Luftfahrtindustrie: Titan aus Russland kann der Westen kaum ersetzen
Von Nadeschda Sarapina
Süchtig nach Titan
WSMPO-Awisma, der weltgrößte Titanproduzent mit einem vollständigen technologischen Zyklus, versorgt etwa ein Viertel des globalen Titanmarkts. Das Übergangsmetall wird im Schiffsbau, in der Chemieindustrie, im Rahmen der Energieversorgung, aber vor allem beim Flugzeugbau und in der Weltraumindustrie benötigt.
Dem leichten und zugleich festen Titan machen hohe Temperaturen und galvanische Korrosion nichts aus. Allerdings ist es nicht leicht zu beschaffen. Wie der Gründer des Flugsicherheitsdienstes RunAvia, Andrei Patrakow, anmerkt, liefere WSMPO-Awisma nicht nur Rohstoffe, sondern auch Vorerzeugnisse, komplette Bauteile oder sogar Systeme von Schlüsselelementen eines Luftfahrzeugs wie Chassis-Bauteile.
Früher hat Russland die Hälfte des Titans für die weltweite Luftfahrtindustrie geliefert. Zu den größten Kunden von WSMPO-Awisma gehörten der europäische Konzern Airbus und der US-amerikanische Hersteller Boeing. Selbstverständlich stellten sie die Zusammenarbeit ein, und vor einem Jahr belegte Washington das russische Unternehmen mit Sanktionen.
Dennoch wurde kein direktes Embargo auf Titan eingeführt, und ihre aggressive Politik hinderte die unfreundlichen Staaten nicht daran, Russland im ersten Halbjahr 264,9 Millionen US-Dollar zu zahlen, was 11,4 Prozent des weltweiten Umsatzes ausmacht.
"In den USA gibt es eine eigene Produktion, die halbwegs in der Lage ist, die innere Nachfrage zu befriedigen, doch in Europa gibt es praktisch nichts", erklärt der unabhängige Industrieexperte Leonid Chasanow.
Nach Angaben der UN-Plattform Comtrade, kaufte Deutschland bis Juli Titan im Wert von 193,6 Millionen US-Dollar ein (41,1 Prozent des Imports), Großbritannien für 22,7 Millionen (6,9 Prozent), Frankreich für 15,1 Millionen (8,2 Prozent), Spanien für 4,4 Millionen (7,7 Prozent), Belgien für 2,2 Millionen (5,7 Prozent) und die Slowakei für 992.000 US-Dollar (11,4 Prozent). Darüber hinaus gab es kleinere Lieferungen in die Schweiz, die USA, Estland, Italien, Rumänien, die Niederlande, Japan und Irland.
Ernsthafte Bedrohung
In der vergangenen Woche beauftragte Russlands Präsident Wladimir Putin die Regierung, Einschränkungen für den Export von Titan, Uran, Nickel und anderen wertvollen Rohstoffen zu entwerfen.
"Russland nimmt weltweit den Spitzenplatz im Hinblick auf die Reserven einer Reihe von strategischen Rohstoffen ein – es hält knapp 22 Prozent der weltweiten Erdgasvorräte, knapp 23 Prozent der Goldreserven und knapp 55 Prozent bei Diamanten. Michail Wladimirowitsch, ich habe eine Bitte an Sie: "Schauen Sie sich einige Warenarten an, die wir in großer Menge auf dem Weltmarkt liefern. Die Lieferungen von bestimmten Waren an uns werden eingeschränkt, doch vielleicht sollten wir auch über gewisse Einschränkungen nachdenken, für Uran, Titan, Nickel. Doch wir sollten nichts zum eigenen Nachteil tun", wandte sich Putin an den Ministerpräsidenten Michail Mischustin während einer Besprechung.
Dmitri Peskow, Pressesekretär des russischen Präsidenten, merkte an, dass dies mit der Praxis von illegalen Sanktionen und Versuchen zusammenhänge, den Handel mit Russland zu verbieten.
Es wird dem Westen sehr schwerfallen, etwa das besagte Titan zu ersetzen. Eine Zertifizierung von neuen Lieferanten nimmt Monate und sogar Jahre in Anspruch. "Gegenwärtig gibt es keine vollwertige Alternative für russisches Titan. So hat etwa das chinesische Probleme mit der Qualität – einen hohen Anteil von unerwünschten Zusätzen und es erfüllt bisweilen die strengen Anforderungen an die Einhaltung von Technologien nicht. Deswegen ist es riskant, dieses Titan bei den für das Inland bestimmten Erzeugnissen, insbesondere Flugzeugen, zu verwenden", sagt Chasanow.
So stieß das Unternehmen Spirit AeroSystems, der Lieferant von Flugzeugkörpern bei Boeing und Flügeln bei Airbus, auf große Probleme: Wegen der Korrosion des Metalls kam es zu Defekten. "Einige neue Flugzeuge von Boeing und Airbus haben Komponenten aus Titan, die unter gefälschten Dokumenten verkauft wurden", zitiert die New York Times die Stellungnahme des Unternehmens. Das nicht zertifizierte Titan wurde für die Produktion von Passagier- und Frachtöffnungen, Karosserien und Wärmeschutzschilde verwendet. Spirit AeroSystems führt gegenwärtig gemeinsam mit der Bundesluftfahrtbehörde der USA (FAA) eine Untersuchung durch. Vorläufig wird der Mitarbeiter eines chinesischen Unternehmens verdächtigt, der die Papiere gefälscht haben soll.
"Hier sind die Bedingungen sowohl bei der Arbeit als auch bei der Lagerung, als auch beim Transport wichtig. Ein Wechsel von Lieferanten ist ein langwieriger Prozess, der unweigerlich zu Qualitätseinbußen führt. Aus geschäftlicher Perspektive ist es eine absolut ungünstige Entscheidung, es ist reine Politik", fügt Patrakow hinzu. Sowohl Boeing als auch Airbus haben in Russland Jahre damit verbracht, eine Komponentenfertigung aufzubauen, Technologien gemeinsam zu nutzen, das Qualitätskontrollsystem zu verbessern und die russische Produktion in ihr globales System zu integrieren.
"Sicher gibt es auch andere Lieferanten, doch wir hatten ein hohes Rating bei erschwinglichen Preisen, deswegen wird ein Abbruch teuer werden", schlussfolgert der Experte.
Kaltes Kalkül
Natürlich kann man nicht von einem völligen Exportverbot strategischer Rohstoffe sprechen. Das ist für Russland nicht vorteilhaft.
"Diese Waren bringen nicht nur Einnahmen für den Staatshaushalt, sondern sorgen auch für Beschäftigung in den Betrieben", erklärt Iwan Potrawny, Doktor der Wirtschaftswissenschaften und Professor an der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität. Es sei auch nicht leicht, andere Abnehmer zu finden und Verträge mit ihnen zu schließen.
"Wenn Einschränkungen eingeführt werden, wird sich die Frage stellen, was mit den Rohstoffen zu tun ist. Sie lagern? Wer wird das hergestellte Metall bezahlen? Einerseits kann das Problem der Warenlagerung über den Föderalen Wohlstandsfonds gelöst werden, doch dieser Fonds wird selbst aus Exporteinnahmen finanziert. Und vor allem benötigt die Branche ständige Investitionen und geologische Erkundung", führt er aus.
Darüber hinaus ermögliche der Handel mit den vom Westen benötigten Materialien, sanktionierte, für das Land wichtige Waren wie Bohrtechnik, Technologien von Erzverarbeitung und -anreicherung zu erhalten, betont der Experte.
Patrakow meint indessen, dass sich eine Zusammenarbeit mit unfreundlichen Staaten nicht lohne – bei erstbester Gelegenheit würden sie die Einkäufe einstellen, und dann käme die Industrie zum Stillstand. "Es gibt nicht so viele große Flugzeugbauunternehmen auf der Welt. Sich auf China umzuorientieren, wird nicht gelingen – sie haben sowohl eine eigene auf den Binnenmarkt ausgerichtete Produktion, als auch eigenes Titan", merkt er an. Deswegen sei es sicherer, das Modell der Volksrepublik zu übernehmen und aktiv die eigene Luftfahrtindustrie zu entwickeln, schlussfolgert er.
Tatsächlich arbeitet Russlands Regierung aktiv daran. Bis zum Jahr 2030 ist es geplant, den Anteil russischer Flugzeuge von 33 auf 81 Prozent zu steigern. Für Subventionen von Binnenflügen wurden 770 Milliarden Rubel (umgerechnet 7,53 Milliarden Euro) zugewiesen. Die Flugzeugflotte soll über 1.000 Maschinen erhalten; etwa 5.000 Flugzeugtriebwerke sollen produziert werden. Die Branche hofft sehr auf eine Beschleunigung des Entwicklungstempos.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 18. September bei RIA Nowosti.
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