Wirtschaft

Experte: "Wichtiges Know-how zum Wiederaufbau der Ölindustrie geht verloren"

Das wachsende globale Überangebot an Öl und Gas verursacht Chaos in allen Energiesektoren. Gründe sind die weltweite Abschottung gegen das Coronavirus, Missmanagement im US-Schiefergassektor und die Auswirkungen des Preiskampfes der OPEC+.
Experte: "Wichtiges Know-how zum Wiederaufbau der Ölindustrie geht verloren"Quelle: Reuters © Todd Korol

von Cyril Widdershoven

Die größte Aufmerksamkeit der Medien gilt den vorgelagerten Öl- und Gasunternehmen sowie Finanzinstitutionen. Da die US-Schieferunternehmen immer tiefer in Schulden versinken, wird erwartet, dass sich Konkurse in den nächsten Monaten häufen werden. US-amerikanische Schiefer-, Offshore-Öl- und Gasunternehmen sowie die meisten Produzenten außerhalb der OPEC werden Mühe haben, den Ballon, in den in den letzten Jahren soviel gepumpt wurde, vor dem Platzen zu bewahren.

In den nächsten Monaten wird aufgrund von OPEC+-Fördermengenkürzungen und Konkursen ein großer Teil der Überproduktion abgebaut und auf ein weitaus akzeptableres Niveau zurückgehen. Einige Analysten erwarten sogar, aufgrund des Irrglaubens, dass sich die Ölpreise zu diesem Zeitpunkt auf einem Niveau von 40 US-Dollar pro Barrel bewegen könnten, noch vor Ende 2020 ein Wachstum. Dieser Optimismus, der auf einfachen Excel-Gleichungen oder Mathematik basiert, wird sich höchstwahrscheinlich als falsch erweisen.

Solange die Auswirkungen der ausgedehnten COVID-19-Krise auf die Energie- und Weltwirtschaft nicht vollständig sichtbar sind und sich die Lagertanks noch immer füllen, werden die Ölpreise wahrscheinlich niedrig bleiben. Gleichzeitig wird, selbst wenn alles zu einer "Vor-Corona-Normalität" zurückkehrt, diese Normalität etwas ganz anderes sein, wenn man nichts aus der Geschichte gelernt hat.

Einen Nachfrageeinbruch, wie wir ihn derzeit erleben, gab es noch nie. Die Verringerung der Nachfrage in der Größenordnung von 20 bis 25 Millionen Barrel pro Tag ist ein Riesenschock für das gesamte Energiesystem. Marktbeobachter konzentrieren sich jedoch zu sehr auf die Exploration und Förderung (E&P). Die derzeitige finanzielle Situation der meisten nationalen und internationalen Erdölgesellschaften sowie der großen unabhängigen Produzenten ist bei weitem nicht so schlimm, wie die kleiner Ölförderer, die bereits jetzt ums Überleben kämpfen. Die Branche wird am Ende wieder die richtige Balance finden, da ein Großteil der Produktion kleinerer Produzenten stillgelegt wird oder für immer verschwindet.

Das Hauptziel vieler Produzenten ist es, am Ende der Krise in der Lage zu sein, bedeutende Mengen zu produzieren. Dies wird in den Medien teilweise missverstanden, da die meisten Betreiber nicht direkt für die Produktion von Kohlenwasserstoffen verantwortlich sind. Die Hauptakteure sind die Dienstleister auf den Ölfeldern vor Ort, jene Unternehmen mit dem technischen Know-how und den Instrumenten, um Öl zu fördern.

Diese Dienstleister bieten Technologien und Ausrüstung für Öl- und Erdgasförderer an. Sie sind für den Explorations- und Förderprozess von entscheidender Bedeutung, aber auch für die Herstellung und Reparatur der Ausrüstung verantwortlich. Insgesamt ist das Schicksal aller Ölservice-Unternehmen positiv mit den Rohölpreisen und auch mit den Investitionsentscheidungen der E&P-Betreiber verknüpft.

Diese Beziehung ist derzeit jedoch sehr negativ, da niedrige Ölpreise die Ölfeld-Dienstleister exponentiell stärker treffen. Es ist merkwürdig, zu beobachten, dass Analysten anderer Marktbereiche die Bedrohung für diese Sektoren besser verstehen als es Öl- und Gasanalysten tun. Die Bedrohung für das Überleben und die Sanierung des Automobilsektors weltweit liegt nicht im Cashflow und der Verschuldung von VW, Mercedes, Toyota oder GM, sondern in der Überlebensfähigkeit der Automobilzulieferer. Ohne Automobilzulieferer wird kein Fahrzeug die Fabrik in Stuttgart oder Detroit verlassen.

Für den Öl-, Gas- und Energiesektor ist die Situation nicht anders. Ohne Ölfeld-Dienstleistungen wird die Produktion innerhalb von Monaten zum Stillstand kommen und zurückgehen. Die Lage ist für die großen unabhängigen Ölfeld-Dienstleistungsunternehmen nicht nur im US-Schiefergasmarkt kritisch. Dort kürzen Giganten wie Schlumberger, Halliburton oder National Oilwell Varco ihre Investitionen und Arbeitskräfte. Aber auch in anderen Regionen, ob nun Teil der OPEC oder nicht, sieht es schlimm aus.

In einem Bericht von Oil & Gas UK (OGUK) wurde bereits festgestellt, dass die durch die historisch niedrigen Ölpreise ausgelöste finanzielle Überlastung Arbeitsplätze auf den Plattformen in der Nordsee bedrohen, ihren wirtschaftlichen Beitrag schmälern und die Energiesicherheit untergraben wird.

Nach Angaben der Anwaltskanzlei Hayes and Boone's, die auf Energie- und Umstrukturierungsrecht spezialisiert ist, haben im vergangenen Jahr bereits insgesamt 50 Energieunternehmen Konkurs angemeldet. Darunter 33 Öl- und Gasproduzenten, 15 Ölfeld-Dienstleistungsunternehmen und zwei Midstream-Unternehmen. Die Kanzlei warnt davor, dass mit dem Andauern der Krise im Jahr 2020 bereits verschuldete Ölfeld-Dienstleistungsunternehmen ihr Ende finden könnten. Allein in Nordamerika sollen die Gesamtschulden dieser Art von Unternehmen 32 Milliarden US-Dollar erreicht haben, die zwischen 2020 und 2024 fällig werden.

Die schlechte Finanzlage der Branche wird durch den beliebtesten Benchmark des Sektors, den VanEck Vectors Oil Services ETF (NYSEARCA:OIH), gut repräsentiert. Dieser verzeichnet einen Rückgang von mehr als 70 Prozent seit Jahresbeginn, deutlich stärker als der 30-prozentige Einbruch des S&P 500. Der Bericht des unabhängigen Energieforschungs- und Business-Intelligence-Unternehmens RystadEnergy vom letzten Monat, der besagt, dass 20 Prozent der weltweit im Ölfeld-Dienstleistungssektor Beschäftigten in diesem Jahr entlassen werden könnten, wurde bisher kaum als Warnung wahrgenommen. Die Entlassung von einer Million oder mehr Experten, Bohrern, Ingenieuren und Arbeitern bedeutet einen möglichen Produktivitätsverlust am Ende des Jahres, der einen möglichen Aufschwung von Nachfrage und Angebot einschränken wird.

Frühere Öl- und Gaskrisen in den 1980er oder 2010er-Jahren zeigten, dass die Zerstörung von Wissen aufgrund von Entlassungen eine Erholung des Sektors erheblich verlangsamen kann. Wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Öl- und Gasarbeiter über 45 Jahre alt ist, wird ein großer Teil derer, die arbeitslos werden, nie wieder zurückkehren. Darüber hinaus wird der mögliche Konkurs kleiner spezialisierter Ölfeld-Dienstleister auch spezifisches Wissen zerstören, das nicht leicht wiederzuerlangen ist, wenn die Nachfrage wieder zu steigen beginnt.

Frühere Ölpreiseinbrüche führten zu einem Strategiewechsel bei den internationalen Ölkonzernen. Sie bauten einen Teil ihrer Insider-Fähigkeiten in den Bereichen Technik und Betrieb ab und senkten die Kosten, was bedeutete, dass die Projektdurchführung unabhängigen Ölfeld-Dienstleistern überlassen wurde. Nationale und internationale Erdölgesellschaften tun jetzt wieder dasselbe und wälzen den größten Teil der gegenwärtigen Krise auf die Ölfeld-Dienstleistungsunternehmen ab, die keine andere Wahl haben werden, als ihre Belegschaft abzubauen. Die Margen der Dienstleister waren bereits in guten Zeiten unter Druck.

Die Zukunft von Öl und Gas ist in mehrfacher Hinsicht bedroht und der Mangel an Humankapital wird sehr unterschätzt. Dies bedroht die Rentabilität des Sektors in der Zukunft. Ohne Humankapital, das in den meisten Fällen von den Ölfeld-Dienstleistern bereitgestellt wird, wird weniger Öl und Gas gefördert, raffiniert, gelagert oder verarbeitet werden können.

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Dr. Cyril Widdershoven ist ein langjähriger Analyst des globalen Energiemarktes. Gegenwärtig hat er mehrere beratende Positionen bei internationalen Thinktanks im Nahen Osten und im Energiesektor in den Niederlanden, Großbritannien und den Vereinigten Staaten inne.

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