Russland: Schwache Beteiligung bei den "Wahlstreik"-Aktionen Nawalnys
von Ulrich Heyden, Moskau
Der Himmel über Moskau war trübe grau. Doch das tat der Stimmung unter den 1.000 Demonstranten keinen Abbruch, die sich am Sonntag auf dem Puschkin-Platz in Moskau zu einer nicht genehmigten Kundgebung für einen "Wahlstreik" versammelt hatten. Es gab zwar keinen Redner, dafür aber viele Sprechchöre wie "Die vierte Amtszeit verbringt Putin im Gefängnis", "Eins, zwei, drei – Putin tritt ab" oder "Russland ohne Putin".
Die Zentrale Wahlkommission hatte Alexej Nawalny nicht zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen. Als Grund wurde genannt, dass der Oppositionspolitiker vorbestraft ist. Dabei geht es um eine Bewährungsstrafe wegen eines Korruptionsfalls im Umfeld von Unternehmen der Kirowles-Gruppe.
Nachdem klar geworden war, dass Nawalny nicht an den Wahlen teilnehmen kann, rief der Oppositionspolitiker zum so genannten Wahlstreik auf. Im Rahmen dieser Aktion will er nun landesweit für einen Wahlboykott werben und am Wahltag die Abstimmung in den Wahllokalen überwachen. Nawalny behauptet schon jetzt, dass es dort zu Manipulationen kommen werde.
Die meisten Beobachter sind sich jedoch einig, dass Wladimir Putin keine Manipulationen nötig hat, um die Wahlen zu gewinnen. Die Popularitätsrate des Kreml-Chefs liegt nach einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts vom Oktober 2017 sehr hoch. Zwei Drittel der Befragten gaben an, sie würden Putin wählen. Nawalny wollte nur ein Prozent der Befragten ihre Stimme geben.
Die Polizei hielt sich zurück
Die Polizei hielt sich am Sonntag in Moskau auffallend zurück und griff gegen die Kundgebung nicht ein. Nur ein Lautsprecherwagen der Polizei gab unaufhörlich bekannt:
Sehr geehrte Bürger! Es gibt eine nachdrückliche Bitte. Verlassen Sie den Platz. Versperren Sie nicht anderen Bürgern den Weg. Wahren Sie Organisiertheit und Ordnung.
Doch niemand der etwa 1.000 Versammelten folgte der Aufforderung. Es war nicht das erste Mal, dass die Moskauer Polizei gegenüber nicht genehmigten Nawalny-Kundgebungen eine zurückhaltende Taktik anwendete. Offenbar will man den westlichen Fernsehstationen nicht die gewünschten Bilder über das "autoritäre Putin-Regime" frei Haus liefern.
Die Moskauer Stadtverwaltung hatte Alexej Nawalny - nicht zum ersten Mal - drei alternative Orte für eine Kundgebung angeboten, den Sokolniki-Park und die Bezirke Marino und Ljublino. Alle drei Orte liegen außerhalb des Stadtzentrums. Nawalny lehnte die angebotenen Alternativ-Plätze mit der Bemerkung ab, er wolle nicht "im Wald" demonstrieren.
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Präsidentensprecher: Alternative Kundgebungsplätze "demonstrativ abgelehnt"
Der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, erklärte am Montag bei einem Journalisten-Briefing, die Demonstrationen vom Sonntag fasse der Kreml nicht als politische Gefahr für Präsident Wladimir Putin auf. Dort, wo die Aktionen genehmigt wurden, hätten die Kundgebungen auf gesetzlicher Grundlage stattgefunden. Dort, wo die Aktionen nicht genehmigt wurden und man "demonstrativ alternative Vorschläge abgelehnt" hätte, seien die Kundgebungen ungesetzlich gewesen. Die Popularität von Wladimir Putin gehe "weit über Russland hinaus", erklärte der Präsidenten-Sprecher.
Es ist unwahrscheinlich, dass jemand in Zweifel zieht, dass Putin in der öffentlichen Meinung der absolute Leader, ein Leader des politischen Olymps ist, mit dem zurzeit kaum jemand konkurrieren kann.
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Opposition nennt höhere Teilnehmerzahlen
In 84 Städten Russlands fanden am Sonntag nach Angaben des Wirtschaftsportals RBK so genannte Wahlstreik-Kundgebungen statt. Kommersant veröffentlichte dazu auch eine Foto-Galerie. Bis auf jene in den Städten Moskau und Sankt Petersburg waren alle diese Kundgebungen erlaubt.
Nach Angaben der Polizei beteiligten sich an den landesweiten Aktionen für einen Wahlboykott insgesamt 4.700 Menschen, davon jeweils 1.000 in Moskau und Sankt Petersburg. Nach Angaben aus Oppositionskreisen lag die Teilnehmerzahl in Moskau bei 5.000 und in Sankt Petersburg bei 3.000 Menschen.
An einer weiteren Kundgebung in Jekaterinburg beteiligten sich nach Mitteilung des RBK-Wirtschaftsportals weniger als 1.000 Personen, obwohl sogar der Bürgermeister der Stadt, Jewgeni Roisman, an der Aktion teilnahm. In Nowosibirsk wurden 600 Teilnehmer gezählt und in Nischni-Nowgorod 550.
Das Internetportal RBK wies darauf hin, dass die Teilnehmerzahl bei der Kundgebung am Sonntag in Moskau deutlich unter der Teilnehmerzahl der Moskauer Nawalny-Kundgebungen im Vorjahr lag. Im März und Juni 2017 hatten sich noch 7.000 beziehungsweise 5.000 Menschen an Anti-Korruptions-Kundgebungen Nawalnys beteiligt.
Live-Übertragung der Nawalny-Proteste aus Vilnius koordiniert
Die Taktik der Moskauer Polizei sah am Sonntag so aus, dass man die nicht genehmigten Kundgebungen in Ruhe ließ, landesweit aber zahlreiche Mitarbeiter der regionalen Stäbe von Nawalny festnahm. Mehrere Nawalny-Büros wurden durchsucht und vereinzelt auch Bürotechnik beschlagnahmt.
Am Sonntagvormittag, die Protestaktion in Moskau hatte noch nicht begonnen, brachen Polizisten in einem Business-Center in Moskau zwei Türen zu einem Studio auf, in dem die Nachrichten-Sprecher des Internetkanals Nawalnys live über die Protestaktionen im ganzen Land berichteten.
Die Live-Übertragungen der Aktionen gingen jedoch weiter. Nach Angaben der Nesawissimaja Gaseta befand sich der Stab für die Live-Übertragung nicht in Moskau, sondern in der Hauptstadt von Litauen, Vilnius.
Die Polizei begründete ihr Vorgehen gegen das Nawalny-Studio in Moskau damit, dass es eine Bombenwarnung gab. Vier Mitarbeiter des Nawalny-Stabes wurden festgenommen.
Nawalny selbst wurde auf dem Weg zur Protestaktion in Moskau festgenommen, in einen Gefangenentransporter verfrachtet und auf die Moskauer Polizeiwache Jakimanko gebracht. Dort wurde er jedoch bereits am Abend – ohne die Anfertigung eines Polizei-Protokolls – wieder freigelassen. Für die Freilassung hatte sich auch die Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak eingesetzt, welche vor der Wache auftauchte und ihre Anhänger dazu aufrief, alle bei der Kundgebung verhafteten Personen zu unterstützen.
Задержание одного человека теряет малейший смысл, если нас много. Кто-нибудь, придите и замените меня pic.twitter.com/TODVdF5lEm
— Alexey Navalny (@navalny) 28. Januar 2018
In Moskau waren nach Angaben des oppositionellen OWD-Infos 16 Personen festgenommen worden. Landesweit lag die Zahl der Festnahmen nach Angaben von OWD-Info bei 350 Menschen.
Wie das Internetportal RBK mitteilt, lag die Zahl der Festgenommenen am Sonntag deutlich unter jener des Vorjahres. Am 26. März und 12. Juni 2017 waren allein in Moskau 900 beziehungsweise 800 Personen in Gewahrsam genommen worden.
Schriller Anti-Putin-Gesang und die Suche nach Provokateuren
Auf dem Puschkin-Platz waren am Sonntag hunderte von Handy- und Fernsehkameras im Einsatz. Stellenweise gab es lautstarke Diskussionen mit Gegnern von Nawalny, von denen einige auf der Kundgebung aufgetaucht waren.
Man sah viele Intellektuelle und Klein-Unternehmer, aber auch merkwürdige Personen. Ein junger Mann in schwarzem Anorak - nicht älter als 23 Jahre - imitierte einen Anti-Putin-Gesang der Maidan-Demonstranten in Kiew, "Lalalalalal lala". Die Stimme des jungen Mannes wurde immer lauter und schriller. Die Umstehenden grinsten verständnisvoll. "Wowa [Putin, U.H.], dass du Nawalny nicht zu den Wahlen zugelassen hast, ist eine Herausforderung. Putin ergebe Dich! Wowa, Wowotschka, wir werden dich mit den Zähnen beißen." Als einer der Älteren meinen entsetzten Blick sah, meinte er: "Das ist ein Provokateur. Den habe ich bei uns noch nie gesehen."
An der Moskauer Kundgebung nahm eine auffällig große Zahl von Jugendlichen teil. Ein Viertel der Teilnehmer - so die Einschätzung des Autors - waren Schüler im Alter von 14 bis 17 Jahren.
Der Elftklässler Wanja meinte im Gespräch:
Als ich geboren wurde, war Putin an der Macht. Jetzt ist er immer noch an der Macht. Und im Land hat sich nichts verändert. Putin – sagen wir es so – erfüllt seine Aufgaben nicht im besten Sinne. Es ist eine Tatsache, dass er stiehlt. Er stiehlt Geld aus dem Haushalt. Das Lebensniveau in Russland sinkt.
Angesichts der reichen Rohstoffvorkommen könne das Leben der Menschen in Russland besser sein. "Alles Geld landet in den Taschen der Beamten." Was er von den Linken halte, von der KPRF? "Die verstehen die Leute nicht. Die haben eine schlechte Reklame. Nawalny hat sehr einfache, verständliche Informationen."
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Ob es bewiesen sei, dass Putin sich persönlich aus dem russischen Haushalt bedient? Nawalny habe entsprechende Dokumente veröffentlicht, so der Schüler. Ob er einen konkreten Fall der Bereicherung nennen könne? "Ich erinnere mich gerade an keinen Fall." Was man in Russland vor allem ändern müsse? "Das Bildungssystem. Es ist zu formal."
In dem Getümmel auf dem Puschkin-Platz kam ich auch mit einem jungen Paar - beide 16 Jahre alt - ins Gespräch. Warum sie hier seien? "Weil Nawalny der Einzige ist, der die Wahrheit sagt über die Korruption im Land", sagte das junge Mädchen. Ob es nicht besser wäre, sich in einer der vielen sozialen oder ökologischen Initiativen im Land zu engagieren? Darauf das junge Mädchen: "Nawalny versteht es am besten, den Protest anzuführen."
Ein Vierzehnjähriger meint, Russland brauche Reformen. Putin sei zu diesen Reformen nicht bereit. Die Menschen seien arm. Beamte würden sich das Geld einstecken. Der Junge sagt, er studiere am privaten Hayek-Institut und handele mit Bitcoins.
Eine junge Frau sagt, sie verdiene ihr Geld mit Übersetzungen. Natürlich müsse man etwas für die Armen in Russland tun, meint sie, aber "für die Armen arbeiten" wolle sie nicht. Ein progressives Steuersystem einzuführen – wie es der KPRF-Kandidat dies fordert – hält sie aber auch für falsch. Das Unternehmertum in Russland müsse sich so frei entwickeln wie in Singapur.
Zwei Schüler aus einer Stadt südlich von Moskau waren extra mit der Vorortbahn angereist, um in Moskau dabei zu sein. Einer der beiden Jungen sagt, seine Mutter wisse nicht, dass er hier ist. Sie habe nichts gegen seine Teilnahme an der Demonstration, habe aber Angst, dass ihm etwas passiert. Nawalny sei doch neoliberal und habe nichts vor, um die Situation der Armen zu verbessern, sage ich. Die beiden widersprechen. Doch, Nawalny habe ein Programm vorgelegt. Welches Ideal sie haben, welcher Schriftsteller oder Philosoph ihnen gefällt? "Edward Snowden", meint der eine. Es war also richtig, dass er die geheimen Informationen veröffentlichte? "Ja, es war gut, dass er die Abhör-Aktionen aufgedeckt hat."
Nawalny und Saakaschwili - Kämpfer für einen neoliberalen Umsturz
Die Unzufriedenheit über das geringe Wirtschaftswachstum von einem Prozent, die sinkenden Löhne, der große Anteil an Menschen, die an der Armutsgrenze leben, all das hat Nawalny versucht, in seinem Wahlprogramm aufzugreifen. Der von der Zentralen Wahlkommission abgelehnte Kandidat verspricht, man könne die Wirtschaft mit Steuersenkungen und dem Abbau bürokratischer Barrieren für Unternehmer, ankurbeln. Die Steuersenkungen für Unternehmen würden "eine Barriere für Lohnerhöhungen nehmen", verspricht der Oppositionspolitiker.
Kleinunternehmen sollen von Steuerzahlungen komplett befreit werden und stattdessen nur für ein Patent bezahlen müssen. Monopole - gemeint sind offenbar große halbstaatliche Firmen wie Gazprom, Rosneft und die russische Eisenbahn - sollen zerschlagen werden. Die Rentenversicherung soll komplett umorganisiert werden. Die großen staatlichen Rohstoffkonzerne sollen größere Finanzmittel für die Rentenversicherung bereitstellen, wodurch sich die Renten wesentlich erhöhen ließen.
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Ein weiterer Anreiz für die Wirtschaft werde sein, wenn man "mit der zivilisierten Welt Frieden schließt", behauptet der Oppositionspolitiker in seinem Programm. "Wir stellen die Aggression gegen die Ukraine ein und erreichen auf diesem Wege die Aufhebung der Sanktionen." So könnten die russischen Unternehmer wieder "mit dem Ausland handeln und billige Kredite aufnehmen".
Nawalny schreibt in seinem Programm, die Staatsausgaben müssten vor allem in die Bereiche Gesundheit und Bildung fließen. Die Ausgaben für diese Bereich müssten verdoppelt werden. Das Geld hierfür könne man durch die Verkleinerung des Beamtenapparates und die Einstellung "nicht effektiver Großprojekte" bekommen. Darunter versteht Nawalny vermutlich große Sportveranstaltungen, die Brücke zur Krim und den neuen russischen Weltraumbahnhof Wostok, der den Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan ersetzen soll. Großprojekte sollten ausschließlich von Investoren und "nicht von den Steuerzahlern" finanziert werden.
Auffällig ist, dass sich die politischen Kernaussagen von Alexej Nawalny und dem jetzt in der Ukraine aktiven ehemaligen georgischen Präsidenten, Michail Saakaschwili, gleichen. Beide Politiker haben eine Universitäts-Ausbildung in den USA absolviert. Beide kämpfen am äußersten Rand der Gesellschaft für eine rechten, neoliberalen Umsturz. In Russland ist Nawalny noch keine Gefahr für die Macht, er könne es aber werden, so meinen einige Kommentatoren in Moskau, sollten sich unvorhergesehene Ereignisse im politischen oder wirtschaftlichen Bereich ereignen.
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