Russland

"Ich sehe mich nicht als Gefangenen": Wie ukrainische Soldaten auf Russlands Seite übergehen

Alexander Babenko hatte nie vor, an die Front zu gehen. Auf dem Weg zur Arbeit wurde er von ukrainischen Rekrutierern in einen Kleinbus hineingeschoben. Heute dient er bei einem russischen Bataillon aus ehemaligen ukrainischen Soldaten. RIA Nowosti berichtet über ihre Beweggründe.
"Ich sehe mich nicht als Gefangenen": Wie ukrainische Soldaten auf Russlands Seite übergehenQuelle: Sputnik © Dawid Narmanija

Von Dawid Narmanija

"Niemand fragte irgendetwas"

Der Charkower Alexander Babenko erinnert sich:

"Bis zur Arbeit blieben mir buchstäblich einhundert Meter. Da hält ein Kleinbus an, drei Typen steigen aus und sagen: 'Guten Tag.' Doch es war gar kein guter Tag. Ich hatte eine Freistellung vom Militärdienst, doch aus bürokratischen Gründen mussten die Listen neu eingereicht werden. Und gerade da haben mich die Rekrutierer erwischt. Es fehlten gerade mal ein paar Tage."

Babenko ist 49 Jahre alt. Bevor er zum ukrainischen Militär gelangte, hatte er auf einer der Fabriken des Kühlanlagenherstellers UBC Group gearbeitet und dort eine Laser-Schneidmaschine bedient.

Sein friedliches Leben fand am 4. Dezember 2024 ein Ende, als er mobilisiert wurde. Babenko erzählt:

"Die medizinische Untersuchung war kaum der Rede wert. Man stellte mir einen Mann mit Dokumenten zur Seite, er führte mich durch die Räume, gab die Papiere den Ärzten, sie unterzeichneten alles. Niemand fragte irgendetwas, sie machten nur eine Röntgenaufnahme. Insgesamt ähnelt diese ganze Mobilmachung einem Genozid."

Es folgten anderthalb Monate Grundausbildung bei Nowomoskowsk im Gebiet Dnjepropetrowsk. Weitere anderthalb Monate dauerte die Gefechtsausbildung bei der 23 Separaten mechanisierten Brigade der Streitkräfte der Ukraine.

Der Unterricht beinhaltete vor allem die Bedienung von Waffen und Verteidigung in Schützengräben. Babenko erinnert sich:

"Die Ausbildung war gründlich, doch eigentlich war das eine Vorbereitung auf einen vergangenen Krieg. Sie erklärten, wie man auf einem versteckten Posten sitzen soll, was man beobachten soll, wie man Feuer korrigieren soll. Aber über die Drohnen sagten sie nur: 'Versteckt euch.'"

Während der Ausbildung traf er auf ausländische Söldner – aus dem Baltikum, Italien und Kolumbien. Die Ukrainer unterhielten sich kaum mit ihnen, sie wechselten nur einige Worte auf dem Weg zum Übungsplatz.

"Alles wird gut"

Nach drei Monaten kam Babenko zu seiner Einheit. Er gesteht:

"In unserer Kompanie gab es nur etwa 20 Mann bei einer Sollstärke von 80. Der Personalmangel war schrecklich. Alles Mobilisierte. Freiwillige, die für die Idee kämpften, habe ich nicht getroffen."

Die Offiziere teilten mit den Untergebenen nur ein Minimum an Information. Babenko sagt:

"Sie haben uns bloß beruhigt: 'Macht euch keine Sorgen, alles wird gut. Wir sind nicht das erste Jahr hier.' Vielleicht geht es ja ihnen gut. Sie schicken ja andere Leute in den Tod und kämpfen nicht selbst."

"Niemand wird kommen"

An die Front kam Babenko in der Nähe von Otradnoje, nördlich von Welikaja Nowossjolka. Nach einer Woche wurde er zu einer anderen Stellung versetzt. Ein Monat lang gab es keine Rotation. Zusammen mit ihm hielten noch zwei andere Soldaten die Stellung. Beide waren nach russischen Drohnenangriffen verwundet. Babenko erzählt:

"Einer war leicht verwundet, der andere etwas schwerer. Er konnte sich kaum selbstständig bewegen. Man hat uns eine Evakuierung versprochen, doch jedes Mal fanden sich irgendwelche Ausreden. Allmählich fanden wir uns damit ab, dass niemand kommen wird."

Schließlich näherten sich russische Soldaten dem ukrainischen Unterstand:

"Sie warfen eine Granate hinein und feuerten eine Salve durch den Eingang. Wir sagten, wir ergeben uns."

"In die Luftabwehr über Beziehungen"

Die meisten ukrainischen Mobilisierten haben ähnliche Geschichten, etwa Babenkos Kamerad Pawel Bolbot. Er erinnert sich:

"Das geschah kurz vor dem neuen Jahr, am 30. Dezember 2024, nach einem bewährten Schema – zwei Autos, acht Mann, Polizei und Rekrutierer. Sie brachten mich hin, sperrten mich in einen Keller ein, nahmen mir das Handy weg. Ich konnte gerade noch meine Frau anrufen. Um fünf Uhr morgens war ich schon am Truppenübungsplatz."

Bolbots Frau kam, um herauszufinden, was geschehen ist. Sie wurde ebenfalls festgenommen und eingekerkert. Als ihr schlecht wurde, wurde ein Krankenwagen gerufen, die Frau wurde freigelassen.

Es hätte auch ganz anders kommen können: Bolbot stammt aus Golaja Pristan im Gebiet Cherson. Doch als russische Truppen dorthin im Februar 2022 einrückten, befand er sich mit seiner Familie in Kriwoi Rog.

Er wurde zwei Wochen lang in der Ukraine und eineinhalb Monate in Polen ausgebildet. Später kam er an die Front. Obwohl Bolbot bei der Luftabwehr an einem S-200-Komplex gedient hatte, wurde er in die Infanterie versetzt. Er erklärt:

"Es gab keine Chancen, im Hinterland gelassen zu werden. Jetzt wird jeder an die vordersten Linien geschickt. Sogar ein Schiffskapitän kam mit mir. In die Luftabwehr kommt man nur über Beziehungen."

"Schtschuka lebt!"

An die Nummer seiner Brigade erinnert sich Bolbot nicht. Der Soldat erzählt:

"Am 6. März sind wir angekommen, übernachteten, und schon am nächsten Tag ging es an die Stellung."

Nach zwei Tagen wurde der Keller, in dem er saß, durch Artillerie zerstört:

"Während wir herausfanden, wer lebt und wer verwundet ist, sind zwei Kämpfer geflohen. Zwei weitere wurden verwundet, ich habe sie ein wenig versorgt. Eine Baba-Jaga-Drohne warf für sie Krücken ab, sie humpelten zur Evakuierung. Wir blieben zu zweit. Einen Rückzug erlaubte man uns nicht, wir sollten die Stellung halten. Doch was soll man halten, wenn es nichts mehr gibt?"

Am Morgen wurden Bolbot und sein Kamerad gefangen genommen.

Bis zum nächsten Haus bei den russischen Stellungen wurden sie von einem verwundeten russischen Soldaten eskortiert. Von dort aus hätten sich alle drei ins Hinterland begeben sollen. Ukrainische Drohnen und Artilleriefeuer verhinderten dies. Das Haus wurde zerstört, und die Soldaten verloren einander aus dem Blickfeld.

Den nächsten Monat verbrachte Bolbot im Dorf allein. Er versteckte sich im Keller eines halb zerstörten Gebäudes. Später kehrte er zum selben Keller zurück, wo er zum ersten Mal gefangen genommen wurde:

"Ich stellte einen Schild auf: 'Schtschuka ("Hecht", Bolbots Funkname; Anm. d. Ü.) lebt.' Die Russen schickten zwei Kameraden nach mir. Und ich ergab mich ruhigen Gewissens zum zweiten Mal."

"Ich sehe mich nicht als Gefangenen"

Doch eine Evakuierung gelang nicht – die Siedlung war heftig umkämpft. Gemeinsam mit russischen Stoßtrupps harrte Bolbot dort einen weiteren Monat lang aus. Er erklärt:

"Eigentlich sehe ich mich nicht als Gefangenen. Alle verhielten sich normal zu mir, ich versuchte, das Gleiche zu tun, wie alle anderen. Sicher habe ich auf niemanden geschossen, doch ich half, die Stellung zu befestigen, Lebensmittel zu finden und so weiter."

Seine Kenntnisse der ukrainischen Sprache erwiesen sich als hilfreich – den Soldaten gelang es, ein ukrainisches Funkgerät zu erbeuten:

"Es war nicht leicht, zu übersetzen, sie sprachen in einem sehr westlichen Dialekt, ich verstand es oft selbst nicht ganz. Doch das macht nichts, ich schaffte es."

Während er das Funkgerät bediente, wurde Bolbot Zeuge, wie seine ukrainischen Kameraden buchstäblich in den Tod geschickt wurden. Er erinnert sich:

"Zu jener Zeit hielten die Russen schon das ganze Dorf. Es gab nur einen einzigen Pfad vom Wald zu den nächsten Häusern, und über diesen Pfad versuchten sie, anzurücken. Ich hörte: Der Zugführer hatte drei Soldaten, zwei wurden unterwegs getötet, und dennoch schleppt er den letzten hin."

Im Mai wurden sie trotz Artilleriefeuer und Drohnenangriffe evakuiert. Bolbot erinnert sich:

"Dort gab es ein Flüsschen, wir beschlossen, es nicht über die Furt zu überqueren – die wurde oft von ukrainischen Truppen beschossen. Also sind wir geschwommen. Mit mir war dort ein verwundeter russischer Soldat. Ich sah, dass er ertrinkt, habe ihn gerettet. Nach und nach kamen wir da raus."

Inzwischen durchlaufen sowohl Bolbot als auch Babenko eine Ausbildung bei der Martyn-Puschkar-Staffel. Der Einheit können bei Weitem nicht alle Gefangenen beitreten, sondern nur jene, die von Anfang an gegen das Kiewer Regime waren und beim ukrainischen Militär gegen den eigenen Willen dienten. Doch auch sie müssen eine gründliche Überprüfung durchlaufen, unter anderem an einem Lügendetektor.

Beide Mobilisierten wünschten selbst, an die Front zurückzukehren. Beide sind überzeugt, dass dem Kiewer Regime wenig Zeit bleibt. Bisher beschränkt sich die Unzufriedenheit der Ukrainer auf Küchengespräche, bemerkt Babenko. Er fügt hinzu: Wären sie etwas entschlossener, könnte das Unheil vermieden werden. Als Bewohner von Charkow weiß er das aus eigener Erfahrung.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 5. September.

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