken erklären, dass eine Mohnblume statt des Sankt-Georgs-Bands angelegt werden müsse und die UPA, ebenso wie die sowjetischen Soldaten, auch die Helden seien. Meine Kollegin ist vor kurzem mit einer Mohnblume auf ihrem Anzug ins Büro gekommen. Sie war sehr stolz auf ihr neues Beiwerk und meldete sogleich den anderen. Das finde ich zu absurd, um das ernst zu nehmen".
Es sollte erwähnt werden, dass die Menschen mit einer Mohnblume auf ihrer Kleidung, welches auf ihre offenkundige Unterstützung der jetzigen ukrainischen Regierung und ihres Kurses deute, am 8. Mai, der trotz seines neuen Status in der Ukraine kein freier Tag ist, in der Stadt sehr selten vorkam.
Ein Potpourri aus Propaganda
Andere wichtige Themen bei den Feiertagsvorbereitungen waren die vermeintliche Versöhnung von Rote Armee-Veteranen mit UPA-Vertretern und der Vergleich der sowjetischen Soldaten des Zweiten Weltkrieges mit den modernen ukrainischen Militärs, die an angeblichen Anti-Terror-Operationen im Donbass teilnehmen. Die Personen aus den jüngst gedrehten PSA's (Public Service Announcements - staatliche Veröffentlichungen) tragen die Orden und Medaillen der sowjetischen Armee. Sie sind stolz auf ihre Kindeskinder, die im Donbass gegen eigene Landsmänner kämpfen, und flüstern eifrig "Heil der Ukraine". So eine Mischmasch vermehrt nur die Verwirrung der Leute, an denen diese Kampagne orientiert ist.
Die 28-jährige Olga, eine diplomierte Historikerin, ist skeptisch bezüglich den neuen Initiativen der Regierung:
"Wie die UPA in dieser Stadt als heroisch gelten kann, das verstehe ich nicht. Man kann sich lange über ihre echten Motive streiten. Ich weiß doch genau, dass Kiew vom Armeegeneral Nikolai Watutin befreit wurde, den die UPA später ermordet hat. Das sind die Tatsachen, ob das denen gefällt oder nicht. Neue Symbole? Das ist meines Erachtens nur eine Heuchelei. Die Symbole müssen uns begeistern. Jeder von uns muss sich fragen, ob er wirklich etwas fühlt, wenn er diese Mohnblume sieht? Das ist ein für uns fremdes Symbol. Es weckt gar keine Emotionen".Anderer Meinung ist Andrei (31), ein freiberuflicher Fotograf, der am Maidan-Aufstand teilgenommen hat:
"Es ist nicht verwunderlich, dass wir jetzt alles verändern. Mich wundert nur, dass wir es so spät tun. Die sowjetische Propaganda hat unsere Großeltern und Eltern schon genug belogen, aller Lügen über die UPA. Nach der Beendigung der deutschen Okkupation fing schließlich die sowjetische Okkupation der Ukraine an. Und das ist unsere Tragödie. Jetzt bauen wir einen neuen Staat und sind gezwungen, einen eignen Krieg mit russischen Faschisten im Donbass zu führen. Wir werden jedoch siegen. Ebenso wie unsere Großväter 1945 siegten. "Marina und Olga beabsichtigen, Blumen an der "Ewigen Flamme" am 9. Mai niederzulegen. Die beiden Damen sind sicher, dass sie dort auf jeden Fall nicht alleine sind, obgleich sie Provokationen nicht ausschließen. Ganz nebenbei: Die kriminelle Situation in Kiew ist jetzt wirklich gefährlich. Zwei Polizisten wurden vor kurzem bei einem Raubüberfall einiger Soldaten der Freiwilligen-Bataillonen auf einer Tankstelle erschossen.
"Es ist schon ein schlechtes Anzeichen, wenn wir schon das zweite Jahr in Folge kurz vor dem 9. Mai immer wieder Provokationen und Gewalt erleben müssen. Als ob jemand uns die Liebe und Achtung zu diesem Tag mit unserer Angst vergällen möchte", sagt Olga. "Ich bin doch überzeugt, dass die Mehrheit der Kiewer auch nach Jahren am 9. Mai in den Park des Ruhmes kommen wird, um den Tag des Sieges wie auch früher zu feiern. Das Künstliche ist immer kurzlebig."
Ljubow Sergeewna bleibt allerdings bleibt am 9. Mai zu Hause.
"Ich bin natürlich zu alt, um irgendwohin zu fahren", grämt sie sich. "Für mich ist es doch außer allem Zweifel, dass wir eine Feier haben, wegen der wir uns nicht schämen müssen. Möge Herr Poroschenko am 8. Mai auf dem Maidan feiern, was er will."
Dennoch Herr Poroschenko blieb gestern während des von ihm selbst gegründeten Gedenktages sowohl vom Maidan als auch der Ukraine fern. Der ukrainische Präsident bevorzugt es, den 70. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges lieber in Polen zu verbringen.
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