Energiepolitik: Die Zukunft der Türkei hängt von Russland ab
Von Sergei Sawtschuk
Einem türkischen Medieninsider zufolge werden sich Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan am 4. September in Sotschi treffen. Die Journalisten geben sich große Mühe, dass in diesem Zusammenhang die Wiederherstellung des Getreide-Deals in aller Munde ist. Um den allgemeinen Rahmen und den Vektor der Verhandlungen zu verstehen, kann es nicht schaden, zu diesem Thema die türkischen Medien zu lesen. Dort werden die Schwarzmeer-Initiative und andere Themen, die für das Land von entscheidender Bedeutung sind, wie zum Beispiel die Unabhängigkeit im Energiebereich, auf die gleiche Stufe gestellt.
Alparslan Bayraktar, der Minister für Energie und natürliche Ressourcen, hat dies erst neulich verkündet und gesondert darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine Staatsaufgabe von höchster Bedeutung handelt.
Die geäußerten Ambitionen sind keine leeren Worthülsen. Erstens ist Bayraktar kein gewöhnlicher Manager, sondern ein Mann mit einer Grundausbildung als Maschinenbauingenieur und einem Doktortitel in Wirtschaft und Energiepolitik. Zweitens übernahm er den Ministersessel am 4. Juni dieses Jahres, also unmittelbar nach dem schwierigen Wahlsieg des amtierenden Präsidenten, der nicht zuletzt durch die von Russland zum Nachteil der eigenen Interessen verlängerte Getreide-Initiative begünstigt wurde.
In einer Rede erwähnte Bayraktar, dass sein Land im Jahr 2022 siebzig Prozent aller benötigten Energieressourcen importierte. Konkret handelte es sich um 50 Millionen Tonnen Erdöl und dessen Raffinerieprodukte, für die der Staatshaushalt rund 40 Milliarden US-Dollar (36,62 Milliarden Euro) ausgeben musste. Außerdem kaufte Ankara 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas, was 38,4 Milliarden US-Dollar (35,15 Milliarden Euro) kostete. Der Gesamtbetrag, der allein für Öl und Gas ausgegeben wurde, ohne die Kohleimporte, deren Volumen ebenfalls gestiegen ist, beläuft sich auf fast 80 Milliarden US-Dollar (73,23 Milliarden Euro). Und dies alles vor dem Hintergrund des schrecklichen Erdbebens im Februar, bei dem mehr als 50.000 Menschen ums Leben kamen. Ferner schätzte die Weltbank den direkten Schaden an der Infrastruktur auf 34 Milliarden US-Dollar (31 Milliarden Euro), das sind vier Prozent des türkischen BIP in Zahlen von 2021.
Dieser Komplex von Gründen bringt die türkische Elite in Wallung und sie kauft Energieressourcen, wo immer sie kann.
So kommt Erdgas unter anderem über Fernleitungen aus Aserbaidschan, Turkmenistan und dem Iran in die Türkei. Das schwarze Gold kommt aus den irakischen Ölfeldern um Basra, Kirkuk und Baiji sowie über einen syrischen Zweig derselben Pipeline nahe der türkischen Stadt Midyat. In diesem angrenzenden Teil Syriens kämpfte die türkische Armee vor nicht allzu langer Zeit, um Kurden zu vertreiben, die den etablierten Transit bedrohten.
Neben den Pipelines machte sich Ankara daran vier Flüssigerdgasterminals in Aliağa, Etki-Liman, Marmara und nahe der Stadt Dörtyol zu bauen. Die Häfen von Samsun und Mersin nehmen Öltanker auf.
Die verzweifelte Lage der Türkei wird durch hartnäckige Gerüchte unterstrichen, wonach hinter den Kulissen bereits ein trilaterales Treffen zwischen Putin, Erdoğan und Basсhar al-Assad ausgearbeitet wird, obwohl der türkische Präsident seinen syrischen Amtskollegen vor nicht allzu langer Zeit überhaupt nicht anerkannt hat und beharrlich in seiner Politik versuchte, das offizielle Damaskus trotzig zu ignorieren.
Russland ist der größte Energielieferant der Türkei in Bezug auf Gas, Öl und Kohle. Vor nicht allzu langer Zeit hat Ankara in aller Stille die Qualitätsanforderungen für die in das Land eingeführte Kohle gesenkt, und wie es der Zufall so will, entsprechen sie heute genau den Eigenschaften der Steinkohle aus dem russischen Kusbass.
Was den leidenschaftlichen Wunsch der Türkei anbelangt, zu einer südlichen Drehscheibe für Gas zu werden, so hat Russland im Allgemeinen nichts dagegen, wie Wladimir Putin in seinen Reden wiederholt betont hat. Das Projekt der Verlegung der zweiten Blue-Stream-Pipeline ist seit Langem fertig, wird aber durch zwei unlösbare Schwierigkeiten behindert. Erstens gibt es keine unterirdischen Speicher, in denen der blaue Brennstoff gelagert und je nach Bedarf und Preisschwankungen verkauft werden könnte. Zweitens, und auch das hat unser Präsident schon oft gesagt, ist es nur sinnvoll, eine zweite Pipeline zu verlegen, wenn es eine stabile Nachfrage aus Europa gebe. Europa ist aber, wie wir wissen, im Moment nicht sehr scharf auf russisches Gas.
Moskau legt Erdoğan indirekt nahe, seine legendäre politische Flexibilität unter Beweis zu stellen und, wenn er das russische Gas und das Geld aus dessen Weiterverkauf benötigt, das Problem mit der Europäischen Union zu lösen, wo es zum Beispiel zufällig zu einer weiteren Migrationskrise kommen könnte.
Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass die Frage des Baus des Atomkraftwerks Akkuyu bei den Gesprächen zur Sprache kommen wird. Die ersehnte Energieunabhängigkeit hängt unmittelbar von der Verwirklichung dieses Projekts ab.
Das AKW Akkuyu ist so etwas wie ein Zwilling des Kernkraftwerk Belarus, da beide Anlagen russische WWER-1200-Reaktoren verwenden. Die Weißrussen haben errechnet, dass mit der Inbetriebnahme des neuen Atomkraftwerks ihr Bedarf an Erdgas um drei Milliarden Kubikmeter gesunken ist. Es wird erwartet, dass diese Zahl nach der vollständigen Inbetriebnahme des zweiten Reaktors auf fünf Milliarden Kubikmeter ansteigen wird. Ankara ist sich dieser Daten sehr wohl bewusst, weshalb es gleich vier Kraftwerksblöcke angefordert hat. Um viel billigen Strom zu bekommen und die Abhängigkeit von Gasimporten drastisch zu verringern.
Der Aufbau der Energieunabhängigkeit der Türkei ist, selbst in der Theorie, ohne Russland unmöglich. Deswegen ist Erdoğan zu Gesprächen nach Russland gereist und wird dies auch weiterhin tun. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Moskau bereit ist, ihm entgegenzukommen, und was es im Gegenzug verlangen wird.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 30. August 2023.
Sergei Sawtschuk ist ein russischer Kolumnist und Blogger.
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